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Epilog

 

 

781-792

Menschen — die gerade unter dem Diktat der kapitalistischen "Selbstverantwortung" jeder Selbstbestimmung über das eigene Leben beraubt und eigentlich selber nichts mehr sind — fragen unvermeidlich nach einem "Rezept", wenn sie sich der Ausweg­losigkeit ihrer Daseins­weise überführt sehen. 

Damit beweisen sie nur, daß sie selbst die Überwindung des Kapitalismus noch in kapitalistische Kategorien einbannen wollen. Denn ein "Rezept" setzt bereits voraus, daß die anzustrebende Selbst­bestimmung nach vorgefertigten Mustern einer äußerlichen Instanz abzulaufen hat, also sich selber dementiert.

Was sich angeben läßt, sind nicht "Rezepte" nach einem sozialen Baukasten­system (das wäre nichts als Sozialtechnologie, die ihren Ort nur im Kapitalismus haben kann), sondern vielmehr Kriterien der Emanzipation. 

Die "böse Horizontale" fängt nicht mit dem Abspulen eines vorgedachten Programms an, sondern mit der sozialen Rebellion gegen die unverschämten Zumutungen von "Markt­wirtschaft und Demokratie".

Radikale theoretische Kritik und Rebellion müssen zusammenkommen, nicht schwächelnde "Ethik" und der Ruf nach einer "gerechten" demokratischen Menschen­verwaltung. 

Der Begriff der "sozialen Gerechtigkeit" gehört zum Plastik­wortschatz der Medienpolitiker und damit zum Diskurs der demokratischen Krisenverwaltung. Nicht etwa die Befreiung der Reich­tums­produktion von den absurden kapitalistischen Restriktionen ist damit angesagt, sondern die "gerechte" protest­antische Zuteilung der Not­rationen gerade unter diesem pseudo-naturgesetzlichen Diktat. 

So forderte im Juli 1999 der sogenannte "Duisburger Appell" einer Initiative "Verzicht für alle!", angestoßen bezeichnenderweise vom protestantischen "Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt", allen Ernstes "Nullrunden auch für Spitzenverdiener" — der "geplante Anschluß der Arbeitnehmer an den Verzicht der Rentner" müsse "ergänzt werden durch die Solidarität aller anderen" (Nürnberger Nachrichten, 30.7.1999). 

Es ist eine schlichtweg närrische Idee, auf die gesellschaftliche Naturkatastrophe des Kapitalismus mit einer bloß negativen "Solidarität" zu reagieren, als handle es sich um die Heimsuchung eines zürnenden Gottes, der durch allgemeinen "Verzicht" besänftigt werden könnte. Ganz abgesehen davon, daß dieser "Verzicht" ökonomisch völlig sinnlos ist (es würde damit unter den Bedingungen der Dritten industriellen Revolution Geld nicht vom Konsum in reale Investitionen umgelenkt, sondern immer nur in die spekulative Blase), deuten solche Initiativen daraufhin, daß nach dem angeblichen "Tod der Kritik" die bis zum Über druß wiedergekäute Ethik nur noch in Albernheit umschlagen kann, statt eine Widerstandslinie gegen die offene Barbarei zu ziehen.


Aber auch im positiven Sinne einer monetären "Umverteilung" ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen; der Keynesianismus hat sich objektiv verbraucht und kann erst recht nicht durch moralische Appelle wiederbelebt werden: Umverteilungs­ethik ist genauso sinnlos geworden wie Verzichts­ethik. Der ganze ethische Zirkus, dessen Aufrührungen in den 90er Jahren immer idiotischer geworden sind, hat ja die bedingungslose Unterwerfung unter die herrschende kapitalistische Form der Gesellschaft zur stillen Voraussetzung. Deshalb können ethische Leitbilder sozialen Handelns auch nur in der Fetischform des Geldes gedacht werden, die als allgegen­wärtiges Selbstzweck-Medium den gesellschaftlichen Raum erfüllt. Aber selbst wenn alle Milliardäre Teile ihres Geld­vermögens an die Armen dieser Welt abgeben müßten, käme dabei für jeden einzelnen von einer Milliarde hungernder Menschen vielleicht nicht einmal eine Handvoll Reis heraus. Das Problem ist nicht die "Gerechtigkeit" in der herrschenden gesellschaft­lichen Form, sondern eben diese Form selber.

Die Aufgaben, die gelöst werden müssen, sind von geradezu ergreifender Schlichtheit. 

Es hat die Züge eines verrückten Märchens, in dem das Absurde normal und das Selbstverständliche ganz unverständlich erscheint, daß das, was offen auf der Hand liegt und eigentlich gar nicht erwähnt zu werden braucht, im gesellschaftlichen Bewußtsein vollständig verdrängt worden ist, als wäre darüber ein Zauberbann ausgesprochen worden.

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Trotz der geradezu schreiend evidenten Tatsache, daß ein auch nur einigermaßen sinnvoller Einsatz der gemeinsamen Ressourcen mit der kapitalistischen Form völlig unver­einbar geworden ist, werden nur noch "Konzepte" und Vorgehensweisen diskutiert, die genau diese Form voraussetzen.

Es handelt sich weder um ein materielles noch um ein technisches oder organisatorisches Problem, sondern allein um eine Bewußtseinsfrage. Um zivilisatorisch überleben zu können, muß die Menschheit die Gehirnwäsche des Liberalismus und seines Bentham-Systems abschütteln, also gewissermaßen die verinnerlichten Zwänge und Zumutungen der blinden Geldmaschine wieder herauswürgen, um sich überhaupt unbefangen dem Verhältnis von vorhandenen Ressourcen und ihrer vernünftigen gesell­schaft­lichen Anwendung stellen zu können. 

Das würde bedeuten, die herrschenden gesellschaftlichen Formen, Kategorien und Kriterien nicht mehr in irgendeiner anderen Kombination gruppieren zu wollen, sondern sie schlicht abzuschaffen. Der gesamte Betrieb von abstrakter "Arbeit", betriebswirtschaftlicher Rationalität, Wachstumszwang und Marktwirtschaft, die gesellschaftliche Reproduktion über "Arbeitsmärkte" unter dem leitenden Selbstzweck des Geldkapitals und seiner "Verwertung" — dieser unhaltbar gewordene ganze Systemzusammenhang kann nur noch stillgelegt werden. Es bedarf eines weltweiten sozial­ökonomischen "Maschinen­sturms" gegen die in Wahrheit grauenhaft häßliche Weltmaschine des Kapitals, um sie zum Stehen zu bringen und zu verschrotten, bevor sie vollends in die Luft fliegt und die Reste menschlicher Zivilisation mit sich ins Verderben reißt.

Die Aufgabe gleicht derjenigen eines abergläubischen "Wilden" (und der wahre "Wilde" ist der kapitalistisch domestizierte, moderne Mensch), der sein Leben nur retten kann, wenn er ein tiefsitzendes, völlig unsinniges Tabu bricht. Dieses Tabu ist der geheiligte Dreischritt von abstrakter "Arbeit" (Warenproduktion für anonyme Märkte), Geldeinkommen und Warenkonsum gemäß "Kaufkraft". Der gordische Knoten des "Geldrätsels" kann nicht aufgeknotet, sondern nur gewissermaßen mit dem Schwert durchschlagen werden. Von diesem Tabubruch ist natürlich weit und breit nichts zu sehen. Wie die Menschen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts oft lieber verhungerten, als sich unter das Diktat der Geldmaschine zu beugen, so verhungert anscheinend heute das domestizierte Menschen­material dieser Maschine lieber, als daß es seine eingedrillte fetischhafte Geldsubjektivität abschüttelt. Die Kritik des als Kapital zum Selbstzweck gewordenen Geldes, dieses blendenden Scheins gesellschaftlicher Paranoia, ist dennoch in der Krise als Gespenst anwesend.

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Anders ist es nicht zu erklären, daß die beiden Ökonomen des "Club of Rome", Orio Giarini und Patrick M. Liedtke, ihre Zwangsarbeits- und Billiglohn­projekte in einer merkwürdigen Passage gegen einen völlig unsichtbaren Gegner verteidigen:

"Von einer Rückkehr zu den alten Utopien des vergangenen Jahrhunderts oder zu neuen, die von einer geldlosen Gesellschaft träumen, kann überhaupt nicht die Rede sein. Geld war eine der wesentlichen Schöpfungen der Zivilisation, weil durch seine Einführung erst wahrer Fortschritt (!) ermöglicht worden ist. Natürlich liegt es in der Natur des Menschen, daß Geld [...] mißbraucht werden kann [...] Ebenso klar sollte jedoch sein, daß die alten Utopien einer geldlosen Gesellschaft der Vergangenheit in Wirklichkeit unbewußte Bestrebungen waren, sich den modernen Realitäten und Chancen (!) zu entziehen, und daß sie lediglich den Widerstand gegen eine mögliche neue Verbesserung widerspiegeln. Gleich, welcher Mythos gesponnen wird, eine steinzeitliche Gesellschaft (!) ist, insbesondere in einer Situation massiver gegenseitiger Abhängigkeiten der Menschen, nicht realisierbar und würde höchstwahrscheinlich in eine Katastrophe führen. Da unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem zu einem großen Teil auf dem Einsatz von Geld beruht — und wir wollen daran nichts ändern — , ist es von grundlegender Bedeutung, daß jeder einzelne Zugang zu einer gewissen Geldmenge hat, um für die nötigsten Dinge des Lebens aufzukommen [...]" (Giarini/Liedtke 1998, 191 f.).

 

Das Phantom der Kritik am Geldfetisch muß schon arge Panik hervorrufen, wenn ihm in einem Schattengefecht derart schwache Argumente entgegengeschleudert werden. Bis zum Beginn der Modernisierung war Geld ein völlig randständiges Medium für den Austausch von Überschußprodukten oder (im Fernhandel) von Spezialgegenständen wie Seide, Metallen usw. zwischen unabhängigen Produzenten, während die alltägliche Reproduktion größtenteils ganz ohne Geld und Markt "natural­wirtschaftlich" stattfand.

Die überwiegende Mehrzahl der Erfindungen und zivilisatorischen Errungenschaften in der ganzen Mensch­heits­geschichte vor dem 17. Jahrhundert kam ganz unabhängig von der Geldform zustande. Es ist nur ein Zeichen für den Fetischismus der Ökonomen, daß sie "wahren Fortschritt" nur als Ausdruck der Geldform gelten lassen wollen, womit die Erfindung des Ackerbaus, der Viehzucht, des Rades, der Schrift, der Malerei und unzähliger anderer Errungenschaften anscheinend ein "unwahrer" Fortschritt gewesen sein müssen. Zur alltäglichen gesellschaftlichen Beziehungsform wurde das Geld aber durch keinerlei menschlichen Fortschritt, sondern allein durch die zwangsweise und blutig durchgesetzte Einführung von "Arbeitsmärkten", mit der die frühmodernen Militär­despotien die Menschen in das Material ihres Geldhungers verwandelten.

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Als "freie" Systemsklaven einer irrationalen Gesellschaftsmaschine von anonymen Märkten mußten sich die Gesell­schafts­mitglieder den Bewegungsgesetzen des verselbständigten Geldkapitals unterordnen bis zur sozialen Selbstaufgabe, deren Gipfelpunkt heute erreicht zu sein scheint. Es sind gerade keine "unabhängigen Produzenten", die im Kapitalismus ihre Produkte über das Medium des Geldes "tauschen" würden, wie es die Ideologie der Ökonomen vorgaukeln möchte. Im Gegenteil handelt es sich ja um hochgradig vergesellschaftete Aggregate, in denen die Menschen sich nicht mehr isoliert voneinander in Familien­wirtschaften reproduzieren, sondern im unmittelbaren gesellschaftlichen Zusammenwirken. Ausgerechnet diese in hohem Maße vergesellschaftete Reproduktion jedoch wird durch eine Form oder ein Medium gesteuert, das ursprünglich seinen relativen und marginalen Sinn nur in der Beziehung zwischen tatsächlich unabhängigen Familien­wirtschaften hatte!

Die "massive gegenseitige Abhängigkeit" in direkt gesellschaftlichen Aggregaten spricht also gerade gegen die Geldform, die unter diesen Umständen ebenso verrückt ist, wie wenn Leute, die in demselben Haus wohnen, sich nur per Satellitentelefon verständigen dürften. Die Geldform ist bei einem derart hohen Grad der Vergesellschaftung eben keine Form menschlicher Verständigung, sondern umgekehrt werden alle menschlichen Beziehungen dem Diktat eines rasend prozessierenden, verständ­igungs­losen und unansprechbaren Dinges unterworfen. Was für eine freche Verdrehung, die Kritik dieser Verrücktheit als "Mythos" einer "steinzeitlichen Gesellschaft" denunzieren zu wollen! 

Damit beweisen die Ökonomen wieder einmal, daß sie das Phantom "Nicht-Geld" nur mit äußerster Primitivität gleichsetzen wollen, weil die Befreiung vom kapitalistischen Selbstzweck ihren fetischistisch indoktrinierten Verstand übersteigt. So beeilen sie sich, alle denkbaren Vertreter einer Kritik dieses Fetischismus im vorhinein zu psychiatrisieren als Leute, die sich "unbewußt" den "Chancen" der Modernisierung (Zwangsarbeit und Billiglohn als letztes Wort!) "entziehen" wollten. Weil "unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem" auf dem "Einsatz von Geld beruht", soll daran nichts geändert werden; das tautologische Nicht-Argument, daß es so sein soll, weil es so ist, zeigt das Ende jeder kapitalistischen Argumentationsfähigkeit an.

 

Daß das Geld, wie oft behauptet wird, wenigstens eine Art "Leistungsmaß" sei, wenn es schon aufgrund des hohen Vergesell­schaft­ungsgrades kein Tauschmedium unabhängiger Produzenten mehr sein kann, hat ebenfalls noch nie gestimmt.

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Weder sind die großen Geldvermögen von den Konquistadoren bis zu den Rockefellers durch andere als mörderische und destruktive "Leistungen" angehäuft worden; noch ist im kapitalistischen Alltag "Leistung" etwas anderes als ein Synonym für Skrupellosigkeit einerseits und Selbstunterdrückung andererseits; bezogen stets auf eine verständigungslose, hochgradig irrationale Tätigkeitsform. In der Dritten industriellen Revolution führt sich sogar dieser irrationale Leistungs­begriff selber ad absurdum; unter diesen Bedingungen kann es gar keinen sinnvollen individuellen Leistungs­begriff mehr geben, weil die eigentliche Produktionspotenz längst im verwissenschaftlichten gesellschaftlichen Aggregat steckt. Die Blähungen des Kasinokapitalismus machen die Geldform als "Leistungsmaß" vollends lächerlich.

Die Panik der Ökonomen vor dem Phantom der Geldkritik zeigt sich auch im falschen Verweis auf die angeblichen "alten Utopien" eines "vergangenen Jahrhunderts". In Wirklichkeit hat es eine konsequente Kritik der Geldform bis jetzt außer im "esoterischen", vom Arbeiterbewegungs-Marxismus systematisch verdrängten Aspekt der Marxschen Theorie noch nie gegeben. Abgesehen von einigen moralisierenden Auslassungen gegen den "schnöden Mammon" haben sowohl die Utopisten und Anarchisten als auch der Marxismus niemals den Geldfetisch als solchen kritisiert, sondern immer nur an Surrogatformen des Geldes oder an einer staatlich-leviathanischen Moderation dieser unüberwundenen gesellschaftlichen Form gebastelt. Einer radikalen Kritik des Geldfetischs kann es aber nicht um eine oberflächliche "Abschaffung des Geldes" in seiner unmittelbaren Erscheinungs­form gehen, sondern vielmehr um die Aufhebung der dieser Form zugrunde liegenden gesellschaftlichen Beziehungen, also eben des Systems von abstrakter "Arbeit", "Arbeitsmärkten", betriebswirtschaftlicher Rationalität und anonymen Waren­märkten, deren zusammen­fassendes Selbstzweck-Medium das Geld nur ist.

Daß das eigentliche Problem erst jetzt nach einer mehrhundertjährigen Domestizierung zum Durchbruch kommt, wird bei Giarini/Liedtke unfreiwillig in der seltsamen Formulierung einer "Rückkehr zu neuen Utopien" deutlich, denn in der Tat handelt es sich um eine Art "Rückkehr in die Zukunft": Die Dritte industrielle Revolution setzt unausweichlich das Problem auf die Tages­ordnung, an dem die alten Sozialrevolten gegen das Terror­system der abstrakten "Arbeit" gescheitert sind. Natürlich kann es kein Zurück in diese gesellschaftlichen Konstellationen und kein Anknüpfen an den Bewußtseins­stand dieser Revolten geben. Aber auf einer viel höheren Entwicklungs­stufe stellt sich erneut die Frage, wie die Produktivkräfte, die schon lange nicht mehr in der Form unabhängiger Familien­betriebe organisiert werden können, in die Form einer bewußten Verständigung der Gesellschaftsmitglieder zu bringen sind, statt von einem blinden und anonymen Mechanismus gesteuert zu werden.

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Allein das Phantom dieses vernünftigen Gedankens denunzieren Giarini/Liedtke bereits als "Gang in die Katastrophe". In Wahrheit verhält es sich genau umgekehrt: Der Kapitalismus, das heißt das System von "Arbeitsmärkten" und allgemeiner Geld­wirtschaft, hat bereits in die Katastrophe geführt. Die "unsichtbare Hand" schlägt blind um sich und zerstört alle zivili­satorischen Mindest­standards, gerade weil die menschlichen Möglichkeiten ungeheuer gesteigert worden sind! Nicht die Verwirklichung irgendeiner träumerischen und "unrealistischen" Utopie steht auf der Tagesordnung, sondern im Gegenteil muß die realisierte Negativ-Utopie des Kapitalismus in ihrem sozialökonomischen Amoklauf gestoppt werden, um durch bewußte gesell­schaftliche Verständigung den verrückten Dogmen des Geldes zu entkommen und überhaupt erstmals pragmatisch (also nicht einem entsinnlichten, den Bedürfnissen gegenüber autonomen Fetischgesetz folgend) über den sinnvollen Einsatz der Ressourcen und Produktivkräfte zu beraten.

Die Ökonomen sind von diesem elementar vernünftigen Gedanken schon axiomatisch abgeschnitten; ihr "negativer Realismus" kann sich allein auf das Kategoriensystem der "schönen Maschine" beziehen, die für sie identisch mit Gesellschaftlichkeit überhaupt ist. Daran ist allerdings auch das "Humankapital" ihres sektenhaften Priesterwissens gebunden. Wenn sich die Menschheit von der kapitalistischen Maschine befreit, wird mit einem Schlag nahezu die gesamte ökonomische Literatur der letzten dreihundert Jahre zusammen mit ihrem gesellschaftlichen Bezugssystem "entwertet". Dieses als schriftlicher Corpus fixierte Denksystem wäre dann so historisch wie die altägyptischen Totenbücher oder die Opferrituale der Maya. Für die überlebens­notwendig gewordene Kritik der Ökonomie ist von den Ökonomen nichts zu erwarten.

Der Gedanke einer permanenten gesellschaftlichen Beratung über den Einsatz der Ressourcen verweist schon auf ein mögliches institutionelles Gefüge, das "Marktwirtschaft und Demokratie" ablösen könnte: nämlich eben "Räte", beratende Versammlungen aller Gesellschaftsmitglieder auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Reproduktion. Sich einfach versammeln und die Dinge in die eigene Hand nehmen, ohne sich länger von der kapitalistischen Menschen­verwaltung kujonieren* und auf lächerliche Notrationen ohne Not setzen zu lassen — nur darin kann die Entfesselung der "bösen Horizontale" sich darstellen.

* (u2007:)   Kujon (franz.):   Schelm, Schurke => kujonieren; quälen, schikanieren 

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Die historischen, immer nur kurzlebigen Ansätze von "Räten" seit der Pariser Kommune sind daran gescheitert, daß sie in den kapitalistischen Kategorien von abstrakter "Arbeit", Geldform, Marktvermittlung und "Politik" befangen blieben, also ihren eigenen Gesichtspunkt gegen die herrschenden Fetischformen nicht geltend machen konnten. Unter den Bedingungen der Dritten industriellen Revolution könnten "Räte" dagegen tatsächlich nur noch an die Stelle von Geldform und anonymen Märkten treten. Die Mikroelektronik stellt dafür gleichzeitig die Möglichkeit einer allseitigen kommunikativen Vernetzung bereit, die alle Herrschafts­zentren "vertikaler" Menschen­verwaltung leicht aushebeln kann.

 

Damit die "böse Horizontale" in Gang kommen kann, bedarf es einer bewußten "Palaverkultur"; also genau das, was für Ford und Lenin der Horror eines ewigen "Gequatsches" war, das ihre schöne Gesellschaftsmaschine beeinträchtigen könnte. Genau darum geht es: alles zu bereden und abzuwägen, statt sich einer blinden und zerstörerischen abstrakten Leistungsmaschine zu unter­werfen und als deren Rädchen zu funktionieren. 

Zeit für das Palaver stünde übergenug zur Verfügung; und zwar nicht nur durch die Produktivkräfte der Dritten industriellen Revolution, sondern auch durch die Perspektive, alle destruktiven und unsinnigen Produktionen ersatzlos stillzulegen, die nur der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems dienen (von der Geldver­waltung bis zur nervtötenen medialen Glocke der "Werbung").

Das entscheidende Problem ist, ob in der destabilisierten Weltkrisengesellschaft des Kapitalismus im beginnenden 21. Jahr­hundert ein ideeller und organisatorischer Fokus entstehen kann, der die radikale Kritik zu formulieren wagt und ihr ein Gesicht zu geben vermag. Es ist nach wie vor die Linke im weitesten Sinne, die allein dafür in Frage kommt. Aber im Hinblick auf die wahre Aufgabe wurden die Weichen seit den 80er Jahren genau verkehrt herum gestellt. 

Die von Haus aus in den kapitalistischen Kategorien befangene Linke zog aus dem Ende des Staatssozialismus die völlig unangemessene Konsequenz, theoretisch abzurüsten und die Gesellschaftskritik weitgehend fallenzulassen, um sich als Musterschüler der Rentabilitätslogik zu gebärden. Die intellektuelle und moralische Verwahrlosung der regierenden Armani-Linken ist inzwischen so weit fortgeschritten, daß sie bereits unumkehrbar zum integralen Bestandteil der kapitalistischen Krisen­verwaltung, der sozialen Repression und Barbarisierung der Verhältnisse geworden ist.

Dennoch befindet sich ein größerer Teil der Linken überall in der Phase einer unbestimmten Latenz. Es ist immer noch möglich, eine Kehrtwendung zu machen und sich den katastrophalen Erfahrungen der 90er Jahre zu stellen. Die Linke muß begreifen, daß sie nicht etwa "zu radikal", sondern im Gegenteil niemals radikal genug war. Nicht eine stärkere Anpassung an das ökonomische Gesetz des Kapitalismus ist das Gebot der Stunde, sondern im Gegenteil der vollständige Bruch mit diesem Gesetz.

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Die Linke muß ihre eigene Geschichte kritisieren, ihre eigene apriorische Verbundenheit mit der bürgerlichen Welt aufdecken und sich davon lösen. Nur dann waren die systemimmanenten Kämpfe der letzten hundert Jahre nicht umsonst, mit denen die Linke dem Kapitalismus stets nur vorübergehend ein niemals genügendes Minimum an sozialen Gratifikationen und eine Begrenzung der schlimmsten Zumutungen abgetrotzt hat, wenn diese Linke am definitiven Ende der kapitalistischen Geschichte den Mut findet, aus dem eisernen Käfig von "Marktwirtschaft und Demokratie" auszubrechen.

 

Die Marx'sche Theorie ist nicht widerlegt, sie gewinnt erst jetzt ihren historischen Wahrheitsgehalt; allerdings nur, wenn sie gegen den Strich des Arbeiterbewegungs-Marxismus gebürstet und endlich als radikale Kritik des modernen Fetischismus waren­produzierender Systeme gelesen wird. Die Idee der sozialen Emanzipation muß aufhören, sich wieder und wieder in die vom Liberalismus aufgestellte Falle locken und zwischen den kapitalistischen Polen von Markt und Staat hin- und herhetzen zu lassen. Markt und Staat sind die beiden Seiten derselben Medaille, und es ist eine billige Ausflucht, nach dem Zusammenbruch des Staats­sozialismus den Markt als "alternativlos" zu setzen, als wäre die staats­kapitalistische Kritik am Konkurrenzsystem die einzig mögliche. Die wirkliche Alternative ist die Selbstverwaltung der Gesellschaft durch die "böse Horizontale" eines umfassenden Rätesystems; und eine solche Selbstverwaltung ist das Gegenteil nicht nur des Staates, sondern damit auch des Marktes.

Eine solche Reformulierung radikaler Kritik ist allerdings auch nur in einer Perspektive möglich, die sich nicht mehr blenden läßt vom falschen Fortschritts­begriff der "Modernisierung", der sich heute endgültig als Synonym für soziale Degradation, Verelendung und Entsolidarisierung entlarvt. Gerade in dieser Fixiertheit auf die "Modernisierung", die nie etwas anderes als der blinde kapitalistische Entwicklungsprozeß gewesen ist, zeigt sich die babylonische Gefangenschaft der Linken im bürgerlichen Denksystem. Seitdem die "Antimoderne" der alten Sozialrevolten von den Terrorregimes des Liberalismus in ihrem Blut erstickt worden ist, hat die Idee der sozialen Emanzipation sich nicht mehr gegen das perfide "Neusprech" und "Doppeldenk" der Aufklärungs­philosophie positionieren können, von der die Unterwerfung unter die moderne Systemsklaverei als Inbegriff der Freiheit verkauft wurde. An die Stelle der emanzipatorischen, sozialrebellischen Antimoderne trat jene reaktionäre, "rechte" Antimoderne, die in Wahrheit immer ein Derivat des bürgerlichen Aufklärungsdenkens selber gewesen ist.

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Diese rechte Schein­kritik der Moderne konnte das dämonische Potential des Kapitalismus entbinden; sie zeigte immer nur den Irrationalismus der bürgerlichen Rationalität selbst an, um die Nachtseite der Moderne für die Massaker der "Modernisierung" zu instrumentalisieren.

 

Die falsche Gegenüberstellung einer guten, aufklärerischen Moderne, die links zu besetzen wäre, und einer negativen, vermeintlich gegenauf­klärerischen Antimoderne, die irgendein phantasmatisches* "Mittelalter" anbetet, ist erst recht eine Falle. Auch in dieser Hinsicht handelt es sich um die beiden Pole der kapitalistischen Moderne selbst. An der Schwelle des 21. Jahr­hunderts bedarf es einer neuen "emanzipatorischen Antimoderne", die sich nicht mehr von den innerkapitalistischen Gegen­sätzen instrumentalisieren und für dumm verkaufen läßt, sondern der gesamten Modernisierungs­geschichte auf der Höhe der Dritten industriellen Revolution den Prozeß macht. Dieser Gedanke muß nicht erschrecken, denn eine neue emanzipatorische Antimoderne kann sich leicht von der reaktionären Pseudo-Antimoderne abgrenzen und wird den de Benoist u. Co. niemals die Hand reichen.

Die rechte Antimoderne ist immer irrational und biologistisch; sie verlängert den liberalen Naturalismus des Sozialen in darwinistische Rassen- und Volksmythologien. Die emanzipatorische Antimoderne dagegen kann nur der vollständige Bruch mit jeder Art von Naturalisierung des Gesellschaftlichen sein; sie begreift die Gesellschaft als eine Daseinsebene sui generis, die nur in sozialen, psychischen und historischen Kategorien zu entschlüsseln ist. Die rechte Antimoderne ist immer antisolidarisch, ausgrenzend und von Vernichtungsdiskursen erfüllt; sie stellt nichts als die Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln dar. Die emanzipatorische Antimoderne dagegen ist der ebenso vollständige Bruch mit dem kapitalistischen Konkurrenzsystem und stellt die Solidarität über alle Grenzen hinweg in den Mittelpunkt. Ferner ist die rechte Antimoderne immer elitär und autoritär; ihre Organisationsform ist das "Führerprinzip" und damit die Extremform der im kapitalistischen Sinne "braven Vertikale". Demgegenüber entfesselt die emanzipatorische Antimoderne eben genau umgekehrt die "böse Horizontale"; sie ist konsequent antielitär, antiautoritär und sozialrebellisch.

Schließlich faßt sich der ganze Gegensatz im Verhältnis zur kapitalistischen Erfindung und Realkategorie der sogenannten "Nation" zusammen: Die rechte Pseudo-Antimoderne beweist sich gerade dadurch als integraler Bestandteil der Moderne selbst, daß sie immer die "Nation" zu ihrem zentralen Bezugsfeld erkoren hat und diesen Begriff mythisch auflädt, auch wenn dies im Zeitalter der Globalisierung nur noch in der Form medialer Inszenierungen oder andererseits einer mörderischen Banden-Ideologie möglich ist.

* (u2007:) Phantasma: Hirngespinst —— Also etwa: hirngespinstiges Mittelalter oder wunschmäßig ausgedachtes, "heiles" Mittelalter.

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Die emanzipatorische Antimoderne kann sich umgekehrt nur dadurch wirklich von der bürgerlichen Gefangenschaft lösen, daß sie unwiderruflich mit der Kategorie der "Nation" bricht und konsequent jede nationale Loyalität aufkündigt, um sich von vornherein in transnationalen Beziehungsformen zu organisieren. Der Bruch mit der "Nationalität" ist für die Linke die Gretchenfrage, ob ihr der Ausbruch aus dem "eisernen Käfig" gelingt, denn die Befangenheit in der "nationalen Identität" und im bürgerlichen Nationalstaat bildete ja spätestens seit 1848 die entscheidende Fußfessel, die den Arbeiterbewegungssozialismus an das kapitalistische Kategoriensystem gekettet hat.*

Es ist fast müßig, sich die Frage zu stellen, auf welche Weise eine neue radikale Kapitalismuskritik jenseits von Markt und Staat als emanzipatorische Antimoderne zur gesellschaftlichen Massenbewegung werden kann. Denn das ist eine Frage, die nur durch die Tat zu entscheiden ist. Voraussetzung dafür ist einerseits die theoretische Innovation, die zur Kritik der grundlegenden kapitalistischen Gesellschaftsformen vordringt, statt sich wie bisher "in" diesen Formen auszudrücken. 

Andererseits bedarf es des regelrechten Aufstands, der Rebellion gegen die kapitalistische Krisenverwaltung jeglicher Couleur mit ihrer trostlosen Perspektive von demokratischer Zwangsarbeit und Billiglohn-Sklaverei. Die Parole "Niemals Billiglohn!" kann vielleicht endlich umschlagen in die Parole "Nieder mit dem Lohnsystem!" und Elemente einer gesellschaftlichen Gegenbewegung jenseits der abgewirtschafteten demokratischen Politik hervorbringen.

Der kürzeste Weg in den sozialen Erschütterungen der kommenden Jahre wäre die Besetzung der Produktionsbetriebe, Verwaltungsinstitutionen und sozialen Einrichtungen durch eine Massen­bewegung, die sich die gesellschaftlichen Potenzen direkt aneignet und die gesamte Reproduktion in eigener Regie betreibt, also die bislang herrschenden "vertikalen" Institutionen schlicht entmachtet und abschafft.

Denkbar wäre auch eine Übergangsphase, in der sich eine Art Gegengesellschaft bildet, die bestimmte soziale Räume gegen die kapitalistische Logik eröffnet, aus denen Markt und Staat vertrieben werden.

Am wahrscheinlichsten ist es gegenwärtig allerdings, daß die Zukunftsmusik wirklich ausgespielt hat, weil der "Bewußtseins­sprung" nicht mehr vollzogen wird, der für eine neue soziale Emanzipations­bewegung erforderlich wäre. Der Kapitalismus kann dennoch nicht weiterleben, weil seine innere Schranke ebenso blind objektiviert ist wie der Funktions­mechanismus der "schönen Maschine", der an sich selbst zuschanden wird.

Bleibt die radikale Gegen­bewegung aus, ist das Resultat die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt, wie sie jetzt schon überall sichtbar wird. Selbst dann wäre für eine Minderheit immer noch wenigstens eine Kultur der Verweigerung möglich.

Wenn schon das ökonomische Terrorsystem in seinem Zerstörungs- und Selbstzerstörungs­prozeß nicht mehr aufgehalten werden kann, so gilt doch immer noch die Devise der Kritischen Theorie, sich von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen. 

Unter den gegebenen Umständen kann das nur heißen, jede Mitverantwortung für "Marktwirtschaft und Demokratie" zu verweigern, nur noch "Dienst nach Vorschrift" zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist.

Selbst wenn es nur wenige sind, die im Zerfallsprozeß des Kapitalismus eine neue innere Distanz gewinnen können: Es ist immer noch besser, Emigrant im eigenen Land zu werden, als in den inhaltslosen Plastikdiskurs der demokratischen Politik einzustimmen. Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist.

791-792

Ende

 

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* (d-2007:) Aber: Eine Ökopax-Gesellschaft braucht neben den menschlich verbindenden Werten, auch die Beachtung der objektiven Werte, wie etwa den Bevölkerungsrückgang. Aus solchen Gründen ist die Liebe zum Deutschtum mehr als wünschenswert und — wie ich meine — Grundvoraussetzung für Ökopax in Deutschland.