Start    Nachwort: Moralisten

4. Ein neues Lied, ein besseres Lied  

 

 

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Wenn die Herabsetzung der Arbeitszeit der gesellschaftlichen Produktion neue mechanische Kräfte zuführt, so wird die Verpflichtung der Arbeiter, ihre Produkte auch zu verzehren, eine enorme Vermehrung der Arbeitskräfte zur Folge haben. Die von ihrer Mission, Allerweltskonsument zu sein, erlöste Bourgeoisie wird nämlich schleunigst die Menge von Soldaten, Beamten, Dienern, Kupplern usw., die sie der nützlichen Arbeit entzogen hatte, damit sie ihr Konsumieren und Vergeuden helfen, freigeben – das heißt dem Arbeitsmarkt

Dieser wird, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte ihm zugeführt werden, so überfüllt sein, daß man ein ehernes Gesetz haben muß, das die Arbeit verbietet; es wird unmöglich sein, für diesen Schwarm bisher unproduktiver Menschen Verwendung zu finden, denn sie sind zahlreicher als die Heuschrecken. Dann wird man an die denken, die für den kostspieligen und nichtsnutzigen Bedarf dieser Leute aufzukommen hatten.

Wenn keine Lakaien und Generäle mehr galoniert, keine verheirateten und unverheirateten Prostituierten mehr in Spitzen eingehüllt, keine Paläste mehr eingerichtet und keine Kanonen mehr gegossen zu werden brauchen, dann wird man mittels drakonischer Gesetze die Posamentier-, Spitzen-, Eisen- usw. Arbeiter und Arbeiterinnen im Interesse der Hygiene und der Veredelung der Rasse zu Ruder- und Tanzübungen anhalten, damit sie ihre untergrabene Gesundheit wieder herstellen. 

Von dem Augenblick an, wo die europäischen Produkte am Ort konsumiert und nicht mehr zum Teufel geschickt werden, werden auch die Seeleute, die Lastträger und die Fuhrleute anfangen, den Daumen drehen zu lernen. Dann werden die glücklichen Südseeinsulaner sich der freien Liebe hingeben können, ohne die Fußtritte der zivilisierten Venus und die Predigten der europäischen Moral zu fürchten.

Noch mehr.  

Um für alle unproduktiven Kräfte der heutigen Gesellschaft Arbeit zu finden, und die immer weitere Vervollkommnung der Arbeitsmittel zu fördern, wird die Arbeiterklasse ihrem Hang zur Enthaltsamkeit, gleich der Bourgeoisie, Gewalt antun und ihre Konsumfähigkeiten unbegrenzt steigern müssen. Anstatt täglich ein oder zwei Unzen zähes Fleisch zu essen, wenn sie überhaupt welches ißt, wird sie saftige Beefsteaks von ein oder zwei Pfund essen; statt bescheiden einen schlechten Wein zu trinken, katholischer als der Papst, wird sie aus großen, bis an den Rand gefüllten Gläsern Bordeaux und Burgunder trinken, der keiner industriellen Taufe unterzogen ist, und das Wasser dem Vieh überlassen.

Die Proletarier haben sich in den Kopf gesetzt, den Kapitalisten zehn Stunden Schmiede oder Raffinerie aufzuerlegen – das ist der große Fehler, die Ursache der sozialen Gegensätze und der Bürgerkriege. Nicht auferlegen, verbieten muß man die Arbeit

Den Rothschilds, den Says wird erlaubt werden, den Beweis zu liefern, daß sie ihr ganzes Leben lang vollkommene Nichtstuer gewesen sind; und wenn sie versprechen, trotz des allgemeinen Zuges zur Arbeit, als vollkommene Nichtstuer fortzufahren, werden sie auf die Rechnung gesetzt und jeden Morgen ein 20-Francstück für ihre kleinen Vergnügungen erhalten. Die gesellschaftliche Zwietracht verschwindet. 

Einmal überzeugt, daß man ihnen durchaus nichts Übles antun, sondern sie nur von der Arbeit, Überkonsumenten und Verschleuderer sein zu müssen, befreien will, werden die Kapitalisten und Rentiers die ersten sein, die sich zur Partei des Volkes schlagen.

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Diejenigen Bourgeois, die unfähig sind, ihre Qualifikation als Nichtsnutze nachzuweisen, wird man ihren Instinkten nachgehen lassen: es existieren genügend abstoßende Berufe, um sie unterzubringen. Dufaure würde die öffentlichen Latrinen reinigen und Galliffet die räudigen Schweine und aufgeblähten Pferde abstechen, die Mitglieder des Gnadenausschusses werden, ins Gefängnis Poissy geschickt, das Vieh anmerken, das zum Schlachten reif ist, die Senatoren, die am Beerdigungspomp hängen, werden die Leichenträger spielen. 

Für andere wird man Berufe finden, die ihrer Intelligenz entsprechen. Lorgeril, Borglie würden Champagnerflaschen verkorken, doch wird man ihnen einen Maulkorb vorbinden, damit sie sich nicht vollsaufen. Ferry, Freycinet, Tirard würden Wanzen und Ungeziefer der Ministerien und anderer öffentlicher Häuser jagen. Allerdings müßten die letzteren außer Reichweite der Bourgeois gehalten werden, aus Angst vor ihren schlechten Gewohnheiten.

Aber bittere und lange Vergeltung wird man an den Moralisten nehmen, welche die menschliche Natur verdreht haben, an den Heuchlern, Scheinheiligen, Augenverdrehern »und dem anderen derartigen Gesindel, daß sich verstellt, um die Leute zu betrügen. Denn während sie dem einfachen Volk weismachen, sie wären mit geistlicher Betrachtung und Andacht, mit Fasten und Abkasteien beschäftigt und hielten ihr bißchen Sterblichkeit nur eben so am Leben, lassen sie es sich Gott weiß wie wohl sein, et Curios Simulant, sed bacchanalia vivunt.37) Das könnt ihr in großer, leuchtender Schrift von ihren roten Backen, vorausgesetzt, sie pudern sie nicht mit Schwefel, und ihren Beulenbäuchen ablesen.»38)

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An den großen Volksfesten, bei denen, anstatt Staub zu schlucken, wie beim bürgerlichen 15. August oder 14. Juli, die Kommunisten und Kollektivisten die Fläschchen kreisen, die Schinken herumreichen und die Becher hochleben lassen, werden die Mitglieder der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften, die in Frack und Talar einherwandelnden Pfaffen der ökonomischen, katholischen, protestantischen, jüdischen, positivistischen und freidenkerischen Kirche, die Propagantisten des Malthusianismus, der christlichen, altruistischen, unabhängigen oder unterwürfigen Moral, in gelbem Kostüm die Kerzen halten, bis sie sich die Finger verbrennen; bei mit Fleisch, Früchten und Blumen beladenen Tafeln und munteren Frauen werden sie hungern, bei gefüllten Fässern dürsten. 

Viermal im Jahre, immer beim Wechsel der Jahreszeiten, wird man sie, wie Hunde von Scherenschleifern, in Tretmühlen zehn Stunden lang Wind mahlen lassen. Die gleiche Strafe wird über die Advokaten und Rechtsgelehrten verhängt.

Um die Zeit totzuschlagen, die uns Sekunde für Sekunde tötet, wird man im Reich der Faulheit ständig Schauspiele und Theateraufführungen veranstalten – gefundene Arbeit für unsere bürgerlichen Gesetzgeber. Man wird sie in Truppen organisieren, die auf die Dörfer und Flecken ziehen und Gesetzgebungsvorstellungen aufführen. 

Generäle in Reitstiefeln die Brust mit Tressen verschnürt und mit Orden und dem Kreuz der Ehrenlegion bedeckt, werden durch die Straßen laufen und die lieben Leute zum Schauen einladen. Gambetta und Cassagnac, sein Kumpan, werden vor der Bude ihre Späßchen aufführen. Cassagnac wird, als Eisenfresser kostümiert, die Augen rollen, den Schnurrbart drehen, Feuer spucken und jedermann mit der Pistole seines Vaters bedrohen, aber, sobald man ihm das Bild von Lullier zeigt, sich in ein Loch stürzen.39

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Gambetta wird über Außenpolitik palavern, über das kleine Griechenland, das ihm was vormacht und Europa in Brand steckt, um die Türkei übers Ohr zu hauen, über das große Rußland, das ihn mit dem Salat, den es mit Preußen anzusetzen verspricht, um den Verstand bringt, und das Westeuropa sämtliche Plagen an den Hals wünscht, um im Osten sein Spiel zu treiben und den Nihilismus im Innern zu erdrosseln; über Herrn von Bismarck, der ihm in seiner großen Güte erlaubte, sich zur Amnestiefrage zu äußern ... 

Dann wird er seinen speckigen, mit der Trikolore bemalten Wanst entblößen, wird die Trommel rühren und die köstlichen kleinen Tierchen, die Fettammern, die Trüffeln, die Gläser voll Margaux und Yquem aufzählen, die er hinunter gestopft hat, um die Landwirtschaft zu ermuntern und die Wähler von Belleville bei Laune zu halten.

In der Bude aber wird man zuerst die Wahlposse aufführen. Vor Wählern mit Holzschädeln und Eselsohren werden Bourgeois-Kandidaten im Bajazzo-Kostüm den politischen Freiheitstanz aufführen, indem sie sich Vorder- und Rückseite mit ihren Wahlprogrammen voller Versprechungen behängen, mit Tränen in den Augen von den Leiden des Volkes und mit erzener Stimme vom Ruhm Frankreichs reden. Worauf die Köpfe der Wähler im Chor ein kräftiges Iah! Iah! brüllen.

Dann beginnt das große Schauspiel: Der Diebstahl der Güter der Nation: Das kapitalistische Frankreich, ein ungeheuerliches Weib mit rauhem Gesicht und kahlem Schädel, fahler Haut und fettem, aufgedunsenem Körper, liegt gähnend mit glanzlosen Augen auf einem Sofa hingestreckt.  

Zu ihren Füßen verschlingt der industrielle Kapitalismus, ein Riesenorganismus von Eisen mit einer Affenmaske, mechanisch Männer, Frauen und Kinder, deren herzzerreißende Klagerufe die Luft durchdringen. Die Bank, mit Marderschnauze, Hyänenkörper und Habichtskrallen, stiehlt ihm geschickt Hündert-Sous-Stücke aus der Tasche. 

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Ganze Armeen elender, abgemagerter und in Lumpen gehüllter Proletarier, von Gendarmen mit blanker Klinge eskortiert, von Furien, welche sie mit der Hunger­peitsche geißeln, getrieben, bringen Haufen von Waren aller Art, Fässer Wein und ganze Säcke von Gold und Korn und legen sie dem kapital­istischen Frankreich zu Füßen. Langlois, seine Hose in der einen Hand, in der anderen das Testament Proudhons, das Budgetbuch zwischen den Zähnen, stellt sich an die Spitze der Verteidiger der Güter der Nation und zieht auf Posten.40) 

Sobald die Lasten niedergelegt sind, verjagen sie die Arbeiter mit Bajonett und Kolbenstößen, und öffnen den Händlern, den Industriellen und Bankiers die Pforten. Im wüsten Durcheinander stürzen sich die auf die Wertobjekte, heimsen die Fabrikwaren, die Goldbarren, die Säcke Getreide ein und leeren die Fässer. Endlich können sie nicht mehr und sinken in ihren Schmutz und in ihr Erbrochenes... Da bricht das Unwetter herein, die Erde wankt in ihren Fugen – die historische Notwendigkeit tritt auf. Mit ehernem Fuß zermalmt sie die Köpfe der sich ihr in den Weg Stellenden, und mit gewaltiger Hand wirft sie das zitternde und angstschweiß-überdeckte kapitalistische Frankreich über den Haufen.

Wenn die Arbeiterklasse sich das Laster, welches sie beherrscht und ihre Natur herabwürdigt, gründlich aus dem Kopf schlagen und sich in ihrer furchtbaren Kraft erheben wird, nicht um die famosen Menschenrechte zu verlangen, die nur die Rechte der kapitalistischen Ausbeutung sind, nicht um das Recht auf Arbeit zu fordern, das nur das Recht auf Elend ist, sondern um ein ehernes Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten, so wird die alte Erde, zitternd vor Wonne, in ihrem Inneren eine neue Welt sich regen fühlen... aber wie soll man von einem durch die kapitalistische Moral korrumpierten Proletariat einen männlichen Entschluß verlangen!

Wie Christus, die leidende Verkörperung der Sklaverei des Altertums, erklimmt unser Proletariat, Männer, Frauen und Kinder, seit einem Jahrhundert den rauhen Kalvarienberg der Leiden; seit einem Jahrhundert bricht Zwangsarbeit ihre Knochen, martert ihr Fleisch, zerrüttet ihre Nerven; seit einem Jahrhundert quält Hunger ihren Magen und verdummt ihr Gehirn...

O Faulheit, erbarme Du Dich des unendlichen Elends! 
O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, 
sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!

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 E n d e 

 

 

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