5. Aufbruch zur Gleichheit
Alles, was Männer über die Frauen geschrieben haben, muß verdächtig sein,
denn sie sind zugleich Richter und Partei. Poulain de la Barre
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Jede Politik, die sich dem Ziel einer menschengerechten und humanen Zukunft verschrieben hat, jede Politik, die die Utopie der Freiheit mit ihren Werten der Selbstbestimmung, der Gleichheit und der Solidarität konsequent und glaubwürdig verwirklichen will, darf den gesellschaftlichen Emanzipations- und Demokratisierungsbestrebungen ihre politische Unterstützung nicht versagen. Es wäre fatal, wenn sie sich auf die Diskussionen um die Frauenbewegung und innerhalb der Frauenbewegung nicht einließe, wenn sie sich nicht nach Kräften bemühte, deren Forderungen aufzugreifen und deren Zielsetzungen in die Tat umzusetzen.
Das aber heißt nichts anderes, als daß zu den ohnehin schwierigen Aufgaben der heutigen Politik eine außerordentliche, eine historisch zu nennende Aufgabe hinzukommt, die seit Jahrhunderten einer Lösung harrt. Gerade die Tatsache, daß die »Frauenfrage« — so wurde im 19. Jahrhundert die Frage nach der künftigen Stellung der Frau in einer demokratischen Gesellschaft bezeichnet — schon so lange offen ist, zeigt, wie stark die Kräfte des Beharrens sind.
Die Lage der Frau in der Gesellschaft ist nicht nur hier und jetzt eine besondere, sondern sie war es, soweit wir zurückblicken können, überall und jederzeit. Sie erfordert in allen Politikbereichen ein klares und konsequentes Handeln. Statt dessen müssen wir immer noch erleben, daß die Debatte über frauenpolitische Probleme und Forderungen unter den männlichen Mitgliedern des höchsten parlamentarischen Gremiums der Bundesrepublik vor allem Heiterkeit erzeugt.
Auch das Verhältnis der Sozialdemokratie zur »Frauenfrage« ist im Verlaufe der Geschichte weder von ungetrübtem Wohlwollen und Verständnis noch von auffallender Tatkraft gekennzeichnet. Eingedenk der großen politisch-sozialen Integrationsleistungen, die die Sozialdemokratie erbracht hat, wird sie so viel Selbstkritik wohl verkraften und sich auch erlauben können. Immerhin kommt ihr zugute, daß sie nicht, wie manche andere, die »Frauenfrage« erst im ausgehenden 20. Jahrhundert für sich entdeckt hat, sondern schon vor mehr als hundert Jahren. Sie glaubte schon damals, daß die Frauenfrage eng mit der bürgerlichen Erwerbs- und Eigentumsordnung verknüpft ist, die bis heute unsere Gesellschaft prägt.
Es kann deshalb auch nicht überraschen, daß trotz einiger erheblicher Fortschritte in der gesellschaftlichen und rechtlichen Stellung der Frauen die Forderungen der Frauenbewegung noch dieselben sind wie vor einem Jahrhundert. Die Einsicht, daß die Frauenfrage in ihrem Kern ein strukturelles Problem der Industriegesellschaft ist, war in Ansätzen zwar in der frühen bürgerlichen Frauenbewegung vorhanden, stieß damals aber in der Gesellschaft auf größten Widerstand und weitverbreitetes Unverständnis. In der neuen Frauenbewegung hat sie sich voll durchgesetzt und beginnt auch in den Köpfen der Männer zu gären.
Immerhin kann die Sozialdemokratie in ihrer Geschichte an zwei für die Emanzipationsbewegung der Frauen bedeutende Ereignisse anknüpfen, die mit den Namen eines ihrer »Gründungsväter«, August Bebel, und dem einer sozialdemokratischen »Gründungsmutter« des Grundgesetzes, Elisabeth Seibert, verbunden sind. August Bebels Schrift »Die Frau und der Sozialismus« (1879), die über mehrere Jahrzehnte in vielen Auflagen erschien, hat wenn schon nicht die sozialdemokratische Politik bestimmt, so doch den Kampf der Frauen um ihre Rechte nachhaltig gefördert und das gesellschaftliche Selbstbewußtsein vieler Frauen gestärkt. Elisabeth Seibert hat trotz des Widerstandes oder der mangelnden Unterstützung in den eigenen Reihen — also von Frauen und Sozialdemokraten — bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates für die Aufnahme des Gleichheitsartikels in unser Grundgesetz erfolgreich gekämpft.
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Die lapidare Bestimmung »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« ist allerdings eine der merkwürdigsten in unserer Verfassung. Denn sie ist unter historischen Gesichtspunkten ebenso denkwürdig, wie sie unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten in einem wirklich demokratischen Grundrechtskatalog eigentlich überflüssig ist. Die Tatsache, daß eine Bestimmung in die Verfassung aufgenommen wurde, die nach den Prinzipien eben dieser Verfassung selbstverständlich wäre, zeigt deutlich, daß das Selbstverständliche in der Gesellschaft noch nicht selbstverständlich ist. Es gehört zum Wesen der Demokratie, daß in ihr alle Bürger ohne Ausnahme rechtlich völlig gleichgestellt sind. Nichts anderes besagt ja der Gleichheitsartikel, der zudem bekräftigt, daß niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt oder bevorzugt werden dürfe. Warum also meinte Elisabeth Seibert, auf der ausdrücklichen Formulierung der Gleichberechtigung der Frauen bestehen zu müssen?
Schwesterlichkeit war nicht vorgesehen
Die politische Literatur des Zeitalters der Aufklärung, der bürgerlichen Emanzipation und der demokratischen Revolutionen — Gesellschaftstheorien, Unabhängigkeits-, Menschen- oder Bürgerrechtserklärungen, Verfassungen und Verfassungsentwürfe — durchzieht ein Wort, das für eine freiheitliche Gesellschaftsvision so verheißungsvoll klang, wie es für die gesellschaftliche Wirklichkeit trügerisch war: das Wort »alle«.
Sämtliche Grundwerte der modernen Demokratien sind »für alle« gedacht: Freiheit, das heißt Selbstbestimmung im privaten, gesellschaftlichen und politischen Leben für alle; Gleichheit, das heißt gleiche Rechte und Chancen für alle; Brüderlichkeit, das heißt soziale Gerechtigkeit für alle. Doch hier schon wird der Wortgebrauch verräterisch: Schwesterlichkeit war nicht vorgesehen. In die Wirklichkeit übersetzt hieß »für alle«: für die männliche Hälfte der Gesellschaft. Von dem, was die Gesellschaft an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zuließ, blieben die Frauen weitgehend ausgeschlossen.
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Zwar waren »für alle« gleiche politisch-staatsbürgerliche Rechte proklamiert worden, doch den Frauen wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein das Wahlrecht verwehrt. Lange durften sie an politischen Versammlungen nicht teilnehmen, geschweige denn politischen Vereinigungen beitreten. Zwar galten gleiche bürgerliche und Eigentums-Rechte »für alle«, doch in weiten Bereichen blieben die Frauen der Vormundschaft von Männern unterstellt, waren nicht rechtsfähig oder rechtlich sehr viel schlechter gestellt als die Männer. Bildung und Berufswahl standen »allen« frei, doch ließ man die Frauen bis weit in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht auf die höheren Schulen und gab ihnen keine qualifizierte Berufsausbildung, mit Ausnahme der sehr bescheidenen Ausbildung zur Lehrerin an Volks- und Mädchenschulen.
So unterschiedlich die Situation in den europäischen Ländern auch war, insgesamt war sie gekennzeichnet durch eine weitgehende politisch-bürgerliche Rechtlosigkeit der Frauen. Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit existierten für sie nicht einmal auf dem Papier, geschweige denn in der Wirklichkeit des Alltags. Die Geschichte lehrt uns, daß die Emanzipation der Frauen durch die Frauen allein nicht durchgesetzt werden konnte und nicht durchgesetzt werden kann. Zu schwer lastet auch noch gegenwärtig die jahrtausendealte »Normalität« der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen auf unseren Denk- und Verhaltensstrukturen, als daß es ihnen künftig ohne die Solidarität der Männer gelingen könnte, ihre andauernde gesellschaftliche Benachteiligung endgültig abzubauen.
Doch die Geschichte lehrt noch ein anderes, noch ein Wichtigeres. Sie lehrt, daß auch die Grundwerte der Aufklärung, die allmählich erfolgreich durchgesetzt wurden, über weit mehr als ein Jahrhundert keine Änderung in den Lebensbedingungen der Frauen bewirkten. Von den Männern wurde dies so gut wie nicht wahrgenommen. John Stuart Mill und August Bebel, die beiden bekannten Anwälte der Frauenemanzipation, waren in der männlichen Welt jenen sprichwörtlichen Schwalben vergleichbar, die noch keinen Sommer machen. Es beruhte gewiß nicht auf professoraler Vergeßlichkeit, daß die Aufklärer ihre Gesellschaftsentwürfe an den Frauen vorbeidachten. Es beruhte auch nicht auf mangelnder menschlicher Solidarität.
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Die Aufklärung ging an den Frauen vorbei, weil man wollte, daß sie an ihnen vorbeiging. Ausdrücklich wurden sie von der für das gesellschaftliche Leben in der Moderne fundamentalen »Entdeckung« der Aufklärung ausgenommen, daß die Menschen ihre Geschichte selber machen, daß gesellschaftliche Strukturen, Funktionen, Rollen, Hierarchien und Herrschaftspositionen letztlich auf menschlichem Handeln und menschlicher Übereinkunft beruhen und daß solche Strukturen keineswegs »natürlich« gewachsen und damit gleichsam unveränderbar sind — auch wenn sie mit der Zeit so sehr erstarren, daß es größter Anstrengungen bedarf, sie zu verändern.
Nein, man hatte die Frauen nicht vergessen, im Gegenteil: Die Fähigkeit, Geschichte zu machen, wurde ihnen schlichtweg nicht zugestanden. »Der Mann macht Geschichte, das Weib ist Geschichte«, sagt Oswald Spengler. Und wie zur Ergänzung schreibt Jose Ortega y Gasset: »Deshalb braucht der grundlegende Anteil der Frau an der Weltgeschichte auch nicht in Taten, nicht in Unternehmungen zu bestehen, es genügt die stille, reglose Anwesenheit ihrer Person.« Doch wer den Frauen ihrer »Natur« nach die Fähigkeit zur Selbstbestimmung abspricht, spricht ihnen die Voraussetzung zur Freiheit ab.
Die Bestimmung der »weiblichen Natur«
Die fundamentale Ungerechtigkeit, die den Frauen widerfährt, liegt nicht einmal so sehr in ihrer konkreten Benachteiligung auf fast allen Gebieten, sie liegt vielmehr darin, daß ihnen die Fähigkeiten nicht zugetraut werden, sich auf allen Gebieten, die ihr Interesse finden, ebenso erfolgreich betätigen zu können, wie Männer das tun. Noch im Jahr 1987 hat ein deutscher Oberlandesgerichtspräsident der Öffentlichkeit kundgetan, daß er Frauen - wohlgemerkt nicht eine einzelne Frau - nicht für fähig hält, ein Richteramt auszuüben.
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Wie aber sollen wir in Erfahrung bringen, wozu Frauen fähig oder unfähig sind, wenn sie ihre Fähigkeiten nicht unter Beweis stellen können?
Decken wir die gesellschaftlichen Wurzeln der Benachteiligung von Frauen nicht auf, so werden wir diese Benachteiligung nicht abbauen, werden wir individuelle Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit nicht wirklich für alle erreichen können. Eine dieser Wurzeln liegt im Bewußtsein der Menschen, in ihren Vorurteilen und überkommenen Gesellschaftsbildern. Eine andere liegt in der strukturellen Entwicklung der Gesellschaft, insbesondere der Arbeitswelt. Beide hängen mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der Industrialisierung zusammen.
Im großen und ganzen läßt sich für die letzten zweihundert Jahre sagen, daß die Bestimmung der sogenannten »weiblichen Natur« und die gesellschaftliche Rolle der Frau einer Tendenz unterlagen, die zu den freiheitlichen geistigen, politischen und gesellschaftlichen Tendenzen eher gegenläufig war. Geistige Aufklärung und Liberalität, politische Demokratisierung und Verfassungsstaatlichkeit bedeuteten den Abbau von Schranken, Hindernissen und Festlegung auf Rollen, bedeuteten, daß sich bisher nicht gekannte rechtliche Möglichkeiten und gesellschaftliche Chancen privater, öffentlicher und beruflicher Entfaltung eröffneten. Was immer gegen die besitzbürgerliche Gesellschaft in der Folge der Amerikanischen und der Französischen Revolution einzuwenden ist, jedenfalls hat sie enorme emanzipatorische Kräfte freigesetzt und einen gewaltigen Demokratisierungsschub bewirkt: verfassungsgemäß verankerte Freiheits- und Bürgerrechte, Gleichberechtigung und gleiche Eigentumsrechte, freie Berufswahl, Freizügigkeit, religiöse Toleranz und anderes mehr. Auch konnte die Arbeiterbewegung in langanhaltenden und mitunter heftigen Auseinandersetzungen die politische und soziale Gleichberechtigung der Arbeiterschaft mehr und mehr durchsetzen.
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Demgegenüber hat sich die benachteiligte Lage der Frauen zeitweilig sogar noch verschärft. Zum einen wurden ihre Entfaltungsmöglichkeiten durch das bürgerliche Frauenideal, das ihnen als einzige legitime gesellschaftliche Rolle die der verheirateten Frau, der Haus-, Ehefrau und Mutter zuwies, auf den häuslich-privaten Lebensbereich beschränkt, so daß ihnen, ohne Zugang zu Bildung, Ausbildung und qualifizierter Erwerbstätigkeit, keine Alternative zur Ehe übrigblieb. Zum anderen wurden sie durch die Aufspaltung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit in unbezahlte, häuslich-private Familienarbeit und in bezahlte, organisierte Erwerbsarbeit zum Gegenstand wirtschaftlicher Ausbeutung.
Bürgerliche und proletarische Frauen
Das ideologische Frauenbild, das von der bürgerlichen Gesellschaft propagiert wurde, weist gewisse Ähnlichkeiten auf mit Ortegas Wort von der allein nötigen »stillen, reglosen Anwesenheit« der Frau. Für dieses Frauenideal, dem Anschein nach eine recht bequeme Existenz, trafen allenfalls die Lebensbedingungen der verheirateten Frauen des wohlhabenden Bürgertums zu. Doch selbst für sie bedeutete es keinen wirklichen Fortschritt, eher einen Rückschritt. Durch die Verlagerung vieler hauswirtschaftlicher Arbeiten in die außerhäusliche Produktion, in Industrie und Gewerbe, wurde der früher erhebliche Wirtschafts- und Arbeitsfaktor »Haushalt« auf den »Privathaushalt« reduziert und die Tätigkeit der bürgerlichen Hausfrau auf jene berüchtigten drei »Ks«: Kinder, Küche, Kirche. Die tatsächlich anfallende Arbeit wurde jedoch vom — meist weiblichen — Dienstpersonal erledigt.
Die »Müßigkeit« der Hausfrau war aber in Wirklichkeit weder Segnung noch Befreiung, sondern die Folge ihrer zunehmenden Funktionslosigkeit, wobei ihre gesellschaftliche Bewegungsfreiheit noch durch die Regeln der »Schicklichkeit« eingeschränkt wurde. Für die beträchtliche Zahl nichtverheirateter Bürger- und Beamtentöchter bedeuteten solche Bedingungen nur allzuoft, daß sie zur »armen Verwandten«, zur Almosenempfängerin absanken oder sich in die »allein schicklichen«, nicht weniger abhängigen »Stellungen« der Gouvernante oder Gesellschafterin begeben mußten.
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In welch hohem Maß das bürgerliche Ideal der von Arbeit weitgehend »befreiten«, von ernstem Studium verschonten Frau antiemanzipatorisch war, spiegelt sich deutlich in den beiden Herausforderungen, die die bürgerliche Frauenbewegung durch das ganze letzte Jahrhundert hindurch mit absolutem Vorrang erhob: dem Recht auf Bildung und dem Recht auf Erwerbsarbeit.
Das bürgerliche Frauenideal war jedoch nicht nur antiemanzipatorisch, es stand außerdem in krassem Widerspruch zur Alltags- und Arbeitswirklichkeit einer großen Anzahl von Frauen, die zwar den Status der Rechtlosigkeit, aber keineswegs auch den der unfreiwilligen Müßigkeit teilten. Während die bürgerliche Frau stickte, strickte, Dienstboten beaufsichtigte und Klavier spielte, absolvierte ein ganzes Heer von Frauen in den Fabriken und der Landwirtschaft einen zwölf- und mehrstündigen Arbeitstag und versorgte, natürlich nebenher, Kinder, Haushalt sowie einen Ehemann, der nicht selten trank und schlug.
Im Vergleich zu ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen ließe sich die Lage des weiteren Heeres arbeitender Frauen, der weiblichen Dienstboten, fast privilegiert nennen: bezahlte Arbeit im Vergleich zur unbezahlten Arbeit der Bäuerin, im allgemeinen weniger harte Arbeitsbedingungen als in der Fabrik und der Landwirtschaft und nicht zuletzt keine Doppelbelastung durch eigene Kinder, eigenen Haushalt und eigenen Ehemann. Daß solche durchaus unfreiwillige Freistellung von weiblicher Reproduktionsarbeit sehr häufig in uneheliche Schwangerschaften und Prostitution führte, sollte nicht verschwiegen werden.
Erbärmlich war das Los der Fabrikarbeiterin. Sie arbeitete aus Not, nicht aus eigenem Drang zur Selbstverwirklichung. Sie besaß keinerlei sozialen Schutz und erhielt einen Hungerlohn, der schon damals niedriger war als der ihrer männlichen Kollegen, bei denen sie überdies als billige Arbeitsmarktkonkurrenz nicht wohlgelitten war. In dieser Konkurrenz hat der proletarische Antifeminismus seine Wurzeln: Die proletarische Frauenbewegung, die sich später entwickelte als die bürgerliche, hatte deshalb mit »Bildung« und »Recht auf Arbeit« wenig im Sinn. Sie kämpfte erst einmal für bessere Arbeitsbedingungen.
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Die Entwicklung der kapitalistischen Industriegesellschaft setzte einen politischen und wirtschaftlich-sozialen Rahmen, in den die allseitige Benachteiligung der Frau strukturell eingebaut war. Die Tatsache freilich, daß die bürgerliche Industriegesellschaft ohne diese strukturelle Benachteiligung der Frau gar nicht hätte funktionieren können, beachteten erstaunlicherweise die Theoretiker und Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft nicht. Auch Marx und Engels fanden sie der Analyse nicht wert, all ihren Auslassungen über die Familie, das Bürgertum und das Elend der Arbeiterklasse zum Trotz. Wenn sich die politischen Parteien heute anschicken, ihre Programme zu überdenken, dürfen sie diesen Fehler nicht wiederholen.
Die Ausgrenzung der Frau muß aufgehoben werden
In allen früheren Gesellschaftsformationen, von denen wir Kenntnis haben, in der Sammler-und-Jäger-Gesellschaft, der Hortikulturgesellschaft und der Agrargesellschaft, hatten die Frauen einen großen, teilweise sogar den größeren Anteil an der gesellschaftlich notwendigen, der Erhaltung dienenden Arbeit. In fast all diesen Kulturen war die Frau — von einzelnen Bereichen abgesehen — dem Manne mehr oder weniger untergeordnet. Aber die Lebenswelten und Lebensbedingungen der Frauen und Männer unterschieden sich in den meisten Fällen nur wenig voneinander. Gemeinsame Arbeit, Mitarbeit der Frau in Landwirtschaft, Handel und Gewerbe, die Einheit von Wohn- und Arbeitsstätte verknüpften männliche und weibliche Rollen zeitlich, räumlich und funktional relativ eng miteinander.
Die bürgerlich-industrielle Gesellschaft hingegen schuf Trennungslinien, Aus- und Abgrenzungen und extrem polarisierte Geschlechterrollen in einem nie dagewesenen und für die Frauen höchst nachteiligen Ausmaß. Mit der Trennung von Wohn- und Arbeitsstätten ging die Trennung von Familien- und Arbeitsleben einher. Die industrielle Arbeit wurde entsprechend den Bedürfnissen der Produktion gestrafft, die gesamtgesellschaftlich notwendige Arbeit in unbezahlte Familienarbeit und bezahlte Erwerbstätigkeit geschieden.
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Damit war die Haus- und Familienarbeit als Nichterwerbstätigkeit aus dem gesellschaftlichen Arbeitsbegriff ausgegrenzt und die Frau als ausschließlich dafür zuständig erklärt worden. In der Konsequenz einer extrem gegensätzlichen Auffassung von männlicher und weiblicher »Natur« sowie einer rigiden Festschreibung von geschlechtsspezifischen Rollen wurde die große Mehrzahl der erwerbstätigen Frauen auf die niederen Ränge der Arbeitswelt verwiesen. Schließlich wurde die Privatsphäre zur Domäne der Frau und die politisch-öffentliche Sphäre zur Domäne des Mannes erhoben.
Wenn es stimmt, daß die Benachteiligung der Frauen strukturell in der Industriegesellschaft angelegt ist, daß deren System gar nicht funktionieren kann, ohne Frauen zu benachteiligen, dann kann der politische Schlüssel zur Lösung der Frauenfrage nur in einer Veränderung der industriellen Strukturen liegen. Entscheidend dabei ist die Neudefinition des Begriffs der Arbeit und ihre Bewertung in der Gesellschaft. Die notwendige gesellschaftliche Arbeit setzt sich immer aus der Haus- und Familienarbeit, die Versorgung und Erziehung der Kinder eingeschlossen, und der Arbeit zur Herstellung der lebensnotwendigen Güter zusammen. Heute wissen wir, daß es im Prinzip völlig gleichgültig ist, wer welche Arbeit leistet, ob die Frauen diese, die Männer jene oder umgekehrt oder beide gemeinsam oder je zur Hälfte oder zu welchem Anteil immer. Es hat sich gezeigt, daß Männer und Frauen gleichermaßen fähig sind, sowohl diese wie auch jene Art von Arbeit zu verrichten.
Unterschiedliche gesellschaftliche Rollen
Industrielle Arbeit ist organisierte Arbeit. Sie wird an einer Arbeitsstätte ausgeübt, die nicht zugleich Wohnstätte ist. Sie ist bezahlte, fremdbestimmte, abhängige, nach Arbeitszeit und -dauer genau festgelegte und unter übergeordneter Planung stehende Arbeit. Zwar konnten auch vorindustrielle Arbeitsweisen einzelne dieser Merkmale aufweisen, doch in der Kombination waren sie nicht üblich.
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Die agrarische Arbeitsweise kann in diesem Sinne als typische nicht-organisierte Arbeitsweise gelten. Die industrielle Arbeitsweise eroberte im Laufe der Zeit fast den gesamten Bereich der Güterproduktion — und damit auch den einen Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Heute ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der gesamte Bereich der nicht-selbständigen Erwerbstätigkeit nach dem Muster der industriellen Arbeit organisiert. Die moderne Arbeitswelt erfordert in aller Regel den voll erwerbstätigen Menschen, der für die gesamte Dauer eines acht- oder mehrstündigen Arbeitstages ständig zur Verfügung steht, und das ein ganzes Arbeitsleben lang. Demgegenüber ist die Haus- und Familienarbeit als der andere elementare Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit im großen und ganzen nicht-organisierte Arbeit geblieben. Die Merkmale dieser nicht-organisierten Haus- und Familienarbeit entsprechen genau dem Typus der vorindustriellen Arbeit: im Wohnhaus ausgeübte, selbständige, nicht-fremdbestimmte, nichtgeregelte, unbezahlte und als solche nicht sozial abgesicherte Arbeit. Sie erfordert jedoch ebenso wie die Erwerbstätigkeit eine ausschließlich für sie vorhandene Person, die zwar nicht immer kontinuierlich, dafür aber nicht selten vierundzwanzig Stunden am Tag verfügbar sein muß.
Unter den in der modernen Gesellschaft vorherrschenden Bedingungen des Arbeitens und des Zusammenlebens schließen sich die Bereiche der organisierten und der nicht-organisierten Arbeit gegenseitig aus, sie werden zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen. Das heißt, ein und dieselbe Person kann sie in der beschriebenen Form ohne private oder öffentliche Hilfe grundsätzlich nicht miteinander vereinbaren. Diese Unvereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit bildet heute bei weitem den gravierendsten Hinderungsgrund für die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frau und Mann auf allen gesellschaftlichen Gebieten. Die beiden Rollen oder Arbeitsbereiche sind ja gerade nicht getrennt und ökonomisch unabhängig voneinander existierende Berufsfelder. Sie sind eng verzahnt durch das Zusammenleben von Frauen, Männern und Kindern in der Kleinfamilie.
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Ökonomisch sind sie völlig ungleichwertig, da die unbezahlte Familienarbeit keine selbständige, unabhängige, individuelle Existenzsicherung ermöglicht. Darüber hinaus sind beide Arbeitsbereiche aufeinander angewiesen, weil einerseits die Organisation der Arbeitswelt stillschweigend voraussetzt, daß die Erwerbstätigen von der Familienarbeit freigesetzt werden, während andererseits die Familienarbeit der wirtschaftlichen Absicherung durch die Erwerbstätigkeit bedarf. Beide Bereiche sind ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt, weil die Haus- und Familienarbeit in den überkommenen gesellschaftlichen Rollenvorstellungen als »Frauenarbeit« gilt — und es in der Wirklichkeit auch immer noch weitgehend ist. Natürlich schränkt die Familienarbeit auch erheblich die Möglichkeit ein, am politisch-öffentlichen Leben teilzunehmen.
Der Schein trügt
Vermutlich wird man gegen eine solch strenge analytische Bestandsaufnahme eine ganze Reihe von Einwänden erheben: Daß das Bild in Wirklichkeit so düster nicht ist, wird man sagen; daß gerade für die letzten zwei bis drei Jahrzehnte Fortschritte zu verzeichnen sind; daß traditionelle Rollenbilder im Umbruch, gar in Auflösung begriffen und viele Vorurteile längst abgebaut sind; daß mit der behaupteten Unvereinbarkeit etwas nicht stimmen könne, da doch rund 40 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung Frauen sind; daß es bei uns mehr als eine Million alleinerziehender Mütter gibt, von denen nicht wenige sich und ihre Kinder selber »versorgen«; daß der weitaus überwiegende Teil aller Mädchen heute eine Ausbildung erhält und meistens auch abschließt; daß Umfang und Niveau der schulischen, akademischen und beruflichen Qualifikation von Frauen einen nie dagewesenen Stand erreicht haben; daß Frauen in »Männerberufen« keine Ausnahmen mehr sind; daß Frauen auch in der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft Spitzenpositionen einnehmen können; und daß schließlich allerorten in unserer Gesellschaft in Theorie und Praxis auf die Beseitigung der Benachteiligung hingearbeitet wird, denken wir nur an die zahlreichen Aus- und Fortbildungsprogramme, Modellversuche, Förderpläne, Frauenbüros, Frauenforschungsprojekte, Quotierungspläne und dergleichen mehr.
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Sind wir also nicht schon längst dabei, die historisch-ideologisch begründete gesellschaftliche Diskriminierung der Frauen abzubauen?
Zweifel sind angebracht, weil der Schein in vielen Fällen trügt. Nach wie vor ist der Arbeitsmarkt stark segmentiert, das heißt, Frauen arbeiten mehrheitlich in untergeordneten Positionen und erzielen entsprechend niedrigere Einkommen als Männer. Der Anteil der in Männerberufen arbeitenden Frauen ist schon wieder rückläufig. 92 Prozent der Teilzeitarbeitsplätze sind mit Frauen besetzt. Die Zahl der abhängig erwerbstätigen Frauen ist seit 1970 um rund eine Million gestiegen, ihr Gesamtarbeitsvolumen aber ist gleichgeblieben. Obwohl der Mädchenanteil bei den Auszubildenden 1985 bei immerhin 41 Prozent lag, verteilten sich 66,5 Prozent davon auf nur fünf typische Frauenberufe — Kauffrau, Verkäuferin, Bürogehilfin, Arzthelferin, Friseuse.
Noch immer haben Frauen nur eine minimale Chance, in berufliche Spitzenpositionen aufzusteigen. Nur 2,5 Prozent aller Hochschullehrstühle zum Beispiel sind mit Frauen besetzt, obwohl der Frauenanteil bei den Hochschulabsolventen ständig steigt und in einzelnen Fällen bereits 40 Prozent beträgt. Auch in den Parlamenten hat sich die Anzahl der weiblichen Abgeordneten gegenüber der im Jahr 1919 kaum erhöht. Der etwas höhere Anteil von Frauen im gehobenen öffentlichen Dienst ist auf den hohen Anteil von Lehrerinnen zurückzuführen — dem traditionellsten aller modernen Frauenberufe.
Es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, daß erwerbstätige Frauen mit Familie doppelt belastet sind, sofern sie nicht bezahlte oder unbezahlte Hilfsleistungen in Anspruch nehmen. Derartige Entlastungsleistungen — die Mehrheit der Kinder von erwerbstätigen Müttern wird von den Großmüttern versorgt — gehen in die Berechnung der gesamtgesellschaftlichen Kosten oder des Anteils der Frauenarbeit in unserer Gesellschaft nicht ein.
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Die Frage, ob die Benachteiligung von Frauen in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten wirklich und endgültig abgenommen hat, ist schwer zu beantworten, in der Tat. — Männer können Beruf und Familie miteinander vereinbaren, weil sie nicht selber die notwendige Familienarbeit leisten müssen. Die Tatsache, daß heute eine zunehmende Zahl von Frauen Familienarbeit und Erwerbstätigkeit miteinander vereinbaren muß, darf uns nicht zu falschen Schlüssen verleiten.
Das im 19. Jahrhundert geprägte Rollenbild der Frau ist zwar nach wie vor im gesellschaftlichen Bewußtsein wirksam, es zeigt aber deutliche Auflösungserscheinungen. Die rechtlich-formalen wie auch die tatsächlichen Chancen der Frauen haben sich erheblich verbessert und werden von vielen auch erfolgreich wahrgenommen. Allen häuslichen Belastungen und Nachteilen des Arbeitsmarktes zum Trotz, drängt es die Frauen von ihrer traditionellen Rolle weg. Mehr und mehr wollen sie berufstätig sein, mehr und mehr bleiben sie auf Dauer im Beruf.
Kein Zweifel, die Frauen sind emanzipierter, sind freier und »gleicher« geworden, nicht zuletzt auch selbstbewußter. Haben sich demnach die Einstellungen und Erwartungen von Männern und Frauen, ihre Erfahrungen und Verhaltensweisen einander angenähert? Anschein und Wirklichkeit stimmen nicht überein. Während sich die gesellschaftliche Lage und das entsprechende Bewußtsein der Männer nur wenig geändert hat, sind sich die Frauen ihrer Ungleichheit bewußter geworden, weil sie die Veränderung ihrer gesellschaftlichen Situation mit allen Vor- und Nachteilen unmittelbar erfahren. Das unterschiedliche Bewußtsein führt zu Konflikten, die fast ausschließlich im privaten, ehelich-familiären Bereich bewältigt werden müssen und zur Zerreißprobe für die zwischenmenschlichen Beziehungen werden.
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Die Auffassungen von Familie und Ehe wandeln sich
Die meisten Männer — dies belegen die neuesten Umfragen — halten am herkömmlichen Familienmodell, an der traditionellen Aufteilung von weiblicher und männlicher Rolle in der Kleinfamilie fest. Das bedeutet freilich auch, daß es den Männern infolge dieses tradierten Rollenverhaltens von der Gesellschaft schwergemacht wird, ihre Lebensentwürfe und Lebensplanungen frei zu wählen.
Indem die Frauen die Fesseln ihrer herkömmlichen gesellschaftlichen Rolle sprengen, stellen sie mehr und mehr das gesamte System der industriellen Arbeitsorganisation und -verteilung in Frage, das die unbezahlte Familienarbeit zur notwendigen Voraussetzung hat. Ihr Aufbruch in die Berufswelt läßt sie mit aller Deutlichkeit erfahren, daß sie ihre Gleichberechtigung mit einem Teilverzicht auf Familienleben zu bezahlen haben und daß umgekehrt ihr Familienleben sie daran hindert, die neuen Chancen richtig wahrzunehmen und zu nutzen. Sie bekommen zu spüren, daß ihre Ausbildung und ihre Berufsqualifikationen in einem augenfälligen Mißverhältnis zu ihren Karriere- und Aufstiegsmöglichkeiten stehen. Ihre sogenannte »Doppelverdienerrolle« bringt ihnen wohl Doppelbelastung, reicht aber meist nicht aus, ihre eigenständige Existenz zu sichern. So betrug im Oktober 1986 das durchschnittliche monatliche Arbeitslosengeld für verheiratete Männer fast das Doppelte dessen, was die Frauen erhielten.
Die Frauen haben dafür gekämpft, einen Beruf frei wählen zu können. Doch wollten sie dafür nicht Ehe und Kinder aufgeben müssen, sondern mit dem Beruf vereinbaren können. Aufgrund der gesammelten Erfahrungen ist vielen Frauen inzwischen bewußt geworden, wie schwer dieser Wunsch unter den vorherrschenden Bedingungen der Arbeitsorganisation zu verwirklichen ist. Die Frage von Meinungsforschern, ob etwas Wahres daran sei, daß es für Frauen nur die Möglichkeit gäbe, entweder Kinder großzuziehen oder berufliche Karriere zu machen, beantworteten im Januar 1986 57 Prozent aller Frauen — und 59 Prozent aller Männer — mit Ja. Während die Heiratsabsichten junger Frauen und die tatsächlichen Eheschließungen ständig abnehmen, wächst die Zahl der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften. Auch die nach Einführung des Zerrüttungsprinzips drastisch gestiegene Zahl der von Frauen eingereichten Scheidungsanträge gibt zu denken. Selbst Schwangerschaft und Geburt eines Kindes sind für viele Frauen kein Grund mehr, zu heiraten. Mitunter wird eine Mutter-Kind-Familie ohne Eheschließung bewußt geplant.
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In der Bundesrepublik sind mehr als 80 Prozent der Alleinerziehenden Frauen. Während 1962 89 Prozent der Mädchen und 90 Prozent der Jungen es für wichtig oder sehr wichtig hielten, daß eine Frau verheiratet sei, wenn sie ein Kind bekommt, waren es 1982 zwar noch immer 63 Prozent der Jungen, aber nur mehr 40 Prozent der Mädchen. Aus einer repräsentativen Untersuchung der Lebenssituation alleinerziehender, erwerbstätiger Mütter aus dem Jahre 1986 geht hervor, daß diese Frauen trotz der anstrengenden Mehrfachbelastung ihre Situation als eher vorteilhaft ansehen, ihre alleinige Zuständigkeit für Beruf und Kinder eher als weniger konfliktträchtig empfinden und eine Partnerschaft zwar nicht allgemein ablehnen, davon aber eher zusätzliche Belastungen erwarten. Kein Zweifel — die Welt der Frauen ist in Bewegung geraten. Mit ihr wandeln sich aber auch die traditionellen Pole der weiblichen Existenz: Ehe und Familie. Hingegen sind die fundamentalen Strukturen der männlich geprägten Berufs- und Arbeitswelt vergleichsweise stabil geblieben. Dementsprechend hartnäckig halten sich die Vorstellungen vieler Männer, wie die jeweiligen Welten, die Welt der Frau und die Welt des Mannes, beschaffen sein sollten.
»Gleicher« und aus dem Gleichgewicht geraten
Eine Gesellschaft im raschen Wandel ist, wie die historische Erfahrung lehrt, immer auch eine Gesellschaft im Ungleichgewicht. Bewußt oder unbewußt eingeleitete Veränderungen von Teilbereichen der Gesellschaft wirken sich häufig auf andere Bereiche in einer Weise aus, die wir nicht immer zu überschauen oder gleich zu erkennen vermögen. Aus emanzipatorischer und demokratischer Sicht war das ursprüngliche System der bürgerlichen Industriegesellschaft infolge seiner Aufspaltung in Familien- und Arbeitswelt, in weibliche und männliche Rollenstrukturen so ungleich wie ungerecht.
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Nichtsdestoweniger aber war es gleichgewichtig, war in seiner funktionalen Bezogenheit der beiden »Hälften« aufeinander ausbalanciert. In der gegenwärtigen Entwicklungsphase ist dieses System zwar »gleicher« und gerechter geworden, aber zugleich auch aus dem Gleichgewicht geraten, weil die beiden ineinandergreifenden Teile nicht mehr aufeinander abgestimmt sind.
Mit der Forderung, daß die Verteilung der Arbeit nicht mehr in Erwerbsarbeit einerseits und Haus- und Familienarbeit andererseits gespalten sein soll, ist es nicht getan. Es reicht auch nicht aus zu fordern, daß die Erwerbsarbeit nicht mehr den Männern zugeordnet und hoch bewertet und die Haus- und Familienarbeit den Frauen überlassen und niedrig bewertet sein soll. Mit gesellschaftspolitischen Maßnahmen allein läßt sich die Lage der Frauen kaum verbessern: Die Strukturen der Gesellschaft müssen verändert werden.
Für viele Frauen ist doch die Arbeit schon längst nicht mehr gespalten, sondern zur Doppelbelastung vereint. Haus- und Familienarbeit ist und wird Haus- und Familienarbeit bleiben — putzen, kochen, einkaufen, waschen, Kinder versorgen, pflegen und erziehen —, wie auch immer sie verteilt und bewertet wird. Haben uns deshalb alle Verbesserungen der jüngeren Vergangenheit — Bildung und Ausbildung, Zugang zu Berufstätigkeit und »Männerberufen« usw. — dem Ziel so wenig näher gebracht? Sind vielleicht die gegenwärtig diskutierten Frauenförderpläne oder Quotierungen gar untauglich? Sind die Frauen womöglich schlecht beraten, wenn sie heute selbstbewußt fordern: »Her mit unserer Hälfte!« Ja und nein. Denn wenn wir nur alle denkbaren Quotierungen festschrieben, sonst aber nichts veränderten, würde sich damit die Diskriminierung der Frauen nur langsam beseitigen lassen, weil unter sonst gleichbleibenden Bedingungen viel zu viele Frauen nicht die Zeit fänden, solche Quotierungen zu nutzen.
Die volle und wirkliche Gleichberechtigung der Frauen in der Gesellschaft der Zukunft läßt sich nicht in den Strukturen der Gesellschaft von gestern und vorgestern verwirklichen.
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Die Linke darf aber ihre bisherigen Anstrengungen, die Benachteiligung von Frauen abzubauen, nicht aufgeben. Vielmehr sollte sie ihren Blick verstärkt auf das gesellschaftliche Umfeld richten, von dem die Lage der Frauen abhängt. Die bisherigen Vorschläge zielten direkt auf die Gleichberechtigung. Doch wie auch in anderen Bereichen der Politik werden wir dieses Ziel nur erreichen können, wenn wir zudem Wege einschlagen, die mittelbar und indirekt dorthin führen.
Ein neues Gleichgewicht muß hergestellt werden
Es wird also weiterhin darum gehen, Rollenklischees aufzulösen und Vorurteile abzubauen, die weibliche Ausbildung zu verbessern, Frauen den Zugang zu einer breiteren Palette von Berufen zu erleichtern sowie ihre beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Aufstiegschancen zu mehren. Die berufliche Ausbildung von Frauen läßt noch viele Wünsche offen. Vor allem gilt es aufzupassen, daß die Frauen nicht von vornherein den Anschluß an Ausbildung und Tätigkeit in den Feldern der neuen Technologien verpassen. Denn hier droht neue Benachteiligung: Mangels fachlicher Qualifikationen könnten die Frauen von der Entwicklung, der Gestaltung und der Diskussion über die Verwendungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken von neuen Technologien wiederum ausgeschlossen werden, dürften weder mitreden noch mitentscheiden, wären statt dessen nur, auf niedrigstem Qualifikationsniveau und leicht ersetzbar, das Opfer ihrer breiten Anwendung.
Gesellschaftliche Strukturveränderungen brauchen Zeit. Kein politisches System kann sie von heute auf morgen durchsetzen. Deshalb kann auch weiterhin nicht auf Mittel verzichtet werden, die in relativ kurzer Zeit ihre Wirkung entfalten, auch wenn damit nur Teilerfolge zu erreichen sind. Derzeit am meisten umstritten ist die Quotenregelung. Sie ist sicherlich nicht der Königsweg zur Gleichberechtigung, aber dennoch wäre sie ein direkter Weg zu mehr Emanzipation und mehr Demokratie. Sie würde es einer größeren Zahl von Frauen in relativ kurzer Zeit ermöglichen, mehr Mitsprache, Mitverantwortung und Einfluß auszuüben und ihre Interessen selber zu vertreten.
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Weil offenkundig mehr Frauen als Männer durch ihre Erfahrungen für das gesellschaftliche Ungleichgewicht sensibilisiert worden sind, würde die Einführung einer Quotenregelung wahrscheinlich mithelfen, eine auf strukturelle Gesellschaftsveränderung zielende Politik umzusetzen.
Eine Politik der Gleichberechtigung muß vor allem jene Strukturen verändern, die der Verwirklichung der Gleichberechtigung grundsätzlich entgegenstehen. Die Versuche, Familienarbeit und Erwerbstätigkeit in einem System zu vereinbaren, das gerade auf deren Unvereinbarkeit angelegt ist, haben einerseits nur mäßige Erfolge gezeitigt, haben andererseits aber zu jenem Ungleichgewicht geführt, hinter dem sich ein wachsendes Maß an Unzufriedenheit, Enttäuschung, Belastungen und Konflikten verbirgt.
Mithin ist die Herstellung eines neuen Gleichgewichts, das heißt die Suche nach neuen, auf die Vereinbarkeit von Hausund Erwerbsarbeit abgestimmten Formen des Arbeitens und des Zusammenlebens das oberste Gebot einer fortschrittlichen Frauenpolitik. Jede Politik, die die alten Formen begünstigt, führt zwangsläufig in eine antiemanzipatorische und antidemokratische Richtung. Solange wir nicht entsprechend umdenken, werden wir die in den gesellschaftlichen Prozessen und Diskussionen vorhandenen emanzipatorischen Ansätze nicht kreativ weiterdenken können.
Das Umdenken sollte mit den Begriffen »Arbeit« und »Familie« beginnen. In ihrer herkömmlichen Bedeutung sind die beiden Begriffe unzeitgemäß geworden. »Arbeit« kann, wie bereits ausgeführt, heute nicht mehr nur Berufsarbeit und organisierte Arbeit heißen. Der zeitgemäß definierte Arbeitsbegriff umfaßt die gesamte gesellschaftlich notwendige Arbeit, die organisierte wie die nicht-organisierte. Dasselbe gilt für alle gesamtwirtschaftlichen Berechnungen des tatsächlichen Arbeitsvolumens in der Gesellschaft und für die Frage, wieviel Arbeit insgesamt zu leisten und zu verteilen ist. Die übliche Art, die geleistete Arbeit zu berechnen, gibt ein irreführendes Bild unserer wirklichen Arbeitswelt wieder. Es wird dabei nur ein Teil der geleisteten Arbeit gezählt, der andere wird nicht zur Kenntnis genommen.
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Diese Art der Berechnung verleitet zu der irrigen Annahme, die gesamtgesellschaftlich notwendige Arbeit werde allein während der geregelten Erwerbsarbeitszeit erbracht. Die Nichtberücksichtigung eines großen Teils der notwendigen gesellschaftlichen Arbeit, der informellen Arbeit, führt darüber hinaus zu falschen Einschätzungen des Arbeitsbedarfs beziehungsweise der Arbeitsnachfrage.
Eine der gravierendsten Folgen dieser Nichtberücksichtigung ist, daß sich in der organisierten Arbeitswelt eine familienfeindliche Struktur herausbildet — eine Struktur, die, solange Familienarbeit fast ausschließlich von Frauen geleistet wird, auch frauenfeindlich ist. Denn die Arbeitswelt ist grundsätzlich für Menschen eingerichtet, die nicht Familienarbeit zu leisten haben. Um es einmal kraß auszudrücken: Für den gefragten Arbeitnehmer-Prototyp ist Familie nur als Freizeit-, Feierabend- und Wochenendgestaltung vorgesehen, nicht aber als alltägliche Lebensform und Arbeitsanforderung.
Neue Modelle des Familienlebens
Soll die Struktur der organisierten Arbeitswelt und damit die Struktur unserer Gesellschaft tatsächlich frauengerechter werden, dann muß sie in erster Linie familienfreundlicher werden. Das kann nur gelingen, wenn das heute gültige Leitbild des typischen Arbeitnehmers umgeformt und die organisierte Arbeitswelt umgestaltet wird. Es ist der Erwerbstätige, der ohne Rücksicht auf Kinder und einen ebenfalls berufstätigen Partner seinem Beruf nachgehen, Überstunden leisten und beliebig seinen Arbeitsort wechseln kann. Das Leitbild des arbeitenden Menschen in der Gesellschaft der Zukunft hingegen ist der (Berufs-)Tätige, der alleinerziehend oder mit einem (berufs-)tätigen Partner gemeinsam auch Haus- und Familienarbeit verrichtet.
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Kaum weniger problematisch als der Arbeitsbegriff erscheint auch der Begriff »Familie«. Er meint gegenwärtig mehr denn je die Kleinfamilie, die eheliche Lebensgemeinschaft mit — meistens zwei — Kindern. Unsere Familienpolitik, unsere Ehe- und Familiengesetze, unser Steuerrecht, unsere Wohnungen sowie unsere Lebensgewohnheiten sind auf die Kleinfamilie zugeschnitten. Vor allem die organisierte Arbeit bedarf der arbeitsteilig funktionierenden Kleinfamilie.
Eine Politik, die sowohl frauenfreundlich wie familienfreundlich sein will, befindet sich mithin in einem Dilemma. Einerseits kann eine Politik der Gleichberechtigung nicht unter dem Motto »Zurück zur Familie« stehen. Andererseits kann eine familienfreundliche Politik nicht unter dem Motto stehen: »Weg von der Familie«. Oder vielleicht doch? Es käme darauf an, wie das »Weg von der Familie« zu verstehen ist. Die Familie ist die private Form und Organisation des Zusammenlebens. Haus- und Familienarbeit wirft nicht zuletzt deshalb so viele Probleme auf, weil sie privat verwaltet wird.
»Weg von der Familie« könnte in diesem Sinne heißen: weg von privat verwalteter, hin zu gesellschaftlich und marktwirtschaftlich organisierter Haus- und Familienarbeit. Das ist denkbar und machbar und nicht ohne historische Beispiele. Haus- und Familienarbeit ließe sich durchaus, wie andere Arbeit auch, teils im Haus, teils außer Haus professionalisieren und institutionalisieren, also auf die Beschäftigten dafür betriebener Einrichtungen übertragen. Da eine solche Organisation der Haus- und Familienarbeit die Funktion der Familie weitgehend aufheben würde, ist sie nicht mit dem Modell einer Gesellschaft vereinbar, in der die Menschen solidarisch füreinander einstehen. Das, was der einzelne in der Familie an Zuwendung erfährt, können Dienstleistungsbetriebe nicht ersetzen.
»Weg von der Familie« kann aber auch etwas ganz anderes bedeuten. Nämlich weg von den isolierten Kleinfamilien und hin zu neuen und größeren Modellen des Familienlebens - weg auch vom starren Muster der intakten Kleinfamilie als dem allein maßgeblichen für Politik und Gesetzgebung. Der Begriff der Familie läßt sich durchaus ohne Verlust an Privatheit und menschlicher Zuwendung weiter fassen, so daß er neue Möglichkeiten des Zusammenlebens mit einschließt, die nicht nur in der Verwandtschaft oder der Ehe begründet sind, sondern auch in Interessengemeinschaften zur Bewältigung von Alltags- und Familienarbeit.
Ähnlich einem neuen Arbeitsbegriff muß auch ein neuer Familienbegriff die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben fördern. Unter den gegebenen Verhältnissen ist das Modell der isolierten Kleinfamilie für einen der beiden Partner — de facto ist es die Frau — berufsfeindlich. Eine familienfreundliche Organisation der Berufswelt und eine berufsfreundliche Veränderung des Familienlebens hingegen werden auf lange Sicht das gestörte gesellschaftliche Gleichgewicht wiederherstellen und die beiden Bereiche der gesellschaftlich notwendigen Arbeit funktional aufeinander abstimmen. Die Politik kann durch Reformen einem neuen Familienbegriff zum Durchbruch verhelfen und ihm durch öffentliche Diskussionen die notwendige Zustimmung verschaffen.
Der Utopie der Freiheit verpflichtet, müssen wir in dieser Richtung Fortschritte erzielen, damit die Gleichberechtigung der Frauen in der Gesellschaft der Zukunft Wirklichkeit wird.
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Lafontaine 1988 Reformpolitik