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8  «Er hat es so gewollt» 

Evelyn Böhme erzählt von ihrer Ehe mit Manfred B.

 

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Als Manfred Böhme 1975 Evelyn Bachmann heiratet, glaubt ihm das niemand. Manfred hat geheiratet? Unmöglich, sagt Harald Seidel, der SPD-Abgeordnete. Und Vater wird er auch noch? Ausgeschlossen. Der hat doch noch nie mit einer Frau geschlafen.

Als ich hörte, daß Manfred heiratet, sagt die Ärztin Gabriele Kahler, ich glaube, er hat mir das auf dem Bahnhof erzählt, da dachte ich: Das tut er aus Mitleid. Weil die Evelyn ein Kind bekommt, heiratet er sie aus Mitleid. Also, mir war das alles komisch, sagt sie. Manfred hatte doch nie Frauengeschichten. Darüber hab ich mich immer gewundert, aber Frauengeschichten? Nie. Und homosexuelle Verhältnisse? Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Für uns, sagt Gabriele Kahler, war er ein Neutrum.

Aber ein komisches Neutrum, sagt Kornatz, der Flötist und Tontechniker, und erzählt, wie Manfred Böhme nach einem langen Abend im Club «Alexander von Humboldt» oben bei ihm unterm Dach geschlafen hat.

Kann ich bei dir schlafen? hatte er gefragt.
Na klar, hab ich gesagt.

Ich war eingeschlafen — und schrecke plötzlich hoch. Und was seh' ich? Direkt vor mir der Kopf von Manfred Böhme. Hockt vor meinem Bett und glotzt mich an. Und das war auch irgendwie wieder witzig, sagt Kornatz. Er fragt Böhme: Kannst du nicht schlafen oder biste schwul? Da hat er denn was gebrummelt und hat sich schlafen gelegt.

Als ich dann eine Freundin hatte, die Carola, oder auch Freunde, die bei mir blieben, da wurde Manfred tierisch böse. Er schrieb mir wilde Briefe, was für einen Umgang ich hätte, und beschimpfte mich. Ich hab ihm daraufhin gesagt, daß mein Briefkasten kein Mülleimer sei.

Gleichgültig waren ihm Frauen nicht, sagt Rudolf Kühl, der Saxophonist und Werkzeugmacher. Aber als es dann hieß, der Manfred hat geheiratet, da war ich doch erstaunt.

Ich weiß noch, sagt Günter Ullmann, der Lyriker, als Manfred im Club einen Anruf von Evelyn erhielt, in dem sie ihm offenbar gesagt hat, daß sie ein Kind erwartet. Er war wütend und sagte nur: Du hast mich reingelegt.

Heiraten, sagt Harald Seidel, das paßte doch gar nicht zu ihm, das haben wir ihm auch nicht geglaubt. Er war doch einer, der mit der Wahrheit ohnehin auf seine Weise umging. Alles, was er sagte, mußte man durch ein Sieb gießen und erst einmal prüfen, was man übernehmen wollte. So war das auch mit Evelyn.

Kennengelernt, sagt Evelyn Böhme, haben wir uns im Januar 1972. Aber da streiten wir uns immer, ob es der 6. oder der 10. Januar war.

Es war der 8. Januar, sagt Ibrahim Böhme. Ich weiß, wir haben immer gestritten, ob es der 7. oder der 9. war. Am 7. war ich krank. Da stand Evelyn Bachmann zum erstenmal vor meiner Wohnungstür. Sie war Schülerin der 12. Klasse und bat mich, ihr bei der Aufnahmeprüfung zum Theater zu helfen. Aber ich war krank und mußte sie auf den nächsten Tag vertrösten.

Evelyn Bachmann, die heute in der Dramaturgie am Theater von Gera arbeitet, möchte Schauspielerin werden oder Theaterwissenschaften studieren, sei aber abgelehnt worden. Und einer der vielen jungen Männer, mit denen Böhme sich im Kulturclub umgab, sagte, Manfred würde helfen. Sie hat dann mit Manfred Böhme zusammen die Rollen einstudiert. Es war eine sehr, sehr glückliche Zeit für uns, sagt sie. Danach bestand sie die Schauspielprüfung.

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Sie mag den ungewöhnlichen Manfred Böhme sehr, mag seine Vortragsweise, seine Intelligenz. Aber 1973 trennt Böhme sich wieder von ihr. Er sei für ein Leben zu zweit nicht geschaffen. Ich glaubte es nicht, sagt sie. Ich wollte es nicht glauben. Ich habe all die Jahre gebraucht, um das einzusehen und mich von ihm scheiden zu lassen. Ich bin darüber nicht böse, sagt sie. Es ist die Erfahrung, die ich machen mußte. Aber damals wollte ich ihn heiraten.

Was bedeutet Heirat für Ibrahim Böhme?
Er sagt so hölzern er nur kann: Es war das spät begonnene Projekt, eine Zweisamkeit einzugehen. Und das unter Preisgabe einer Distanz, die ich nicht mehr hätte preisgeben sollen in dem Alter.
Sie waren jung, sage ich. Sie waren 31 Jahre.
Aber ich hatte über lange Phasen keine Zweisamkeit gehabt, sagt er. Ich hatte nur kurze Liebschaften hinter mir.
Wer hat Sie aufgeklärt?
Wir sind nicht aufgeklärt worden, sagt Böhme. Was wir an Aufklärung genossen haben, verdanken wir Direktor Schlüter, dem Biologielehrer.
Also Aufklärung über den Umweg von Bienen und Schmetterlingen?
Nein. Herr Direktor Schlüter, sagt Böhme, habe sich über das Maß der pädagogischen Vorgaben zentraler Volksbildungs­einrichtungen gestellt. Aber richtig sei natürlich, daß sie eine prüde Erziehung genossen hätten. Dennoch sei er froh, daß es damals noch keine Pornohefte gegeben habe und daß ihnen die Sexualität, wenn sie ihnen denn beigebracht wurde, als die höchste und wichtigste Verinnerlichung von Zweisamkeit erklärt worden sei.

Klingt ziemlich abstrakt, sage ich. Wie war denn das damals in Leuna im Lehrlingswohnheim, durften Sie da mal jemanden mit aufs Zimmer nehmen?

Nein, sagt er. Wir hatten einen Jungentrakt und einen Mädchentrakt. Und wenn er kurz vor 22 Uhr wieder ins Männer­lehrlingsheim zurückkam, dann hatte die Erzieherin von drüben schon angerufen, um Mitteilung zu machen: Der Manfred war wieder hier, hat wieder mit der Susanne rumgemacht, und sie haben sich geküßt. 

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Oh, Gott, sagt er, wenn wir uns mal auf der Bank geküßt hatten! Das war ja gleich nun. Aber es habe auch was Schönes, Kribbelndes gehabt, dieses Versteckspiel.

Prüde, sagt er, sei er noch heute. Und für ihn gelte immer noch: Pastoren und Politiker müssen eine klare Haltung haben. Das versteckte Fremdgehen lehnt er ab. Das ist für mich das höchste Maß an Unehrlichkeit, sagt er, egal, ob man verheiratet ist oder nicht. Vielleicht ist das prüde, meint er. Ja, sicher, das ist wohl prüde.

Aber diese Prüderie sei immer noch besser als das, was täglich über den Bildschirm flimmere. So schmutzig sei das. Das ist für mich eine Preisgabe des Schönsten, was Menschen, so sie körperlich und geistig gesund sind, ausüben können — nämlich den Geschlechtsakt. Und er fügt hinzu: Von freier Liebe halte ich nichts. Das ist immer auch ein Verrat an der menschlichen Würde. Und so gesehen finde er es gar nicht so schlecht, wie er erzogen worden sei.

Und Sie haben nie Probleme gehabt?
Warum? fragt er. Den Unterleib gab es doch nicht. Es gab doch den Unterleib in der Erziehung der DDR bis in die sechziger Jahre nicht. Der wurde doch erst später entdeckt.
Und haben Sie nie in irgendwelchen Büchern herumgeblättert?
Doch, sagt er. Ein Buch gab es. Das war von Danuta Weber und hieß «Du und ich». Vorne drauf waren die Konturen eines männlichen und eines weiblichen Körpers. Nur die Konturen. Das war schon viel für damals.
Was stand denn in dem Buch?
Da wurden Menschen von sechzehn, siebzehn Jahren an den eigenen Körper und an den des heterosexuellen Partners herangeführt. Und ohne eine Pause zu machen, fragt Ibrahim Böhme: Nun wollen Sie doch sicherlich auf meine homoerotischen Beziehungen kommen?
Gern, sage ich.
Also gut, sagt er. Er habe sie praktiziert. Aber eines möchte er doch hier gleich einmal feststellen: Wer auch immer denken mag, er sei für die Staatssicherheit erpreßbar gewesen, weil er fragwürdige Affären gehabt hätte – also das sei unter seinem Format.

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Im übrigen sei er weder homosexuell noch bisexuell, fühle sich auch zu keinem Mann hingezogen, wohl aber zu einem schönen Männerakt, zu dem genauso wie zu einem schönen Frauenakt. Und er kenne auch niemanden – so er denn Sinn für Ästhetik habe –, der nicht bis ins hohe Alter. hinein homoerotische Begehrlichkeiten ab und an in sich aufkeimen fühle, sagt er, und er denke dabei an Thomas Mann.

Natürlich, sagt Jürgen Kornatz, an Gustav Aschenbach denkt er im «Tod von Venedig». Den Schluß hat er gemocht, diesen theatralischen Schluß bei Thomas Mann, den fand er wunderbar, wo der Tod in der Schönheit aufgeht. Der Schriftsteller Gustav Aschenbach hat sich verliebt in den polnischen Jüngling Tadzio, begehrt ihn mit Blicken, wünscht zu gefallen, will sich verjüngen, geht zum Coiffeur, betrachtet sich gequält im Spiegel, sagt nur: «Grau.» Der Figaro färbt ihm die Haare, frischt die Gesichtshaut auf, legt Himbeerfarbe über bleiche Lippen, läßt Runzeln und Furchen unter Cremes verschwinden, und mit Herzklopfen erblickt Aschenbach «einen blühenden Jüngling».

So betrachtet er die süße Jugend Tadzio. Sitzt auf einem Stuhl am Strand, und der Wind weht, und die Flut steigt, und er schaut dem Knaben zu, bis sein Kopf auf die Brust sinkt. «Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.»

Er liebte den «Tod in Venedig», sagt Harald Seidel, und er liebte die homoerotischen Attitüden. Er benutzte doch auch Kosmetika, Wässerchen und Tinkturen und hatte trotz aller Distanz ein großes Zärtlichkeitsbedürfnis. Einmal sind sie in seinem Zimmer in der Thälmannstraße. Es ist warm, und Böhme ist in einer gewissen Stimmung. Harald, netz mir doch mal die Stirn, sagt er zu seinem Freund. Reich mir doch mal die Karaffe rüber. Und Harald Seidel wischt die Stimmung mit einem Lacher weg, sagt: Spinnst du, Manfred ?

Wer diese Begehrlichkeiten leugnet, sagt Ibrahim Böhme, kennt es eben nicht anders und ist arm dran. Oder er lügt. Aber ich fühle mich ganz normal und habe nicht nur in meiner Jugend, sondern auch in

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meiner Jungmännerzeit nicht nur homoerotische Begehrlichkeiten gehabt, sondern auch homoerotische Erlebnisse. Ich habe sie nie gesucht, sagt er. Sie haben sich ergeben. Und dazu bekenne ich mich auch. Und natürlich, sagt er, gibt es diese Männer noch. Und wenn wir uns begegnen, müssen wir uns nicht genieren.

1976 bekommen Evelyn und Manfred Böhme eine Tochter. Das Kind wird an jenem Tag geboren, an dem Böhmes Freund Rainer Hartmann, der Pfarrer, Hochzeit feiert. Ich erinnere mich noch genau, sagt Beate Schwämmle. Mein Bruder feierte im Club «Alexander von Humboldt», und irgendwann am Abend kam Ibrahim rein und sagte uns, daß er Vater geworden sei. So, sagte er, ich habe jetzt eine Tochter.

Wie war das, Manfred Böhme und ein Baby. Konnte er damit umgehen ?

Nein, sagt er und lacht. Nein, damit konnte ich nicht umgehen. Es ist das erstemal in unseren langen Gesprächen, daß er zugibt, etwas nicht zu können.
Sie nennen die Tochter Tatjana.
Ja, sagt er, das war der Wunsch meiner Frau.
Manfred, sagt Evelyn Böhme, hat mir von Puschkins Tatjana erzählt. Tatjana sei die schönste Frauengestalt der Weltliteratur. Wir redeten doch immer über Literatur, wenn wir uns sahen. Sie habe daraufhin Puschkins Poem « Eugen Onegin » gelesen und es bestätigt gefunden. Tatjana, die Liebende, die schwermütige, scheue, schöne Person

 

«Am Fenster saß sie oft allein 
Bis in die tiefe Nacht hinein»

Sie liebt Onegin, diesen stolzen und geheimnisvollen Heuchler, der schmachtend schweigt oder große Reden schwingt und «der sogar erlogner Tränen fähig war». Ja, da wird Ibrahim Böhme sich selbst wohl aufs prächtigste beschrieben gesehen und wiedergefunden haben.

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«Steht plötzlich, wie der Nacht entstiegen, 
Gespenstisch groß, mit finstern Zügen 
Und Feuerblick, vor ihr — Eugen! 
Und starr vor Schrecken bleibt sie stehn»

Mochte Manfred Böhme Vater sein, verheiratet sein? Also das Kind, sagt Evelyn Böhme, das ist mein Kind. Ist es immer gewesen. Er kam doch so selten. Er hatte doch so wenig Zeit. Wie oft haben wir gewartet, immer wieder gewartet. Und er kam dann nicht. Und wenn ich , das schon kaum verkraften konnte, dann das Kind noch viel weniger. Immer gewartet. Mit dem Kind gewartet. Ich glaube, sagt Evelyn Böhme, Tatjana ist der einzige Mensch, der nicht von ihm fasziniert ist. Ich hör das doch, die Frauen um ihn herum: Oh, Böhme, oh, Manfred, oh, Ibrahim. Tatjana nicht.

Und als dann der ganze Rummel mit der Wahl war, sagt sie, und als es in allen Zeitungen stand, in den Boulevardblättern < First Lady gesuchte und als er dann sagte, wenn er Ministerpräsident werde, dann heirate er seine Evelyn wieder — und sie hätte das auch mitgemacht —, da hat Tatjana gesagt: Ich weiß wirklich nicht, wer von euch beiden blöder ist, du oder er.

Na ja, sagt Evelyn Böhme, als er die Wahl dann verloren hatte, wollte er auch nicht mehr kommen. Und sicher geht es mir mit Tatjana ohne ihn auch besser. Also, Tatjana hat ihn immer kritisch gesehen, obwohl sie ihn liebt, durchaus. Aber ohne alle schwärmerische Attitüde. Dabei hat er sie doch kaum gesehen. Er weiß doch gar nicht, was er mit ihr verpaßt.

Man hatte uns eine Wohnung versprochen im Neubaugebiet Politz, sagt Ibrahim Böhme. Das liegt oben über Greiz. Die hätten wir gerne genommen, auch wegen der Fernwärme. Aber dann wurde ihm die Arbeit im Kulturbund aufgekündigt, und aus sei es gewesen mit dem Angebot. Später ziehen sie dann zu den Schwiegereltern nach Triptis.

Mit Manfred traten Vorkommnisse auf, die merkwürdig waren, sagt Evelyn Böhme. Die Autos zum Beispiel. Also draußen stand immer wieder dieses Auto.

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Oder es traf mit Manfred zusammen ein. Die Nachbarin hat immer das Fenster geöffnet, wenn Manfred kam. Das zeigte genau auf unser Wohnzimmer. Vielleicht gab es da Richtungspeiler, die auf unsere Wohnung eingestellt waren. Ich kann es nicht sagen. Und man fragt natürlich auch nicht in den eigenen vier Wänden.

Also ich fragte nicht. Nicht mehr. Und auch, weil Manfred meinte, es sei besser, nicht zu fragen. Natürlich, sagt sie, hat es Zeiten gegeben, wo ich es nicht in Ordnung fand, aus all dem ausgeschlossen zu werden, was um uns herum passierte. Und er war doch in diesen oppositionellen Kreisen. Das wußte ich. Und mir war klar, daß sein Engagement für die Opposition die Bedrohungen hervorrief. Und eines Abends kommt er nach Hause und ist blutig geschlagen, und sein Hemd ist zerrissen, und er sagt: Ich bin die Treppe hinuntergefallen. Fast beschwörend sagt er das und signalisiert: Frag mich nicht, ich kann es dir nicht sagen.

Und da war für mich langsam der Zeitpunkt gekommen, wo ich nicht mehr fragte. Ich kannte ihn doch. Ich kannte seine Intelligenz und dachte mir, er wird schon wissen, warum. Und warum sollte das nicht auch bei uns so sein können wie bei Lohengrin und Elsa? «... nie sollst du mich befragen noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam und Art». Und Elsa singt:

«Nie, Herr, soll mir die Frage kommen. Man muß einander doch einfach glauben und vertrauen können.» Aber seine Andeutungen, sagt sie, waren manchmal schrecklich. Von einem Autounfall und wie schnell man den haben könne, hat er manchmal gesprochen. Und daß dann ja auch nichts nachzuweisen sei.

Und als er so vor mir stand, mit blauem Auge, blutiger Nase und zerrissenem Hemd und nur sagt, ich bin die Treppe hinuntergefallen, das war schon schrecklich, sagt sie. Und ich konnte doch nichts in die Welt setzen, wenn ich keine Beweise hatte. Und es gab ja auch Leute, die sagten, der Böhme hat einen Verfolgungswahn, der ist nicht ganz in Ordnung, und dann haben sie mich immer ganz mitleidig angeschaut, so, als wollten sie sagen: Die kann das ja gar nicht einschätzen, die ist ja mit ihm verheiratet.

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«Ich weiß nicht, wer von euch beiden blöder ist, du oder er.»

Tatjana Böhme über ihre Eltern Evelyn und Ibrahim Böhme, die wieder heiraten wollten, wenn Böhme 1990 die Volkskammerwahlen gewonnen hätte. Hier 1979 in einer Hollywoodschaukel, fotografiert von der vierjährigen Tatjana.

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So habe sie sich also mit vagen Andeutungen begnügen müssen. Und dafür müsse sie heute wohl dankbar sein. Sie hätte sich doch nur schrecklich aufgeregt und gar nichts ändern können. Und was sie jetzt alles höre und lese, was sich so zugetragen haben soll, nein, sie hätte das nicht wissen wollen, schon des Kindes wegen nicht. Und daß er ihr nichts gesagt habe, das zeige ihr schließlich, wie sehr er sie geliebt habe.

Ostern 1978 wird Manfred Böhme verhaftet. Er will Flugblätter aus dem Zug von Leipzig nach Magdeburg geworfen haben. So jedenfalls erzählt er es. Wie erfährt Evelyn Böhme davon? Das ging ganz ordnungsgemäß, sagt sie. Wir waren ja verheiratet. Da standen plötzlich Leute vor der Tür und sagten: Ihr Mann ist verhaftet. Und dann fand die Hausdurchsuchung statt. Die haben zu mir gesagt, ich müsse zwei Zeugen holen. Und ich war doch völlig durcheinander, sagt sie, auch naiv, ich habe die Leute in der Wohnung allein gelassen und habe Zeugen gesucht. Ich weiß nicht, ob die inzwischen Wanzen installiert haben oder was.

Sie haben ein Buch von Reiner Kunze mitgenommen, «Brief mit blauem Siegel», den Reclam-Band. Sie darf ihrem Mann Briefe schreiben, auch Pakete schicken und etwas Geld für Zigaretten und Weinbrand. Und dann plötzlich, sagt sie, konnte ich ihn in Berlin besuchen.

Der Besuch fand in Lichtenberg statt, nicht in dem Gefängnis, in dem er saß. Man hatte ihm gesagt, er würde zu einem Verhör gefahren werden. Er war völlig schockiert, als dann plötzlich seine Frau dasaß. Und auch sie sei ziemlich überrascht gewesen. Die hatten ihm die Haare geschoren, dadurch sah er so elend aus.

Da sitzen sie nun zu dritt, sie, er und ein Stasi-Offizier. Und sie weiß, daß sie nichts von ihm erfahren wird. Es ging doch um «staatsfeindliche Hetze», sagt sie, da habe man kein Recht, etwas zu erfahren. Im schlimmsten Fall stand die Todesstrafe darauf.

Und Sie befürchteten das Schlimmste?
Ja, das Schlimmste.
Und worüber haben Sie miteinander geredet?

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Über Literatur.
Wie bitte ?
Über Literatur, ja sicher. Über Persönliches kann er doch gar nicht reden. Er hat mich an diesem Nachmittag nach einem bestimmten Buch gefragt. Ob ich das gelesen hätte. Nein, habe sie gesagt. Was, das hast du nicht gelesen ? Alles, was man nicht liest, ist ungelebtes Leben, hat er da zu mir gesagt. Und ich hatte doch nun wirklich viel gelesen. Na ja. Über Literatur haben wir also geredet.
Und über Tatjana?
Nein. Das wäre doch nichts für ihn gewesen. Aber daran hatte ich mich schon gewöhnt. Und er ist ja auch klug genug, ein Gespräch zu lenken, wie er es haben will.

Als ich Manfred Böhme frage, worüber er im Gefängnis mit seiner Frau geredet habe, sagt er tatsächlich: Über Tatjana natürlich.

Es ist das einzige Mal, daß Evelyn Böhme ihren Mann besuchen darf. Und eines Tages steht ein Stasi-Offizier bei ihr in der Bibliothek — sie arbeitet damals in der Bibliothek in Triptis — und sagt, sie müsse nach Neustrelitz fahren. Sofort.

Sie trifft dort Manfred Böhme am verabredeten Ort. Wieder ist sie nicht allein mit ihm. Er ist in Begleitung. Ich weiß nicht, sagt sie, wer das war. Er hat sich ihr nicht vorgestellt. Es wird ihr nur mitgeteilt, daß ihr Mann nicht mehr nach Thüringen zurückkäme, sondern hier in Neustrelitz bleibe. Das ginge von den Bezirksbehörden in Gera aus. Das war's, sagt sie. Keine Fragen, nichts. Schluß, aus. Und so blieb er da oben. Na ja.

Aber wir sind ja noch nicht am Ende, sagt Evelyn Böhme. Was auch immer passiert ist, sagt sie, an meinem Verhältnis zu Manfred Böhme ändert das nichts. Ich muß nicht unbedingt wissen, wie es denn wirklich gewesen ist. Ich habe ja damit gelebt. Und ich habe mich daran gewöhnt, daß es so ist. Und ich habe das auch akzeptiert. Er hat es so gewollt.

Keiner konnte so hoch kommen wie er. Aber keiner konnte auch so tief fallen wie er. Und immer, sagt sie, hat er sich für andere verwendet. Und nie hat er jemandem was Schlechtes nachgesagt.

Immer hat er sich engagiert für die, denen es dreckig geht, ohne persönliche Vorteile daraus ziehen zu wollen. Nichts besitzt er. Absolut nichts. Nicht mal Bücher. Er hat sie gelesen. Er muß sie nicht besitzen.

Aber, sagt sie, er hat auch immer alles, was von außen kam, Geld oder so, als selbstverständlich genommen. Wenn es da war, war es da. Woher es kam, war egal. Und er hat es auch immer als selbstverständlich hingenommen, daß mein Kind mit mir allein aufwächst, sagt sie, und daß ich es allein durchbringe. Selbstverständlich. Es geht ja auch so. Fürs Wesentliche reicht es.

So ist das bei ihm mit Freunden, mit Büchern, mit uns — er muß es nicht besitzen. Es gibt bei ihm nur eine geistige Aneignung. Mir tut es weh, sagt sie. Auch wegen Tatjana. Wer da nicht wieder zu uns kommt, ist selbst dran schuld. So muß man es wohl sehen. Anders kann man ja gar nicht damit fertig werden.

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