17: «Ich bin doch siebzig Jahre alt»
Endspiel am Prenzlauer Berg
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Kein Wort von Ibrahim Böhme. Nur ein Zettel an seiner Tür. Ich möge ihn entschuldigen, er habe eine Reise machen müssen.
Die Reise hat er in seinem Zimmer gemacht. Es war eine Reise in die Depression. Er hat im Dunkeln gelegen, hat kaum gegessen, nicht geredet, dafür getrunken. Nachbarn haben ihn gepflegt. Eine Ärztin ließ er einmal in der Woche zu sich.
Nun steht er auf schwachen Beinen in der Küche und kocht uns mit zitternden Händen einen Kaffee. Dünn ist er geworden. Und der Vollbart, den er sich hat wachsen lassen, ist zu weiß für einen, der 47 Jahre ist.
Wie fühlen Sie sich?
Besser.
Das freut mich. Ich dachte schon. Sie wollten sich sterben lassen.
Wie kommen Sie darauf? fragt er. Ich hatte nie die Absicht, nicht mehr leben zu wollen.Wir gehen ins Wohnzimmer, er zündet wie immer eine Kerze an, ich darf wie immer keinen Handgriff tun. Er holt Zigaretten, holt einen Aschenbecher, holt Tassen. Er solle viel gehen, habe die Ärztin gesagt.
Gut, sage ich. Gehen wir im Thälmannpark spazieren.
Nein, sagt er, soweit bin ich noch nicht.
Es ist Ihnen nicht gutgegangen in den letzten Monaten?
Nein.
Und kommt die Lebenslust langsam wieder?
Nein, der Lebensfrust.Erzählen Sie mir von Ihrem letzten Traum.
Von meinem letzten? Ich träume doch unentwegt. Ich habe drei, vier, fünf Träume in der Nacht. Manchmal kann ich mich morgens noch erinnern.
Was sind das für Träume?
Alpträume. Aber auch angenehme. Mein angenehmster Traum war, ich durfte noch einmal bei 1973 anfangen. Durfte noch einmal ganz neu einsteigen ins Leben. So, als ob nichts gewesen wäre.Und weil er nicht möchte, daß ich da weiterfrage, biegt er das Gespräch weg, will wissen, was ich denn gemacht habe.
Ich habe das Buch über Sie geschrieben, viel zuviel geschrieben, ich werde wohl streichen müssen.
Ach, streichen Sie doch alles Schlechte raus, sagt er elegisch.
Nein, sage ich. Das haben Sie nicht verdient.Und gleich schweift er wieder ab, taucht in alte Zeiten ein, erzählt von der russischen Revolution und landet irgendwann bei Maxim Gorki. Wir reden über dessen Roman «Die Mutter». Und da bekommt Böhme etwas schrecklich Strahlendes, wie der Kleinrusse im Roman, der sagt: «Für die Genossen und für die Sache vermag ich alles, würde ich sogar töten, und wenn es mein eigener Sohn wäre...» Wie Abraham, denke ich, Ibrahim.
Und ich bin ja auch kein siebenundvierzigjähriger Mann, sagt Böhme. Ich bin doch 70 Jahre alt.
Wie kommen Sie darauf?
Weil ich mein Leben so intensiv gelebt habe. Zum Teil durch äußere Zwänge, zum Teil durch eigenen Willen, letztlich nicht durch Schuld, vielleicht auch durch Schuld, aber durch den eigenen Willen. Ja, ich glaube, ich bin sehr alt.Wenn Sie 70 Jahre alt sind, sage ich, dann können Sie doch auch langsam mal mit Ihren Freunden reden. Oder fühlen Sie sich noch immer bedrängt?
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«Ich
wollte ja auch immer unnahbar sein. Ibrahim Böhme blickt aus seinem Fenster am Prenzlauer Berg. |
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Nein, nicht bedrängt. Aber das ist alles so weit weg.
Sie haben die Vergangenheit zugeschüttet, sage ich. Und nun wissen Sie nicht, wie Sie das alles wieder ausgraben sollen.Vielleicht will ich das ja gar nicht, sagt er kaum hörbar. Ich habe doch eines der schönsten und interessantesten Leben hinter mir. Mit vielen Höhen und vielen Tiefen, sagt er. Und immer wieder aufmüpfig gewesen. Und immer wieder alles verloren. Und immer wieder neu angefangen. Und die schönsten Freundschaften erlebt. Und ich freue mich, daß ich an der Einheit ein Stück mitgewirkt habe, an einem Stück Demokratie, an einem Stück Aufbruch. Ja, ich habe ein schönes Leben gehabt.
Nun reden Sie aber wie ein Neunzigjähriger, sage ich.
Da lacht er zum erstenmal an diesem Abend. Dann sagt er: Wenn ich beerdigt werde, möchte ich verbrannt werden. Und meine Asche soll auf dem Friedhof Schönefeld vergraben werden. Und niemand soll reden, niemand singen, niemand weinen. Vielleicht kann man einen Lachsack in der Nähe aufstellen. Allenfalls.
Aber noch leben Sie ja. Was glauben Sie, wird Ibrahim Böhme in Zukunft machen ?
Ich glaube, sagt er, Ibrahim Böhme muß erkennen, daß er im öffentlichen Leben nicht mehr gebraucht wird. Ibrahim Böhme wird versuchen zu schreiben.Er schweigt und sagt, man hat doch auch so viel verdrängt. Und dann gibt es ja den Satz: Man kann zu früh über sich Bescheid wissen, aber auch zu spät.
Und bei Ihnen war es zu spät.
Ja. Bei mir war es zu spät.Wir sitzen seit Stunden im finsteren Zimmer. Die Kerze dümpelt lichtlos vor sich hin. Böhme spricht aus der Dunkelheit heraus. Ich sehe ihn nicht. Nur wenn er einen Zug aus seiner Zigarette nimmt, wenn die Glut aufglimmt, sehe ich ein Gesicht voller Schatten. Wie in Alfred Hitchcocks Film «Ein Fenster zum Hof», wie ein altgeschminkter Werner Kraus aus einem Stummfilm, wie «Zelig» von Woody Allen.
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Und ich denke: Böhme ist Zelig. Denn Zelig ist der Jude, der von allen geliebt sein möchte, der sich anpaßt, der sich assimiliert, der alle Identitäten lebt, nur nicht seine eigene. Zelig wird schwarz, wenn er einem Neger begegnet, wird rot, wenn er mit einem Indianer spricht, wird gelb, wenn ihm ein Chinese über den Weg läuft, wird braun, wenn die Nazis jubeln.
Wie Böhme. Auch sein Leben besteht aus fremden Identitäten. Als er Marx liest, wird er Marxist. Als er Lenin liest, kleidet er sich wie Lenin, lebt wie Lenin, redet Lenins Text und fällt um wie Lenin. Als er Rainer Kunze kennenlernt, fängt er an zu dichten. Als er Robert Havemanns radikale Wandlung vom Stalinisten zum Bürgerrechtler begreift, macht er dessen Ideen zu den seinen. Als die Leute der Staatssicherheit ihm erklären, daß Havemann ein Staatsfeind sei, verrät er ihn. Als seine Freunde aus Greiz Jazz spielen, liebt auch er den Jazz, den er eigentlich haßt. Als er mit Ulrike Poppe im <Cafe Kisch> sitzt, um einen Protestbrief an Gorbatschow zu übergeben, ist er ein Oppositioneller. Und am Abend, wenn er seinem Führungsoffizier ins Tonband spricht, ist er ein Denunziant.
Ibrahim Böhme lebt in fremden Bildern, in fremden Personen. Er ist ein Chamäleon. Er hat sein Leben geborgt, hat sich Rollen gesucht, hat nur gespielt, und bei jedem Auftritt hat er sich verausgabt.
Und er dichtet mit Lust und verrät mit Lust, und seine Proteste sind echt und seine Berichte auch, auch seine Freundschaften. Alles echt. Und wenn er hilft, hilft er mit ganzer Seele. Und wenn er lügt, lügt er so gut wie kein anderer. Er war ein Star in der Schmiere DDR. Bei ihm ging der Vorhang nie runter. Und niemand spielte den Genossen besser als Böhme, und niemand den Judas.
Jetzt ist der Vorhang gefallen. Alle Rollen sind aufgeflogen. Er weiß nicht mehr, was er spielen soll. Und seine eigene Rolle, den echten Böhme, hat er nie gefunden. Es gibt ihn nicht.
Und da sitzt er nun, Wladimir Iljitsch, Karl, Reiner, Robert, Günter, Harald, Ulrike, Ibrahim Böhme, ein Mann ohne Identität.
Sitzt da im stockfinsteren Zimmer und weiß nicht, wie er leben soll.
Ich wollte ja auch immer unnahbar sein, sagt er. Das war immer mein Wunsch. Und damit habe ich mich wohl selbst betrogen.
Dann schweigt er lange und sagt: Bitte, bleiben Sie noch einen Augenblick.
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Ende