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Nachwort 1997 von Siegbert Wolf

 

"Gehen wir Wenigen doch voran; damit wir die Vielen werden." — 
Zur Aktualität von Gustav Landauers <Aufruf zum Sozialismus>

 

   1.  

147-158

Als im Frühjahr 1911 Gustav Landauers Hauptwerk <Aufruf zum Sozialismus>2) erschien, erregte es die Aufmerksamkeit vieler Zeitgenossen. Anerkennend, geradezu begeistert äußerte sich damals der Nationalökonom, Soziologe und <liberale> Sozialist Franz Oppenheimer:

"Ich wollte, das Büchlein käme in die Hände nachdenklicher Männer und Frauen. (...) Gährend ist die Schrift, brausend und chaotisch. (...): aus diesen Blättern schreit eine Sehnsucht nach Luft und Licht, nach Glück und Gerechtigkeit (...). Und das ist so herrlich (...), daß es, denke ich, selbst den Skeptiker für einen Augenblick rühren und erschüttern wird, der nicht, wie wir Träumer, der Meinung ist, daß ein Weg ist, wo ein Wille ist. Scheltet uns nur <Utopisten>. Die Utopie ist die Wirklichkeit von morgen, wie unsere Wirklichkeit die Utopie von gestern ist."3) 

Zugleich übte Landauers mehrfach aufgelegte, vielbeachtete Abhandlung, die er selbst als sein wichtigstes und gelungenstes Buch ansah, auf bedeutende Teile der damaligen jungen Generation nachhaltig Einfluß aus. Stellvertretend für viele dieser gesellschaftskritischen, jugendbewegten Menschen faßte dies der Schriftsteller Manes Sperber, zeitlebens von Landauers Sozialismusverständnis berührt, in die Worte:

"Dieser Aufruf, das empfanden wir auf das deutlichste, war an uns gerichtet, in Sonderheit aber an jeden von uns persönlich."4)

Nicht zuletzt ist es Landauers langjährigem Freund und literarischem Nachlaßverwalter Martin Buber zu verdanken, daß dessen Konzeption eines <Graswurzel>-Sozialismus die genossenschaftliche Siedlungs­bewegung in Israel-Palästina beflügelte.5)

Auch Helmut Rüdiger würdigte – ebenso wie Augustin Souchy und Rudolf Rocker – den <Aufruf> als eine der besten in Deutschland veröffentlichten Publikationen über Sozialismus.6)  Zweifellos zählt dieses kulturkritische Standardwerk neben Rudolf Rockers <Nationalismus und Kultur> und Max Nettlaus mehrbändiger <Geschichte der Anarchie> bis heute zu den bedeutendsten libertären Publikationen in deutscher Sprache.

    2.  

Landauers <Aufruf zum Sozialismus>, der zusammen mit seinen beiden anderen, für das Verständnis von dessen Denken und Handeln unverzichtbaren Veröffentlichungen – "Skepsis und Mystik" (1903) und "Die Revolution" (1907) – gelesen werden sollte, ist ein Text von großer Gegenwärtigkeit. Seiner kultur­kritischen Schrift haftet nichts Weltfremdes und geschichtlich Überholtes an. Sie beinhaltet neben einer ausdrücklichen Absage an die autoritäre wilhelminische Gesellschaft vor allem eine harsche Kritik am Etatismus und organisatorischen Zentralismus marxistischer Provenienz, ob in Gestalt der zeitgenössischen Sozialdemokratie und der Zweiten Internationale oder des Bolschewismus Lenins.     wikipedia  Etatismus

Formulierungen wie

"Marxismus (...): die Pest unserer Zeit und der Fluch der sozialistischen Bewegung!"7

oder

"Darum ist dieser unser unermüdlicher Angriff auf den Marxismus, darum kommen wir fast nicht von ihm los, darum hassen wir ihn von ganzem Herzen: weil er nicht eine Beschreibung und eine Wissenschaft ist, wofür er sich ausgibt, sondern ein negierender, zersetzender und lähmender Appell an die Ohnmacht, die Willenlosigkeit, die Ergebung und das Geschehenlassen",8

spiegeln Landauers begründete Abwehr gegen sämtliche staatssozialistischen Ideologien wider. 

Im Gegensatz zum Marxismus, der der wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft Priorität einräumt und dabei Veränderungen des menschlichen Bewußtseins vernachlässigt, betont Landauer die Notwendigkeit einer gleichzeitigen kulturellen und materiellen Revolutionierung der Gesellschaft. Mit dieser Haltung erweist er sich angesichts leidvoller Erfahrungen mit dem staatssozialistischen Totalitarismus9 in diesem Jahrhundert als bemerkenswert vorausschauend – was inzwischen sogar von einigen Sozialdemokraten (Peter Glotz, Iring Fetscher) eingeräumt wird: 

"... in seinem <Aufruf zum Sozialismus> hat er oft genug mit genialem Blick Tendenzen und Probleme erkannt, die erst viel später – in der Ära Stalins und im Neomarxismus – diskutiert wurden. Sozialisten wie Nichtsozialisten können noch immer von ihm lernen."10

Lassen sich aus den erschütternden Erfahrungen mit der autoritären, marxistischen Linken im 20. Jahrhundert Konsequenzen ableiten, dann sind es vor allem nachdrückliche Warnungen an diejenigen Libertären, die weiterhin an einer politischen Symbiose aus Anarchismus und Marxismus festhalten. Als Gesellschaftsmodell hat der Marxismus restlos versagt (um es gelinde auszudrücken), so daß er nicht länger Anspruch auf politische Veränderungen unter seinen (staatssozialistischen) Prämissen erheben dürfte.

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   3.  

 

Im Anschluß an diese brillant formulierte, weitsichtige, bis heute aktuelle Kritik des Marxismus mündet Landauers "Aufruf zum Sozialismus" ein in sein Plädoyer für einen polyzentrischen Neuaufbau der Gesellschaft jenseits staatlicher Zwangsverhältnisse, mit dem es ihm gelang, das Bewußtsein für genossen­schaftlichen, föderativen und kommunitären Anarchismus zu stärken. 

Angesichts erneuter Lektüre seines vor annähernd neunzig Jahren einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellten Hauptwerkes sieht sich der Autor dieser Zeilen an Martin Bubers anhaltende Bemühungen erinnert, Landauers libertären Kultursozialismus nicht dem Vergessen auszusetzen. 

Dieser hatte 1939, anläßlich des zwanzigsten Todestages seines Freundes, die Frage aufgeworfen, was von dessen Denken und Handeln für die folgenden Generationen nachwirkt, und sich sogleich – zugegebener­maßen nicht ohne Pathos – selber geantwortet:

"Was ist seither geschehen, das ihn (Landauer – S.W.) widerlegt? Und was ist seither geschehen, das ihn bestätigt? Und wenn ich dem so nachdenke, verfliegt alles, was ihn zu widerlegen schien, und was ihn bestätigt, bleibt eingehauen auf eherner Tafel."11)

Landauers Drängen darauf, zuerst in sich selber die notwendigen Kräfte der Regeneration zu aktivieren, um danach, geistig und psychisch gestärkt, die gesellschaftliche und soziale 'Wiedergeburt' zu beginnen, zählt zu den zahlreichen, bis heute uneingelösten Botschaften dieses Libertären:

"Vom Individuum beginnt alles; und am Individuum liegt alles ... Und zu einer wirklichen Menschheit im äußeren Sinne werden wir nur kommen, wenn die Wechselwirkung oder besser die Identität – denn alle scheinbare Wechselwirkung ist identische Gemeinschaft – für die im Individuum konzentrierte Menschheit und die zwischen den Individuen erwachsene Menschheit gekommen ist. Im Samen wohnt das Gewächs, wie der Samen ja nur die Quintessenz der unendlichen Kette von Vorfahrengewächsen ist; aus dem Menschtum des Individuums empfängt die Menschheit ihr echtes Dasein, wie dieses Menschtum des einzelnen ja nur das Erbe der unendlichen Geschlechter der Vergangenheit und all ihrer gegenseitigen Beziehungen ist. Das Gewordene ist das Werdende, der Mikrokosmos der Makrokosmos; das Individuum ist das Volk, der Geist ist die Gemeinschaft, die Idee ist der Bund."12

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Als Gegner des Obrigkeitsstaates und der kapitalistischen Warengesellschaft favorisierte Landauer das sofortige ‚Austreten' aus Staat und Kapitalismus und den Zusammenschluß in ‚sozialistischen Siedlungen' und ‚Produktionsgenossenschaften'. An die Stelle des Staates sollte der Bund freier Gemeinden und Verbände, die Gesellschaft treten:

"Die Grundform der sozialistischen Kultur ist der Bund der selbständig wirtschaftenden und untereinander tauschenden Gemeinden. (...) Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften; ein Bund von Bünden von Bünden; ein Gemeinwesen von Gemeinschaften von Gemeinden; eine Republik von Republiken von Republiken."13

Der spanische Anarchosyndikalist Diego Abad de Santilián, der Landauers Schriften im spanisch­sprachigen Raum bekannt gemacht hat, schrieb in einer Würdigung über dessen Grundgedanken:

"Worauf es ankommt, ist also nicht die große Revolution von morgen, sondern die kleine Revolution, die zu jeder Stunde und an jedem Tage stattfindet, mit den gegebenen Mitteln und soweit es die Umstände gestatten. Immer kann etwas Praktisches getan werden, und sei es noch so wenig, und wer das Wenige, das heute möglich ist, nicht tun will um des Vielen und Großen, das angeblich in der Zukunft geschehen soll, wirkt weder für die Zukunft noch für den heutigen Tag."14

 

   4.  

 

Zweifellos findet sich das in den Subkulturbewegungen der sechziger und siebziger Jahre in Westeuropa und den USA praktizierte <Aussteigen> aus der bestehenden Massengesellschaft mit ihrer Atomisierung sozialer Zusammenhänge bereits in den theoretischen und praktischen Ansätzen Gustav Landauers. Seinen Aufbau des libertären Sozialismus, eingebettet in die Konzeption einer 'Gegengesellschaft', verstand er allerdings nicht als politische Aktion, sondern als ein unmittelbares Beginnen in sämtlichen Lebens­bereichen und als eine Regeneration von längst existenten Ansätzen:

"Fanget nur erst an; fanget beim Kleinsten an und mit der kleinsten Schar!" 15

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Vor allem an Landauers nachdrücklicher und wiederholter Betonung der Utopie im Hinblick auf die gesellschaftliche Regeneration läßt sich die Aktualität seines Hauptwerks nachzeichnen. Die anhaltende Dynamik seines utopischen Denkens ergibt sich aus zwei Hauptwörtern: 'Beginnen' und 'Verwirklichen'. Sozialismus hatte für ihn keine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung zur Voraussetzung, sondern konnte stets dann 'Beginnen', wenn sich Menschen zusammenschließen, um die freiheitliche Gesellschaft zu 'Verwirklichen': "Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen."16 Damit hob er ab auf das Bewußtsein und das 'Wollen', auf die menschliche Initiative zum Sozialismus jedes und jeder Einzelnen, gewissermaßen als die wichtigsten Voraussetzungen umfassender Veränderungen.

 

   5.  

 

Ausgehend von Landauers Überzeugung, daß menschheitliche Regeneration historisch jederzeit möglich sei, ist es, bezugnehmend auf aktuelle Debatten über das Ende der Utopie und eine verbreitete Gleichsetzung von utopischem Denken mit Totalitarismus und Unfreiheit, notwendig darauf hinzuweisen, daß seine lebenspraktischen, sozialinnovativen Entwürfe einer grundlegenden Revolutionierung der Gesellschaft nicht von der Vorstellung eines 'Endes der Geschichte' geprägt sind, sondern von einer Revolutionierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Permanenz:

"Das brauchen wir wieder: eine Neuregelung und Umwälzung durch den Geist (gemeint ist die umfassende Veränderung des menschlichen Bewußtseins - S.W.), der nicht Dinge und Einrichtungen endgültig festsetzen, sondern der sich selbst als permanent erklären wird. Die Revolution muß ein Zubehör unserer Gesellschafts­ordnung, muß die Grundregel unserer Verfassung werden."17

Daß mit der 'Globalisierung' des Kapitalismus die Geschichte an ihr Ende angelangt sei, wie es uns konservative Meinungsträger mit ihrer Diffamierung utopischen Denkens weismachen wollen, findet sich bereits in Landauers "Aufruf zum Sozialismus" beeindruckend widerlegt. Seine libertäre Utopie kennt kein Ende der Geschichte, sondern eine ständige Pendelbewegung zwischen ‚Topie' und ‚Utopie', zwischen den gegebenen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen, dem "allgemeine(n) und umfassende(n) Gemenge des Mitlebens im Zustand relativer Stabilität"18 und den jeweiligen sozialen Veränderungen, "erzeugt durch die Utopie"19.

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  6. 

 

Auch angesichts öffentlicher Diskussionen über die <Globalisierung> der Wirtschaft und deren soziale Folgen finden sich in Landauers Aufruf interessante Lösungsansätze. Sein kommunitärer Anarchismus mißt der individuellen Freiheit uneingeschränkten Vorrang bei; zugleich schließt dies anhaltende Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit mit ein. Im Zentrum von Landauers Entwürfen steht also ein libertärer Individuum-Begriff, der persönliche Freiheitsrechte mit sozialer Verantwortung zu einer Synthese, nämlich 'soziale Individualität', vereinigt. Individualität und persönliche Umkehr jedes und jeder Einzelnen setze stets Verantwortlichkeit im privaten wie öffentlichen Raum voraus – der Mensch ist und bleibt ein gemeinschaftliches Wesen, das Individualität und soziales Miteinander zugleich verkörpert. Landauer betonte, daß das Ausmaß individueller Freiheit stets abhängt vom jeweiligen Ausmaß der gesellschaftlichen Freiheit.

Eng verknüpft mit seinen Ausführungen über gerechte Lebensbedingungen ist Landauers Forderung nach freiem Zugang zu Grund und Boden für alle, vor allem die Unentgeltlichkeit der Wohnung: "Die vom sozialistischen Geist Ergriffenen werden zu allererst nach dem Boden sich umsehen als der einzigen äußeren Bedingung, die sie zur Gesellschaft brauchen."20 

Er verband die materiellen Probleme, die sich beim Aufbau einer libertären Gesellschaft zwangsläufig stellen, mit der Diskussion um die individuellen Freiheitsrechte. Zu den vordringlichen Herausforderungen zählte für ihn eine gerechte Verteilung des 'Grund und Bodens', der in einer libertären Gesellschaft allen zur Verfügung stehen soll:

"Um den Kampf gegen das Bodeneigentum kommen die Sozialisten nicht herum. Der Kampf des Sozialismus ist ein Kampf um den Boden; die soziale Frage ist eine agrarische Frage."21

In seinem 1908 gegründeten Sozialistischen Bund, der den Aufbau frei assoziierter Kommunen, Landwirt­schaft, (Klein-) Industrie und Handwerk in einem gleichwertigen Verhältnis, anstrebte, heißt es im elften Artikel der 12 Artikel des Sozialistischen Bundes:

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"Diese Siedlungen sollen nur Vorbilder der Gerechtigkeit und der freudigen Arbeit sein: nicht Mittel zur Erreichung des Ziels. Das Ziel ist nur zu erreichen, wenn der Grund und Boden durch andere Mittel als Kauf in die Hände der Sozialisten kommt"22) – nämlich durch Enteignung!

Individuelle, kulturelle und soziale 'Regeneration' verstand Landauer als notwendige Einheit; sonst sei keine freiheitliche Gesellschaft möglich:

"Für mich ist das alles Ein Ding: Revolution - Freiheit - Sozialismus - Menschenwürde, im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben – Erneuerung und Wiedergeburt – Kunst und Bühne."23

Reflektierende Selbsterfahrung und solidarisches Handeln, Assoziierung in sozialistischen, ökolibertären Kommunen, Einüben freiheitlichen Zusammenlebens bereits im Kapitalismus hob er als vorrangige Schritte zu kommunitärem Miteinander hervor. Zweifelsohne gehört die enge Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft, von persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, zu den Grundgedanken seiner libertären Sozialutopie – womit er als einer der weitsichtigsten sozialistischen Denker im 20. Jahrhundert gelten kann, auch wenn seine eigentliche Bedeutung bis heute noch nicht umfassend erkannt worden ist.

 

   7.  

 

Lebenspraktische Aspekte eröffnet die Lektüre des <Aufruf zum Sozialismus> hinsichtlich Landauers Betrachtungen zu 'Ökologie' und 'Technik'. Zwar kritisierte er die Großindustrie vehement, sah jedoch auch den möglichen Nutzen technischer Errungenschaften für die Menschen. Das entscheidende Kriterium für den Einsatz der Technik blieb für ihn die Selbstbestimmung derjenigen, die sich ihrer bedienen:

"Wenn die arbeitenden Menschen selbst bestimmen, unter welchen Bedingungen sie arbeiten wollen, werden sie ein (sic!) Kompromiß schließen zwischen der Zeitmenge, in der sie außerhalb der Produktion stehen wollen, und der Arbeitsintensität, die sie innerhalb der Produktion zu leisten gewillt sind."24

In diesem Zusammenhang hob er auch die Bedeutung einer Verkürzung der Arbeitszeit hervor.

Landauers ausformuliertes Konzept einer restrukturierten Gesellschaft schließt die Notwendigkeit anhaltender radikaler Herrschafts-, Industrialismus- und Staatskritik mit ein und zielt auf die Wieder­aneignung politischer Handlungsfreiheit ab, z.B. in Richtung einer ökologischen Praxis.

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Im "Aufruf zum Sozialismus" ist sein Naturverständnis25 nachzulesen: in der Tradition des Anarchismus lehnte er die Ideologie unbegrenzten Wirtschaftswachstums ab. Die industriekapitalistische Ausbeutung des Menschen beruhte für ihn auf der Ausbeutung der Natur. Charles Darwin oder Thomas Hobbes wider­sprechend, interpretierte er das Verhältnis von 'Natur und Gesellschaft', 'Natur und Kultur' und 'Mensch und Natur' nicht als etwas Gegensätzliches.

 

Letztendlich läßt sich Landauers Ökologieverständnis weder als anthropozentrisch, mit dem Menschen und seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt, begreifen, noch als 'naturalistisch', im Sinne einer Versöhnung der Menschen mit der Natur. Sein nichtfunktionales Denken wendet sich gegen die Vorstellung einer Erkennbar­keit der Natur in ihrem 'An-Sich-Sein'. Entgegen einer ausschließlich instrumentellen Perspektive des Menschen auf die Natur betonte er die Interdependenz der uns umgebenden naturhaften und kulturellen Lebenswelt. Dieses Gefühl der Verbundenheit, Landauer spricht im "Aufruf" vom "Wiederanschluß an die Natur"26, ein nichtfunktionelles und nichtbegriffliches Verhältnis des Menschen zur Natur, verband er mit einer libertären Gemeinschaftsutopie eines Zusammenschlusses der Menschen in ökolibertären Gemeinschaften; 'ökologische Sensibilität' sollte die Über- oder Unterordnung im Verhältnis 'Mensch und Natur' aufheben. 

Erneut wird Landauers Vorstellung einer Vielfalt von Mensch und Mensch, von Mensch und Natur deutlich, die dem Verständnis einer einheitlichen, eindimensionalen Weltanschauung entgegensteht. Diese Vielfalt sei allerdings nur unter der Voraussetzung dauerhaft zu erreichen, daß gesellschaftliche und ökonomische Selbstverwaltung entsprechend gesichert werden — etwa durch ein System eng vernetzter sozialer Verbände unter Wahrung von Individualität und Solidarität. Daraus leitete Landauer die Notwendigkeit dezentraler und gesellschaftlich kontrollierter Technologien ab. Libertäre Technik müsse stets der Stärkung dezentraler Lebensbereiche dienen, von den wenig kreativen manuellen Tätigkeiten entlasten und mit der angestrebten dezentral-kommunalistischen Gesellschaft in Einklang stehen.

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   8.  

 

Landauers kommunitärer Anarchismus fordert zu anhaltender Gesellschaftskritik auf. Die Benennung von Mißständen und Ungerechtigkeiten soll allerdings stets mit konstruktivem Handeln einhergehen. Inhaltlich Stellung zu beziehen bedeutet nicht, bei öffentlicher Kritik stehenzubleiben oder sich mit der Rolle als Oppositionsbewegung zufriedenzugeben, sondern auf die Verwirklichung der libertären Lebenswelt hinzuwirken. Dieses Engagement für die unmittelbaren Belange benannte er als 'Antipolitik', worunter er nicht die Abkehr von Gesellschaft und Politik verstand, sondern das öffentliche und unverzügliche Einwirken jedes/r Einzelnen zugunsten einer libertären Regeneration der Gesellschaft. 

Wirtschaftliche und soziale Selbsthilfe in einer vernetzten Genossenschafts- und Kommune­bewegung etwa in Richtung einer ökologischen Praxis oder das Einüben neuer Konfliktlösungs- und Entscheidungs­findungs­modelle auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung der Freiheit des/der anderen sollte die bestehende Gewaltgesellschaft aufheben und dauerhaft ersetzen.

Interessanterweise ist der Begriff <Antipolitik> von Teilen der osteuropäischen Dissidentinnenbewegung aufgegriffen worden. So hat der ungarische Schriftsteller und Philosoph György Konrád in den achtziger Jahren im Konzept der zivilen, antitotalitären Gesellschaft der 'Antipolitik' zu neuer Aufmerksamkeit verholten. Seine persönlichen, mit denjenigen Landauers durchaus vergleichbaren Erfahrungen hinsichtlich des repressiven Gewaltmonopols des Staates, führten Konrád in seinen "Mitteleuropäischen Meditationen" schließlich zu folgender 'antipolitischer' Utopie:

"Antipolitik ist das Politisieren von Menschen, die keine Politiker werden und keinen Anteil an der Macht übernehmen wollen. Antipolitik betreibt das Zustandekommen von unabhängigen Instanzen gegenüber der politischen Macht, Antipolitik ist eine Gegenmacht, die nicht an die Macht kommen kann und das auch nicht will ... Der Antipolitiker ist in seinem Denken nicht 'politisch'. Er fragt nicht danach, ob es zweckmäßig, nützlich, politisch ist, gerade jetzt öffentlich seine Meinung kundzutun. Antipolitik bedeutet gegenüber der Geheimniskrämerei der Führung Öffentlichkeit, unmittelbar – auf dem Weg der Zivilcourage – ausgeübte Macht der Gesellschaft..."27

 

   9.  

Aktives Mitgestalten, nicht Erdulden, Regeneration, nicht Beharrung – diese antipolitische Ausrichtung beinhaltet im 20. Jahrhundert angesichts der schlimmsten Menschheitsverbrechen – dem bürokratisch-industriellen Massenmord an sechs Millionen Juden und Jüdinnen während des Nationalsozialismus sowie dem stalinistischen Archipel Gulag – vor allem eines: sämtliche Anstrengungen zu unternehmen, damit sich nicht weitere Zivilisationsbrüche ereignen. Notwendig dazu ist eine grundlegende Umwälzung der industriellen Massengesellschaft – m.E. die eindringlichste Botschaft in Landauers "Aufruf zum Sozialismus".

"Ein erstes Wort ist dies. Noch viel ist zu sagen. Es soll gesagt werden. Von mir und von den anderen, die hier gerufen werden."28

155-156

 Siegbert Wolf 

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Anmerkungen 

Aus Platzgründen habe ich mich auf die notwendigsten Angaben beschränkt.

 

1 Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus. Berlin 1997 (Oppo-Verlag), S. 142.

2  Mit dem Untertitel: Ein Vortrag. Berlin: Verlag des Sozialistischen Bundes. Seinen Vortrag "Aufruf zum Sozialismus" hatte Landauer seit 1908 wiederholt gehalten und ihn schließlich zu einem programmatischen Buch ausgearbeitet. In einer Vorbemerkung zur ersten Auflage schrieb er: "Die Form des Vertrags habe ich gewählt, weil unter den Aufgaben der Sprache immer die sein wird, andere zu sich heranzurufen (...). Freilich spreche ich hier anders als in einer Versammlung, spreche vor dem weiten, unbestimmten Kreise, den der Einsame in nächtlichen Arbeitsstunden vor sich sieht." Neben mehreren deutschsprachigen Ausgaben des "Aufruf", erschienen 1921 eine jiddische, 1931 und 1947 zwei spanische, 1940 eine niederländische und 1978 eine englischsprachige Ausgabe. – Grundlegend über Landauers libertäre Sozialphilosophie siehe Siegbert Wolf, Gustav Landauer zur Einführung. Hamburg 1988 (Junius Verlag); ders., "Die Anarchie ist das Leben der Menschen. Gustav Landauers kommunitärer Anarchismus aus heutiger Sicht." In: Wolfram Beyer (Hrsg.), Anarchisten. Zur Aktualität anarchistischer Klassiker. Berlin 1993 (Oppo-Verlag), S. 73ff.

3  Franz Oppenheimer, Anarchismus. (Rez.) In: Die Neue Rundschau 22 (1911), H.9, S.1326 f

4  Manes Sperber, Der andere Sozialismus. Gustav Landauer oder: Die herrschaftslose Gemeinschaft (Rundfunkmanuskript). In: Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität. Anarchistisches Ja(hr)buch I. Karin Kramer Verlag Berlin 1983, S. 111. Über den nachhaltigen Einfluß Landauers auf den deutschsprachigen Zionismus siehe Siegbert Wolf, "Sich der entstehenden Menschheit schenken!" Gustav Landauers Wirkung auf den deutschsprachigen Zionismus. In: Renate Heuer, Ralph-Rainer Wuthenow (Hrsg.), Antisemitismus - Zionismus - Antizionismus 1850 bis 1940. Frankfurt/M., New York 1997 (Campus Verlag), S. 210 ff.

5  Siehe hierzu Siegbert Wolf, Martin Buber zur Einführung. Hamburg 1992 (Junius Verlag).

6  Stefan Stralsund (= Helmut Rüdiger), Aus der Geschichte der sozialistischen Bewegung. Nach 50 Jahren - Gustav Landauer: "Aufruf zum Sozialismus". In: Opposition und Ziel, Nr. 2, November 1961, S. 4.

7  S. 61

8  S. 148.

9 In seiner frühen Kritik des marxistischen Totalitarismus bezeichnete er die deutschen Kommunisten als "pure Zentralisten wie Robespierre und die Seinen, deren Streben keinen Inhalt hat, sondern nur um die Macht geht; sie arbeiten einem Militärregiment vor, das noch viel scheußlicher wäre als alles, was die Welt vorher gesehen hat. Diktatur des bewaffneten Proletariats - dann wirklich lieber Napoleon!" (Brief Gustav Landauers an Margarete Susman vom 13.12.1918. In: Gustav Landauer, Sein Lebensgang in Briefen. Unter Mitarbeit von Ina Britschgi-Schimmer hrsg. von Martin Buber. 2 Bde, Frankfurt/M. 1929 (Literarische Anstalt Rütten u. Loening), hier: Bd 2, S. 336).

10  Iring Fetscher, Aus dem Geist der Gerechtigkeit. Gustav Landauer: 'Aufruf zum Sozialismus' (1911). In: Günther Rühle (Hrsg.), Bücher, die das Jahrhundert bewegten. Zeitanalysen – wiedergelesen, München, Zürich 1978 (Piper), 2. Auflage Ffm 1980 (Fischer Taschenbuch Verlag), S. 24.

11  Martin Buber, Landauer zu dieser Stunde, in: ders., Pfade in berg 19853 (Verlag Lambert Schneider), S. 339  OD: Der Fehler hier ist im Original auch. Es heißt vermutlich: "Pfade in Utopia"

12  Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 136, S. 111

13  Ebd. S.124.

14  Diego Abad de Santilián, Die tägliche Revolution von unten auf. In: Erich Mühsam, Rudolf Rocker, Helmut Rüdiger, Diego Abad de Santilián, Aufsätze zur Erinnerung an Gustav Landauer. Frankfurt/M. 1978 (Verlag Freie Gesellschaft), S. 5.

15  Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus S 141

16  Ebd. S.18.

17  Ebd. S.129.

18  Gustav Landauer, Revolution. Ffm 1907 (Literarische Anstalt Rütten u. Loening), S. 12.

19  Ebd. S.12.

20  Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 132

21  Ebd. S.133

22  Abgedruckt in: Gustav Landauer, Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus. Hrsg. von Siegbert Wolf. Frankfurt/M. 1989 (Luchterhand Literaturverlag, Sammlung Luchterhand 843), S. 127

23  Brief Gustav Landauers an Louise Dumont-Lindemann vom 08.01.1919. In: Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. Unter Mitwirkung von Ina Britschgi-Schimmer hrsg. von Martin Buber. 2 Bde., Frankfurt/M. 1929 (Literarische Anstalt Rütten u. Loening), hier: Bd 2, S. 353

24  Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 92

25  Vgl. hierzu: Rolf Cantzen, Weniger Staat - mehr Gesellschaft. Freiheit-Ökologie-Anarchismus. Ffm 1987 (Fischer Taschenbuch Verlag). 2. Auflage, Grafenau 1995 (Trotzdem-Verlag) S. 186 ff

26  Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 136

27  György Konrád, Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt/M. 1985 (Suhrkamp Verlag), S. 213 f.; siehe auch Andreas Seiverth, Zur politischen Aktualität eines "Antipolitikers". In: Leonhard M. Fiedler, Renate Heuer, Annemarie Taeger-Altenhofer (Hrsg.), Gustav Landauer (1870-1919). Eine Bestandsaufnahme zur Rezeption seines Werkes. Frankfurt/M, New York 1995 (Campus Verlag), S. 118 ff.

28  Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 144

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