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Die Botschaft der TITANIC

Gustav Landauer, 1912

 

 

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Neue Stoffe werden entdeckt; neue Techniken werden erfunden. Bei jedem neuen Stoff fragt hoffnungsvoller Glaube oder medizinischer Aberglaube oder geschäftlicher Spürsinn: "Welche Krankheit kann er heilen?" Bei jeder neuen Technik fragen die Militaristen vom Kriegsminister bis zum Kannegießer: "Welche Dienste leistet sie dem Kriegshandwerk zu Wasser, zu Land und zu Luft?"

Dem Leben, seiner Förderung, Heilung und Erhaltung steht der Mensch als ein Resignierter gegenüber, der wenig von seiner eigenen Kraft, fast alles von den Wunderschätzen der Natur oder den Wunderkräften einer Gottheit erwartet. Geschieht eine Heilung oder gar eine Erweckung vom scheinbaren Tod durch etwas, was wie bloße Kraft aussieht, so wird sie ein Wunder genannt.

Daß aber der Mensch seine Kraft schon mit den primitivsten Werkzeugen, schon allein mit den Gliedmaßen zum Beschädigen und Töten von Mitmenschen verwenden kann, das lehrt ihn jede Ohrfeige, jede Körperverletzung, jeder Totschlag.

Dies ist nicht der Ort, hier ist nicht meine Absicht, über die Ursachen zu sprechen, die zu der namenlosen Katastrophe der Titanic bei ihrer ersten Ausfahrt geführt haben. Nicht auf den Mißbrauch der Kraft und der Technik um der Konkurrenz und des Rekords willen soll hier der Blick gelenkt werden.

Hier soll nicht der Toten und der Schuld an ihrem Tode, hier soll der Lebenden und ihrer wundergleichen Rettung durch die Kraft einer neuen Menschen­erfindung gedacht werden. Die Stimmung inständiger Ergriffenheit, die uns alle überkam, als wir die erste, die falsche Nachricht von der Rettung aller empfangen hatten, soll darum nicht verschwinden, soll ihre Kraft und ihren Segen für uns darum nicht einbüßen, weil die mißbrauchte Technik, die daran war, alle umzubringen, noch so viele ins Meer gebettet hat.


Die Rettung vieler Hunderte von Menschen durch die drahtlose Telegraphie sollte den Menschen unserer Zeit ein Zeichen und ein Wink sein, über die Kraft unseres Geistes nachzudenken, und über die Mittel, die wir, oft ohne es zu wissen, zur Erleichterung, Verschönerung und Rettung des Lebens erfunden haben, besser als bisher zu verfügen.

Lautlos flog der Hilfeschrei der Titanic in die Welt. In die Welt, man beachte es wohl, um das Bild zu erleben, wie es ist: nicht einem bestimmten Ziel zu, nicht an bestimmte befreundete oder durch Gegenseitigkeit verpflichtete Menschen haben sich die Führer der „Titanic" gewandt, sondern sie sandten ihre Botschaft in den Äther, der rings um den Erdball, der in Lüften und allen Dingen wallt. Überall, wo der stumme Ruf eintraf, fuhr er den Fremden in die Glieder, und eilends kamen aus weiter Ferne die Schiffe herbei, um die auf offenem Meer Gestrandeten zu retten. Die meisten kamen zu spät, die „Titanic" lag in ihrem nassen Grabe. Aber nicht auf Einzelheiten soll es hier ankommen, nicht das furchtbare Unglück soll erörtert werden, sondern der Wink und das Zeichen soll zu uns allen kommen: Das Feinste, was uns in der Welt umspült und durchdringt, das eigentlich völlig Unbekannte und nur aus Wirkungen Erschlossene stellen wir in unsern Dienst, um mit der Schnelligkeit des Blitzes miteinander zu verkehren, wir Menschen.

Wir sind so hilfsbereit bei elementarem Unglück, warum sind wir denn so wenig bereit, zu helfen und Schäden abzustellen, wenn es sich um das Leid handelt, das Menschen einander antun? 

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Warum vor allem sind wir so gefühllos oder geistlos, daß wir die wundervollen Techniken, die wir erfunden haben, um Arbeit zu ersparen oder Arbeit zu erleichtern, in ein System einordnen, in dem jede Arbeitsersparnis sich in Arbeitslosigkeit und ihre gräßlichen Folgen, fast jede Arbeitserleichterung in den wirtschaftlichen Kampf der Geschlechter gegen einander, wenn nicht gar in ausbeuterische Kinder­arbeit verwandelt? Warum sind wir in der Technik Meister und in der Ökonomie hilflose Pfuscher?

Als das elementare Unglück des Erdbebens von Lissabon geschehen war, richtete sich der Herr der Erde in der Gestalt Voltaires auf und fragte mit gen Himmel gerichtetem Blick: „Warum?" Und fand im Himmel und bei Theologen und Teleologen der Erde keine Antwort und gewöhnte sich an, immer weiter zu fragen: Warum? Warum regnet es ins Meer, wo so viele Länder verschmachten? Warum sind wir? Warum ist irgend etwas? Mitten aber unter diesen gehäuften Fragen hatte er auch andere nach dem Warum, ohne daß er und seine Zeit schon deutlich merken konnten, daß sie an eine andere Adresse zu richten waren und einen ändern Charakter trugen. Warum klagen wir immer über unsere Leiden und tun doch alles, sie zu vermehren?

Etwas anderes ist es um die Frage nach der Wahrheit der Welt; etwas anderes um die Frage nach dem Verhalten der Menschen. Das Wesen der Welt können wir nicht ändern; uns aber können wir ändern, wie man gemeiniglich sagt, es wäre besser zu sagen, daß wir anders sind, als wir uns geben, als wir uns verhalten, als wir uns selber betrachten.

Wollen wir nicht, so wie Voltaire den Optimismus aus Anlaß einer elementaren Katastrophe revidierte, die Lässigkeit und den Schlendrian und die Kraftlosigkeit, die Kräftevergeudung und den Kräftemißbrauch ernstlich prüfend betrachten, den wir selber begehen? Wollen wir es nicht in diesem Augenblick tun, wo der lautlose Notschrei der „Titanic" noch im Äther zittert und den fernsten Gestirnen eine Botschaft zuträgt, die sie nicht verstehen, die wir aber verstehen sollten? Die Botschaft von der verbindenden, heilenden und lebensfördernden Kraft unsres Geistes?

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Die Botschaft der „Titanic" kam dadurch zustande, daß wir Menschen gelernt haben, kosmische Bewegungs­vorgänge in den Dienst unsrer Sprache zu stellen. Die Philosophen lehren uns, daß alles, was wir Stoffe nennen, besser zu deuten ist als eine Art Bewegung, Kraft oder Beziehung. Jedenfalls ist sicher, daß es eine Menge „Dinge" gibt, die unsere Sprache zwar so hinspricht, als ob es Dinge, materielle Gegenstände wären, wo aber jede schlichte Besinnung jedem sagt, daß es Beziehungen sind.

Die Zustände oder Verhältnisse in unserm privaten, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben sind solche Beziehungen; die „Verhältnisse" sagen wir und benehmen uns, als wären das starre, auferlegte Lasten, Schicksalsdinge, die unabwendbar wären wie ein Stein, der vom Himmel fällt, oder die Erde, die unter unsern Füßen wankt; in Wahrheit sind die Verhältnisse ein bequemes Wort für die Art, wie wir uns zu einander verhalten, und um es uns noch bequemer zu machen, nehmen wir manchmal Fremdworte zu Hilfe, die uns noch besser dienen, den Ursprung der Substanzworte aus Bewegungsworten zu verdecken, und reden z.B. vom Staat, ohne daran zu denken, daß auch dieses Wort nichts anderes bezeichnet, als einen bestimmten Zustand öffentlich-rechtlicher Natur, in dem wir mit unserm Willen verharren.

Diese Bequemlichkeit ist ein großer Segen für unsere gemeine Verständigung, die ohne solche Verdinglichung des Flüssigen und Geistigen der Beziehungen nicht möglich wäre; sie ist von großem Übel für die Erkenntnis, weil wir das Hilfsmittel als bare Wirklichkeit nehmen, und sie ist von allergrößtem Übel für die Verständigung ungemeiner Art, die für unsre rechten Menschenbeziehungen in der Gesellschaft notwendig ist. Diese Bequemlichkeit der Zunge wird zu einer Bequemlichkeit und Trägheit des Herzens. Jakob Wassermann in seinem Kaspar Hauser hat uns ein Beispiel für diese Herzensträgheit gegeben, mit der sich die Menschen aneinander versündigen, ein Beispiel aus der privaten Sphäre.

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Am schlimmsten aber wirkt diese Erstarrung dessen, was Beziehung ist, in Wirtschaft und Gesellschaft. 

Wir nehmen, wie eben gesagt wurde, das Hilfsmittel der Beziehung als bare Dingwirklichkeit. Das Geld ist ein solches bares und blankes Scheinding, ein köstliches Hilfsmittel, wenn wir uns nur wieder darauf besännen, daß es nichts anderes ist als Beziehung oder verbindender Geist, ganz ebenso wie Kapital und Kredit.

Unsre Technik ist uns über den Kopf gewachsen, ganz wörtlich: es steckt nämlich viel mehr Verstand und Verständigung in diesen Erfindungen und Einrichtungen, als unsere Köpfe noch wissen. Alte Mythen gibt es, die starr geworden sind und nur Anekdote oder vertrocknetes Scheinding sind, bis ein Dichter kommt und einen so tief treffenden Sinn in sie hineinlegt, daß wir glauben möchten, er habe von je in dem Mythos gesteckt. So hat Goethe die Iphigeniensage, Kleist den Amphitryonstoff, so haben Schelling und Hegel die Dreieinigkeit wieder lebendig gemacht. 

Und so muß die Kraft des Geistes, der Phantasie, des Gefühls und der dichterischen Vision kommen, um unsre Technik, die ein monströser Mythos geworden ist

- Opfer fallen hier,
Weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört -

aus der Erstarrung zu erlösen und sie zu dem zu machen, was sie ist, obwohl wir es nicht wissen. Wir werden, trotz aller Sprachkritik, die Worte nicht abschaffen; und wir werden, trotz aller Gesellschaftskritik, auch die großen Einrichtungen Jahrtausende alter Tradition nicht abschaffen, und ebensowenig die neuen Erfindungen, die den Segen in sich bergen, obwohl wir so oft den Fluch aus ihnen holen. Aber so wie die Juden ihr Jubeljahr, wie die Griechen ihre Seisachtheia hatten, so lechzt unsre dürr gewordene Zeit nach der großen Erneuerung des Geistes, wo wieder uralte und echte Beziehung zwischen den Menschen wird, was jetzt ein Druck auf den Menschen ist, wo der Staat das öffentliche Leben der Menschen wird, wo die Technik das Hilfsmittel der Verbindung, der gegenseitigen Hilfe und der Erleichterung und Verschönerung des Lebens sein wird.

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Die Botschaft der Titanic ist nur eines von den vielen Zeichen, daß die Menschheit wird. Sie ist nicht, wahrlich nicht; aber sie ist leibhaftig im Werden. Von nichts können wir mit so großer Wahrscheinlichkeit, mit solcher Sicherheit sagen, daß das etwas ist, was unserer Zeit vorbehalten ist und was nie vorher gewesen ist, wie von der Menschheit als Wirklichkeit der Beziehung und Zusammengehörigkeit. Die Menschheit, die Zusammenfassung der Völker des Erdenrundes, ist von der Technik als Wirklichkeit geschaffen worden, so wie sie Jesus von Nazareth für unsern Geist als Forderung geschaffen hat. Als der Geist da war, fehlte die Wirklichkeit, wo die Wirklichkeit da ist, soll nun der Geist fehlen? Er fehlt, solange die Menschheit nicht in den Völkern, in den Gemeinden, in den Herzen und Köpfen der Individuen lebt.

 

Als die Nachricht von der Not und dem Notschrei der „Titanic" fast gleichzeitig auf dem ganzen Erdenrund bekannt wurde, las diese nämliche sogenannte Menschheit zugleich die Nachricht von der schroffen Note der Vereinigten Staaten von Nordamerika an Mexiko, las davon, daß der Revolutionsgeneral Orozco die Nordamerikaner, die er zu Gefangenen mache, erschießen lassen wolle, und daß der Befehlshaber der regulären Truppen mit der Drohung geantwortet habe, dann werde er eben desgleichen seine Gefangenen ohne Verzug in den Tod befördern.

Eine Wiederholung also des furchtbaren Versuchs aus dem Kampf zwischen Versaillern und Pariser Kommune, durch Erschießung von Gefangenen und Geiseln die Gegner zur Nachgiebigkeit zu nötigen; ein gegenseitiger Versuch, die Menschlichkeit des andern durch die eigene Unmenschlichkeit zu erzwingen. 

Und als Unmenschlichkeit in dritter und vierter Potenz kommt dazu, daß die Einmischung der Union, die sich auf Völkerrecht und Humanität zu stützen vorgibt, lediglich gewalttätigen Eroberungsgelüsten entstammt und daß auch diese politischen Gründe noch einmal Hintergründe haben: die Finanzinteressen einiger Milliardärgruppen.

Das alles sofort zu erfahren, hat der Geist der Menschheit Mittel geschaffen. Das Mittel, es alles sofort zu verhindern, hat er von je. Dazu brauchen wir nichts Kunstreiches zu erfinden; wir müssen nur wiederfinden, was unverlierbar in uns ist, was wir selber sind: das Band und das wahrhafte Leben des Geistes. Unrecht leben ist unrichtig leben, verkehrt leben ist den Tod leben. Daß wir tapfer und herzhaft daran gehen, das Leben zu leben, das Leben der Menschheit, dazu sei uns ein Wink die Botschaft der „Titanic".

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E n d e

 

 

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