Geleitwort 1992 von Federico Mayor
UNESCO-Generaldirektor von 1987 bis 1999
wikipedia
Federico Mayor *1934 in Barcelona (Biologe)
9-14-22
Der vorliegende Report beleuchtet die Lage der Welt aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Egal, ob der Leser nun mit Ervin Laszlos evolutionärem Modell über den Fortschritt der ganzen Menschheit übereinstimmt oder nicht, keiner von uns kann die unheilvollen Trends leugnen, die Laszlo als Hinweise für unsere Zukunft deutet. Wer schließlich möchte schon in solch einer Welt leben?
Die Bevölkerungsexplosion mit ihren Folgen, die Vergiftung unserer Gewässer und der Atmosphäre, die Lücken in der Nahrungskette sollten eigentlich an oberster Stelle in den Tagesplänen unserer Gemeinschaften stehen. Und dennoch sind diese Themen - so eng sie beispielsweise auch mit dem Welthunger und der Armut verknüpft sind - nur selten Tagesgespräch in politischen Kreisen, geschweige denn in Maßnahmenkatalogen enthalten.
Wenn die Wurzeln dessen, was Laszlo gemeinhin als die fünf Schockwellen bezeichnet, tatsächlich in unseren veralteten und überholten Wertvorstellungen liegen, so haben wir die gegenwärtige Herausforderung, nämlich das Umdenken, in hohem Maße den globalen Problematiken wie der Bevölkerungsexplosion, der Armut, der Umweltverschmutzung, der Klimakatastrophe und ähnlichen Desastern zu verdanken.
Anscheinend fehlt dem Menschen die Fähigkeit, vorauszuplanen. Schließlich hat Rachel Carson bereits vor mehr als 40 Jahren ihr Buch <Silent Spring> verfaßt, und die ersten Anzeichen für das Ozonloch wurden bereits Anfang der siebziger Jahre beobachtet. Auf die immer raschere Zunahme ökologisch gefährlicher Trends hat die Weltgemeinschaft viel zu spät reagiert. Wir schrecken erst dann hoch, wenn die Gefahr scheinbar an uns vorübergezogen ist. Wir schaffen es gerade, mit den Ereignissen um uns herum Schritt zu halten, aber einen Vorsprung zu erhaschen ist uns anscheinend nicht möglich.
Unser Jahrhundert begann, wie es Laszlo treffend beschreibt, mit bahnbrechenden Erfindungen, die das Begreifen der Natur und der Menschheit in nichtlineare, nichtmechanische Bahnen lenkten. Wie H. Stuart Hughes in seinem Buch »Consciousness and Society« schrieb, ist für die Jahrhundertwende die Abkehr von Newton und Darwin bezeichnend. Neue Welten taten sich auf, die von Einsteins Relativitätstheorie, aber auch Freuds und Jungs Einsichten über die verborgenen Quellen unserer Kraft, nämlich das Unterbewußtsein, geprägt wurden. Diese beiden Weltbilder verschmolzen insofern, als sie sich beide darauf stützten, daß logisches Denken und Handeln nur durch eine gewisse Selbstkenntnis und ein bestimmtes Handlungspotential ermöglicht werden, neben denen selbst jahrelange politische oder akademische Erfahrungen verblassen.
Es ist eine Schande für die gesamte Menschheit, daß wir so lange brauchen, um die uns umgebenden sozialen Ungerechtigkeiten und all ihre Gefahren, die auch unser Leben bedrohen, zu erkennen. Ich glaube aber dennoch daran, und das ist jetzt keine beschwichtigende Floskel, sondern ernst gemeint, daß es uns gelingen wird, die entscheidende Wende in unserer Wahrnehmung und Sichtweise zu vollziehen. Wir werden lernen, selbst gewohnte und vertraute Tatsachen in Frage zu stellen und unsere Unsensibilität zu überwinden.
Diese Revolution unseres Denkens und unserer Wahrnehmung wird uns befähigen, die fünfte Schockwelle wie auf einem Surfbrett zu bewältigen. Mit Hilfe von »tiefschürfenden Geistesblitzen« werden unsere ethischen Grundlagen und Moralvorstellungen erschüttert. Wir werden uns aufbäumen gegen unnötige Armut und unnötiges Leid, gegen leicht vermeidbare Ignoranz und jede Form von Extremismus und gegen krankhafte Wahrnehmungs- und Entscheidungsmuster, die uns blind machen für die Trends, die sich bereits jetzt in unseren Gemeinden oder im Privatleben abzeichnen.
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In allen Bereichen des menschlichen Daseins finden sich Beispiele für die emotionale und intellektuelle Distanz, mit der wir uns umgeben. Der Kapitalfluß verläuft nicht von den reichen zu den armen Ländern, sondern genau umgekehrt. Jährlich fließen rund 60 Milliarden Dollar von Süden nach Norden, um die Schulden zu tilgen und neue Waren kaufen zu können. Die Abwanderung von Wissenschaftlern ins Ausland erstickt die Hoffnungen der ärmsten Länder auf eine bessere Welt im Keim. Vom gleichen Phänomen bedroht zeigen sich auch die zerbrechlichen Demokratien in Ost- und Zentraleuropa. Ohne Investitionen und aktive Hilfeleistungen, die fein säuberlich auf die jeweiligen kulturellen Bedürfnisse und sozialen Wertvorstellungen abgestimmt sind, werden die Entwicklungsländer noch tiefer in den Strudel von Armut und Instabilität hineingezogen.
Die größte Völkerbewegung unserer Zeit war die Landflucht, als rund 10 Millionen Menschen ihre Dörfer im Stich ließen und sich auf die Suche nach gutbezahlten Arbeitsplätzen machten und dafür sogar das Leben in Baracken in Kauf nahmen. Doch wer bestellt jetzt unsere Felder, produziert unser Essen und kümmert sich um Mutter Natur?
Sogar in den Industriestaaten zeigt sich ein trostloses Bild: Die Schul- und Bildungseinrichtungen sind dem Chaos ausgesetzt, die Jugend ist orientierungs- und mutlos, und die Anzahl der Drogentoten und AIDS-Erkrankten steigt ins Uferlose.
Die Umweltproblematik kennt keine Grenzen, weder nationale noch regionale, sie betrifft uns alle, ob arm oder reich. Auch wenn die militärische Bedrohung eines nuklearen Holocausts an Brisanz verloren hat, scheint die Sicherung des Weltfriedens an die unterste Stelle gerückt zu sein, was sich auch daran zeigt, daß versucht wird, zivile Konflikte durch militärische Maßnahmen, sprich modernste Waffentechnologien und ausgebildete Soldaten, beizulegen.
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In all diesen Bereichen lassen wir uns treiben und legen eine schicksalsergebene Haltung an den Tag.
Das einzige, was wir mit diesem Verhalten erreichen, ist, daß wir unseren Kindern und Kindeskindern eine kranke und kaum mehr lebensfähige Welt hinterlassen.
Unser Alltagsleben, das durch unser wachsendes Spezialistentum, durch das Zurückziehen der Bürger in ihr kleines Kämmerlein, durch die scheinbar so sicheren bürokratischen und institutionalisierten Strukturen unseres Berufslebens und unserer Freizeit gekennzeichnet ist, dient mehr und mehr als Schutzschild, das uns vom Handeln, vom schnellen Handeln abhält.
Als erstes müssen wir gegen die Vorurteile in unseren Herzen rebellieren. Das schlimmste Vorurteil ist diese wispernde Stimme in unserem Inneren, die uns monoton vorsäuselt, daß die Dinge so sind, wie sie sind, weil sie so sein sollen. Diese innere Stimme lullt unseren Verstand und unser Gefühl derart ein, daß wir gar nicht anders können, als die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist. Diese Art von mechanistischem, ins Gegenteil verkehrten Marxismus macht uns glauben, daß eigentlich alles in Ordnung ist und daß auch am anderen Ende der Straße keine Gefahr auf uns lauert.
Vor rund 75 Jahren wurde mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs für die Westeuropäer das Ende der schönen Zeit eingeläutet. Die gebildetste Generation der Menschengeschichte zog zu Zehntausenden aus, um in verheerenden Schlachten und in den Schützengräben ihr Leben zu lassen. Der Erste Weltkrieg hinterließ viele Narben und beeinflußt bis heute den politischen Alltag. Einfache Antworten auf schwierige und komplexe Fragen bildeten das ideologische Gerüst nicht nur für alle Formen des Extremismus, sondern auch für die allgemeine politische Überzeugung des Otto Normalverbraucher. Die Ergebnisse sind weder vom Naturwissenschaftler noch vom Politikwissenschaftler als befriedigend zu bezeichnen.
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Das Prinzip der Führung beruht einerseits darauf, daß die ganze Gesellschaft das Gefühl der Komplexität teilt und sich andererseits solidarisch mit den oft nicht einfachen Problemen auseinandersetzt. Dies gilt für Schüler genauso wie für Studenten. Auch in der politischen Arena hat sich dieses Prinzip nur selten durchgesetzt. Lehrende und politisch Verantwortliche sollten gleichermaßen den Mut und die Geduld aufbringen, die Gegenwart zu hinterfragen, die ideologisch verzerrte Meinungsbildung zu entlarven und den freien und aus sich selbst motivierten Menschen die weitgefächerten Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentfaltung vorzuführen.
Solange wir Menschen nur nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung im Hier und Jetzt streben, ohne die Konsequenzen dieser egoistischen Haltung zu bedenken, wird die Stimme der unbequemen Wahrheit im Nichts verhallen, der große Traum von einer besseren Welt wird zerplatzen, und wir werden nach wie vor im Schlamm feststecken.
Aus diesem Grund werden Bücher wie der Laszlo-Report verfaßt, die die Menschheit aufrütteln wollen und neue Lösungen anbieten. Unsere Gesellschaften, Institutionen, aber auch wir alle sind aufgerufen, uns dieser Herausforderung zu stellen, wenn wir verhindern wollen, daß das evolutionäre Modell von Laszlo nicht letztendlich scheitert und wir das größte Versagen aller Zeiten erleben.
Die Antwort heißt, wie es Laszlo treffend formuliert, Erziehung und Bildung, die sich wie ein roter Faden durch unser ganzes Leben zieht. Wir müssen lernen, bewußt zu leben, unsere ureigene Kreativität voll auszuleben und auszuschöpfen, wir müssen unser nationales, aber auch internationales Erbgut schützen und lernen, daß wir nicht nur das teilen, was wir selbst geschaffen haben oder was uns geschenkt wurde, sondern auch das weitaus wichtigere und doch kaum beachtete Projekt unserer gemeinsamen Zukunft.
Unsere Stärke liegt nicht darin, nur Ängste und Zweifel zu teilen, sondern gemeinsame ethische Prinzipien zu verinnerlichen. Die kulturelle und bildungsmäßige Gleichstellung aller Völker entreißt uns die Scheuklappen, die unsere Wahrnehmung behindern, führt zu einer neuen Haltung gegenüber anderen menschlichen Gemeinschaften und zur Natur und stößt die Türen auf, damit wir das gemeinsame Unternehmen Zukunft auf positive und aktive Weise in Angriff nehmen. Mit diesen Modalitäten werden wir zu aktiven Bürgern und entscheidungsfreudigen Politikern. Die Gründer der UNESCO haben an dieses Zukunftsbild geglaubt, und dieser Glaube wird es sein, der uns und unsere Kindeskinder befähigt, die fünfte Welle zu bewältigen.
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Federico Mayor, UNESCO-Generaldirektor
Vorwort 1994 von Ervin Laszlo zum Taschenbuch
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Es ist mir eine besondere Freude, ein Vorwort zur aktuellen Taschenbuchausgabe des Laszlo-Reports zu verfassen. Die Argumente, die in meinem Report zur Sprache kommen und die ich ausführlich erläutere, sind Mitte der neunziger Jahre aktueller als je zuvor, sie sind nahezu lebenswichtig geworden.
Obwohl wir Europäer es gewohnt sind, den Dingen des Lebens auf den Grund zu gehen, scheuen wir uns dennoch oft, die dabei aufgeworfenen Fragen konsequent zu Ende zu denken.
So diskutieren wir beispielsweise über die Verlagerung von Produktionsstätten und Arbeitsplätzen ins Ausland unter der Voraussetzung, daß wir wie in der Vergangenheit ein ständiges Wirtschaftswachstum benötigen. Doch das Problem, ob wir dieses Wachstum überhaupt zulassen können und sollen, wird dabei nicht erörtert. Die entscheidende Frage lautet, ob die Fortsetzung des kontinuierlichen Wachstums in unserer jüngsten Vergangenheit auch in Zukunft noch erstrebenswert ist.
Natürlich ist die Infragestellung gewohnter Lebens- und Verhaltensweisen ein sehr radikaler Schritt. Aber dieser Schritt ist unumgänglich. Wir stehen vor der wichtigsten Entscheidung seit Menschengedenken, denn wir haben die Wahl zwischen einer Fortführung der Evolution und dem Ende der Menschheit.
Im kommenden Jahrzehnt stehen uns beide Möglichkeiten offen. Welchen Weg wir einschlagen, hängt von uns ab oder vielmehr davon, wie wir mit zwei grundsätzlichen Entwicklungen umgehen. Die eine ist die zunehmende Belastung unserer lebenswichtigen Umwelt durch die intensive Nutzung von Energie- und Rohstoffressourcen, von Äckern, Feldern und Wäldern und des bewohnbaren Raums. Die andere ist das explosionsartige Wachstum der Weltbevölkerung.
In der Wechselwirkung dieser beiden Entwicklungen zeigt sich die Belastung der Umwelt: Die Größe der Weltpopulation multipliziert mit dem jeweiligen Rohstoffverbrauch und dem anfallenden Abfall sowie der verursachten Umweltverschmutzung könnte in den nächsten zehn Jahren einen kritischen Wert erreichen.
Es ist uns allen nichts Neues, daß ein begrenztes System nicht unbegrenzt wachsen kann. Unser Planet mit begrenztem Raum und begrenzten Ressourcen kann eine beständig ansteigende Belastung durch den Menschen nicht tragen. Seit der Veröffentlichung des ersten Berichts des Club of Rome im Jahre 1972 (»Die Grenzen des Wachstums«) ist diese Tatsache vielen bekannt, wenn sie auch nicht gerne gehört wird.
Viele Bürger der Industrienationen beruhigten sich mit der Überlegung, daß »äußere Grenzen« wohl nur theoretisch vorhanden seien - das heißt, entweder wurden die absoluten Grenzen des Wachstums gänzlich bestritten oder als abstrakte Gefahr, die uns alle nicht betrifft, abgetan. Dieser Einstellung zufolge lag es also durchaus im Bereich des Möglichen, daß sich unsere Generation und auch die unserer Kinder innerhalb der globalen Grenzen weiterentwickelt und diese durch die Schaffung neuer und effizienterer Technologien und die Nutzung von neuen Energiequellen und unangetasteten Rohstoffen sogar noch weiter ausdehnt.
Diese Einstellung schien in den siebziger Jahren gerechtfertigt, und 20 Jahre - geprägt von Wirtschaftswachstum und sozialer Entwicklung - dienten als Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme. Gleichwohl leitet sie uns in die Irre, da sie die Tatsache ignoriert, daß wir in einem fein abgestimmten sozialen, ökonomischen und ökologischen System leben, in dem Belastungen und Erschütterungen plötzliche schwerwiegende Veränderungen, sogenannte nichtlineare »Bifurkationen«, auslösen können. [ wikipedia Bifurkation Gabelung]
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Vieles spricht dafür, daß wir bereits im nächsten Jahrzehnt ein derartiges Stadium erreichen werden. Wir nehmen immer mehr Lebensraum ein, unser Energie- und Rohstoffverbrauch sowie die Weltbevölkerung steigen ständig exponentiell an. Ändert sich unser derzeitiges Verhalten nicht rechtzeitig, werden im Jahre 1998 bereits sechs Milliarden Menschen unseren kleinen Planeten bevölkern. Und all diese Menschen sind bestrebt, den Lebensstandard eines typischen Europäers oder Amerikaners zu halten beziehungsweise zu übernehmen. Die Konsequenz wäre jedoch, daß sich der stabile und lineare Wachstumstrend, den wir alle so gut kennen, in eine instabile und nichtlineare Tendenz umkehrt.
Dieses Phänomen bezeichne ich im vorliegenden Buch als »die fünfte Welle« - die wohl größte Erschütterung eines ereignisreichen Jahrhunderts. Die fünfte Welle zeichnet sich bereits am Horizont ab. Sie wurde unter anderem durch den Verbrauch von nonregenerativen Ressourcen ausgelöst, aber auch durch die gigantische Müllproduktion, wobei das Recycling zu einem großen Teil nicht realisiert wurde und sich der Abfall nun in riesigen Bergen anhäuft. Die Folge davon ist eine starke Beeinträchtigung der für den Menschen lebensnotwendigen Verhältnisse auf unserem Planeten.
Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann beide Faktoren, nämlich die steigende Belastung und die absinkende Regenerationsfähigkeit unserer Umwelt, aufeinanderprallen. Des weiteren kann die zunehmende Nachfrage nach Ressourcen nicht mehr befriedigt werden, wodurch das Leben von Millionen Menschen auf die bloße Existenz reduziert werden wird. Somit steuert die fünfte Welle auf einen Punkt zu, an dem eine globale Instabilität eintreten wird.
Das Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den vorhandenen Ressourcen unseres Planeten hängt natürlich zum einen von der Art der eingesetzten Technologien und zum anderen von der Art der Nachfrage ab.
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Die notwendige Ausgewogenheit wird nicht nur dadurch bestimmt, wie intensiv, sondern auch wie effizient die verfügbaren Ressourcen genutzt werden. Würden alle modernen Menschen den Lebensstil von Lucy - dem berühmten anthropoiden Wesen aus Afrika, von dem behauptet wird, es sei unser gemeinsamer Vorfahre - übernehmen, könnten etwa 50 bis 100 Milliarden Menschen die Erde bevölkern. Das wären also weit mehr Menschen, als für das 21. Jahrhundert vorausgesagt werden. Leider aber führen wir modernen Menschen ein völlig anderes Leben als Lucy. Wir leben wie die Ngos in Nigeria, die Singhs in Indien, die Itos in Japan, die Jones in Amerika und die Maiers in Deutschland. Die Kapazitäten der Erde reichten aus, um rund 15 Milliarden Menschen den Lebensstandard der Ngos und Singhs zu ermöglichen.
Würden aber sechs Milliarden Menschen so leben wollen wie die Jones oder die Maiers, wäre unser Planet am Ende.
Ein Amerikaner oder Europäer wird im Durchschnitt etwa 80 Jahre alt und verbraucht während seines Lebens 800.000 Watt elektrischer Energie, 200 Millionen Liter Wasser, 21.000 Tonnen Benzin, 100.000 Pfund Stahl, das Holz von 1000 Bäumen und erzeugt 60 Tonnen städtischen Abfall. Unser Planet kann jedoch nur etwa 1,8 Milliarden Menschen einen derartig von Konsum und Verschwendung geprägten Lebensstandard ermöglichen.
Dies ist zweifelsohne ein Punkt, über den wir nachdenken müssen. Wie können wir das katastrophale Ausmaß der fünften Welle verhindern? Verändern wir Bürger der Industrienationen unsere Lebensgewohnheiten nicht, entziehen wir damit unseren Mitmenschen die Chance, ebenfalls ein Leben in Wohlstand zu führen. Doch gerade die ärmsten zwei Milliarden der Weltbevölkerung sind darauf angewiesen, ihre materielle Situation zu verbessern, da sie derzeit am Rande des Existenzminimums leben. Wenn wir verhindern wollen, daß diese überwiegend in der afrikanischen Subsahara und in Südasien beheimateten Menschen aufgrund von Schwäche, Hunger und Krankheiten zum Tode verurteilt sind, ist es unsere Pflicht zu handeln.
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Wir müssen ökologische und ökonomische Bedingungen schaffen, die ihnen die Versorgung mit Nahrung und Wasser sichern, damit sie ihren Lebensraum, ihre Wälder, Rohstoffe und Energiequellen sinnvoll nutzen können und damit die Luftverschmutzung so niedrig wie möglich bleibt. Gleichzeitig haben wir dafür Sorge zu tragen, daß ein Mindestmaß an Bildung gewährleistet ist. Denn eine ausreichende Bildung ist eine der Grundvoraussetzungen für ein verantwortungsvolles Leben in einer verletzlichen und interdependenten Welt.
Andererseits könnten die Ärmsten dieser Welt sehr wohl am allgemeinen Ressourcenverbrauch teilnehmen, aber nur, wenn die Weltpopulation drastisch reduziert würde. Dies ist jedoch weder durchführbar noch sinnvoll. In den Entwicklungsländern leben so viele junge Menschen (die Hälfte aller Afrikaner ist noch keine 15 Jahre alt), daß auch dann mehrere Generationen gleichzeitig leben würden, wenn keine Familie mehr als zwei Kinder hätte - und auch damit stiege die Weltpopulation weiterhin an.
Nur die Einhaltung der Regel »ein Kind pro Familie« könnte die weltweiten demographischen Tendenzen nachhaltig beeinflussen. Es gilt allerdings als sehr unwahrscheinlich, daß sich diese Regel durchsetzen läßt, und selbst dann würden mindestens sechs Milliarden Menschen die Welt bevölkern. Im Klartext heißt das, daß mehr als dreimal soviel Menschen unseren heute gewohnten Lebensstandard wünschen. Dies ist von den verfügbaren Ressourcen her allerdings unmöglich.
Würden sechs Milliarden Menschen unseren jetzigen Lebensstandard übernehmen, wären bald die Grenzen unseres Planeten erreicht. Diese Grenzen sind jedoch keine festen Betonwände, gegen die wir prallen, wenn wir nicht rechtzeitig abbremsen, sondern Faktoren, die die Stabilität eines komplexen Systems bedrohen und die in Experimenten nachgewiesen werden konnten.
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Dabei befanden sich solche Systeme in einem Zustand, der alles andere als ausbalanciert war. Stoßen die Systeme an die Grenzen ihrer Stabilität, dann werden sie chaotisch. Hier bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder die Neuorganisierung der Subsysteme gelingt, oder es brechen Chaos und Anarchie aus. Dieser Vorgang ist mittlerweile ein gewohntes Bild für uns. Denn genau die letztere vollzog sich vor kurzem in Rußland und Osteuropa. Der endgültige Ausgang des dort nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes herrschenden Chaos steht noch immer nicht fest. Es wäre geradezu irrsinnig, das ganze Weltsystem an den Rand einer ähnlichen Instabilität zu bringen. Damit würden Massenemigrationen, der Zusammenbruch von Kommunikation und eine Verknappung der Ressourcen heraufbeschworen, und die bereits jetzt angeschlagenen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systeme würden in ihren Grundfesten erschüttert.
Wir Europäer müssen diesen Tatsachen ins Auge blicken und die nötigen Konsequenzen ziehen. Es ist weder moralisch vertretbar noch sinnvoll, den armen Ländern die Rolle des Sündenbocks zuzuschieben. Auch wenn sie nach bestem Wissen und Gewissen handeln würden, stiegen ihr Anteil an der Weltbevölkerung und ihr Ressourcenverbrauch weiterhin an.
Betrachten wir also den zweiten Faktor, der so entscheidend für ein ausgewogenes Verhältnis auf unserer Erde ist und der letztendlich die fünfte Welle bestimmt. Ich halte es für unumgänglich, die Belastung unseres Planeten zu reduzieren. Und genau in diesen Bereichen liegt ein immens großer Handlungsspielraum für die Maiers dieser Welt. Keine Frage, alle Menschen brauchen Nahrung, ein Zuhause, Arbeitsplätze und ein Mindestmaß an Bildung - hier läßt sich wohl kaum der Rotstift ansetzen, um den Verbrauch an Ressourcen zu drosseln.
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Doch sieht man einmal von diesen Grundbedürfnissen ab, bietet sich eine Vielfalt an Möglichkeiten. Der Westen könnte zwischen mehreren Lebensstilen wählen und brauchte dennoch nicht auf seinen Wohlstand zu verzichten, denn die Lebensqualität hängt nicht unbedingt mit einem hohen materiellen Standard zusammen. Ganz im Gegenteil, Konsum im Übermaß ist gesundheitsschädlich und löst nicht nur die altvertrauten Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs aus, sondern ist gleichzeitig Ursache der bestehenden Umweltverschmutzung. Erkenntnissen vieler Untersuchungen und Meinungsumfragen zufolge läßt sich der individuelle materielle Lebensstandard bei gleichzeitig steigender Lebensqualität durchaus senken. Doch trifft es wirklich zu, daß sich ein veränderter Lebensstil der Maiers (und der Jones und Itos) auch auf das Leben der Singhs und 'Ngos auswirkt?
Diese Frage läßt sich mit höchster Wahrscheinlichkeit bejahen. Solange wir unseren Privatwagen zum Einkaufen benutzen und das Auto unverzichtbarer Bestandteil unserer Freizeitvergnügungen bleibt - und solange wir mit dem Auto zur Arbeit fahren, obwohl öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung stehen -, wollen auch die materiell schlechter Gestellten ihren eigenen Wagen, um ihn für den gleichen Zweck zu nutzen. Mehr als eine Milliarde Chinesen sind dabei, diesen Traum der Unabhängigkeit in die Tat umzusetzen.
Solange wir Fleisch- und Wurstwaren konsumieren und einen Großteil der Nahrungsmittel an Nutz- und Haustiere verfüttern, werden auch die anderen diesen Luxus genießen wollen. Die daraus resultierende Nachfrage nach Getreide überstiege aber bei weitem die weltweit mögliche Produktion.
Solange die Unternehmen und Haushalte mit Strom versorgt werden, der mit Hilfe von non-regenerativen und umweltbelastenden fossilen Brennstoffen erzeugt wird oder aus gefährlichen Atomreaktoren stammt, fordern auch die Entwicklungsländer ihren Anteil am vielgelobten, jedoch äußerst zweifelhaften Nutzen dieser Technologien. Gleichwohl bringen wir kein Opfer, wenn wir saubere und regenerative Energiequellen nutzen, auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen und nur Frischwaren zu uns nehmen, denn diese Lebensweise ist immer noch gesünder, als in verstopften Straßen mit dem Auto festzusitzen, an einem zu hohen Cholesterinspiegel oder an Bluthochdruck zu leiden und verschmutzte Luft atmen zu müssen.
Das alte Modell eines westlichen Wohlstandslebens hat ausgedient. Wir brauchen ein neues Modell, dessen Anwendung im Westen genauso sinnvoll ist wie - unter entsprechender Anpassung an die Umstände - in allen übrigen Ländern.
All dies gibt uns nicht nur genügend Stoff zum Nachdenken, sondern auch die nötige Motivation, um aktiv zu werden. Ein komplexes System an den Grenzen seiner Stabilität ist hoch sensibel. Für Physiker, die sich der Chaosforschung widmen, ist klar, daß sogar kleine »Schmetterlinge« die Auslöser dafür sein können, daß komplexe Systeme in völlig neuartige Funktionsweisen abdriften. Die Schmetterlinge von heute sind die aufkeimenden Gedanken einzelner, die in sinnvolles Verhalten umgesetzt werden. Diese »sanften« Faktoren, wie zum Beispiel unsere Überlegungen, welche Art von Wachstum in unserer heutigen Zeit überhaupt noch tragbar ist, können sich zu den »härtesten« Faktoren entwickeln und über unsere Zukunft entscheiden.
Der Laszlo-Report widmet sich genau diesen Themen. Ich wünsche mir, daß diese erweiterte und aktualisierte Taschenbuchausgabe des Heyne-Verlags einen kleinen, aber wesentlichen Beitrag leistet zum Umdenken, auf das wir, sowohl zum Wohlergehen des einzelnen, aber auch zum Überleben der gesamten Menschheit, alle angewiesen sind.
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Ervin Laszlo
Montescudaio (Toskana)
Frühjahr 1994
Geleitwort und Vorwort