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1. Drei Pioniere  

 

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Pioniere bewegen sich meist außerhalb der »Norm«. Was der Mehrheit kaum je einfallen würde und von einer kleinen Minderheit nur gedacht wird — der Pionier tut es. Er verläßt den Bereich der praktischen Erfahrung, stößt ins Unbekannte vor und bewegt sich im Neuland. Wenn er dort nicht Schiffbruch erleidet, sondern Erfolg hat, verändert er die Welt. Er verschiebt die Grenzen dessen, was wir für »machbar« halten.

Von Pionieren soll im folgenden zunächst die Rede sein. Es handelt sich um drei Betriebe, die besonders konsequent neue Formen der Arbeitsgestaltung und der Mitwirkung der Mitarbeiter bei den Entscheidungen entwickelt haben. Es sind drei Produktionsbetriebe, und die Bedingungen, unter denen sie geplant und eingerichtet wurden, lassen sich nicht auf die normalen Verhältnisse in der Industrie übertragen. Es geht hier auch nicht darum, Einzelbeispiele zu idealisieren oder gar zu allgemeingültigen Modellen hochzustilisieren. Es ist ganz einfach interessant, einen Blick hinter die Kulissen von drei Betrieben zu tun, die gewissermaßen das obere Ende dessen markieren, was zur Zeit irgendwo in der Wirtschaft an betrieblicher Partnerschaft verwirklicht ist.

Aufbau von Partnerschaft heißt in der Praxis nichts anderes als Abbau von Hierarchie. Dies ist nicht von vornherein gleichbedeutend mit »Chaos« oder »Strukturlosigkeit«. Aber es bedeutet mehr als einfach einen netten Umgangston. Es bedeutet eine Abkehr von eingleisigen Mechanismen der Meinungs- und Entscheidungsbildung. Es bedeutet eine breitere Verteilung des Einflusses auf die Gestaltung der täglichen Zusammenarbeit und der gemeinsamen Zukunft.


Topeka — Ein großer Schritt

 

Im Jahre 1968 begann der amerikanische Konzern General Foods mit der Planung eines neuen Tierfutterwerkes in Topeka, Kansas — einem Betrieb, der Geschichte machen sollte. Wie so oft, wenn etwas Besonderes entsteht, wurde die Idee dazu buchstäblich aus der Not geboren. Das alte Werk befindet sich in Kankakee, Illinois. In diesem Betrieb hatte das Management bittere Erfahrungen gemacht. Man hatte hier ungefähr das gesamte Spektrum aller bekannten Symptome der »Entfremdung« oder, wie wir sagen würden, der Unzufriedenheit in der Belegschaft kennengelernt. 

Der Personalwechsel war extrem hoch. Die Abwesenheitsrate gehörte zu den höchsten im Konzern. Gleichgültigkeit und mangelnde Aufmerksamkeit der Mitarbeiter führten immer wieder zum Erliegen der Fertigung. Kostspieliges Wiederanfahren der Anlagen, hoher Produktionsausschuß und unbefriedigende Kapazitätsauslastung beeinträchtigten in gravierendem Maße die Produktivität. Die Belegschaft widersetzte sich systematisch allen Neuerungen zur besseren Nutzung der Arbeitskraft. Es kam verschiedentlich zu schweren Disziplinarfällen und sogar zu kollektiven Sabotageakten. Der schlimmste davon erschütterte das Management bis hinauf auf höchste Konzernebenen: Die Mitarbeiter hatten den Rohstoffen mit voller Absicht grüne Farbe beigemischt und dadurch eine ganze Tagesproduktion vergiftet.

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Dieses Ereignis wurde zum Signal. Es führte zur Entscheidung, ein neues Werk zu errichten, das nach modernsten verhaltenswissenschaftlichen Gesichts­punkten geplant werden sollte. Eine Projektgruppe wurde ins Leben gerufen und mit einigen sorgfältig ausgewählten Managern bemannt. Dieses Team unterhielt sich eingehend mit wissenschaftlichen Experten. Um das nötige Vertrauen in die Brauchbarkeit sozialwissenschaftlicher Konzepte zu gewinnen, besuchte es eine Reihe von Unternehmungen verschiedenster Branchen, in denen erfolgreich mit neuen Ideen experimentiert wurde. Die Planung von der grünen Wiese bis zur Inbetriebnahme im Januar 1971 dauerte rund zwei Jahre.

 

Betriebs-Prototyp für morgen  

Das neue Werk weist nun eine ganze Reihe von besonderen Merkmalen auf, die zum Teil stark von dem abweichen, was in der Industrie üblich ist. Das Auffallendste an der neuen Organisation sind sogenannte »autonome« Gruppen, also Arbeitsgruppen, die nicht durch einen Vorgesetzten geleitet werden, sondern ihre Arbeit selbständig planen, ausführen und kontrollieren. Grundlage der Steuerung und der Koordination ist das Gespräch. Man stimmt sich gegenseitig ab durch Diskussion in der Gruppe.

Die Belegschaft von 70 Personen ist in sechs selbständige Arbeitsgruppen von sieben bis 14 Mann aufgeteilt: je ein »Prozeß-« und ein »Verpackungsteam« in drei Schichten. Die Prozeßgruppen sind verantwortlich für das Vorbereiten der Rohstoffe und für die verschiedenen Misch- und Verarbeitungsvorgänge bis zum fertigen Produkt; die Verpackungsgruppen für Produktfinish, Verpackung, Lagerung und Versand. Die Arbeitsgruppen dürfen nicht zu klein sein, denn sie müssen ein ganzes Paket von verschiedenen, sinnvoll ineinandergreifenden Aufgaben erfüllen können. Sie dürfen aber auch nicht zu groß sein, damit in der Gruppendiskussion jeder zum Zuge kommt und der Prozeß der gemeinsamen Entscheidungsbildung flüssig vonstatten geht.

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Die Gruppen haben einen hohen Selbständigkeitsgrad. Sie sind nicht nur für die individuelle Aufgabenzuteilung und für die Qualitätskontrolle verantwortlich, sondern »organisieren« sich im weitesten Sinne des Wortes selbst. Sie wählen ihre Gruppensprecher, sie delegieren Mitglieder in Arbeitsgruppen auf Betriebsebene, sie führen die Auswahl- und Einstellungsgespräche mit Neueintretenden. Das Team berät praktisch täglich über alle Fragen der Arbeitsplanung und -durchführung und »erzieht« auch selbständig diejenigen Mitglieder, die etwa hinsichtlich Abwesenheiten oder kollegialer Hilfsbereitschaft nicht ganz der Gruppennorm entsprechen.

Generalisten statt Spezialisten

In dem neuen Werk findet man keinen Klempner, keinen Mechaniker, keinen Qualitätskontrolleur, keinen Gabelstaplerführer, keinen Hilfsarbeiter, keine Putzfrau. Stabsabteilungen und Spezialfunktionen sind — wo irgend möglich — vermieden. Reinigung, Unterhalt, Qualitätskontrolle, Wachdienst, Organisation und sogar Personalwesen sind ganz oder teilweise in den Verantwortungsbereich der Gruppen eingebaut.

Dies hat zwei gute Gründe. Zum einen werden die Aufgabenbereiche mit interessanten Funktionen angereichert. Dies bedeutet: mehr Abwechslung für die Mitarbeiter und mehr Entscheidungsspielraum für die Arbeitsgruppen. Zum zweiten werden die unattraktiven Routineaufgaben gleichsam in schmerzlosen Dosen verteilt. Jeder legt beispielsweise bei der Reinigung mit Hand an. Resultat: Es gibt keine »chronischen Vakanzen« mehr.

Lernen als Teil des Arbeitslebens

Die Stellen erfordern zwar zum Teil verschiedene Fertigkeiten. Sie weisen aber alle einen vergleichbaren Schwierigkeitsgrad auf. Sie sind deshalb auch alle gleich bewertet. Lohnerhöhungen erfolgen aufgrund der Anzahl Stellen, die ein Mitarbeiter —

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zunächst innerhalb einer Arbeitsgruppe, dann im ganzen Betrieb — ausfüllen kann. Der Mitarbeiter wird also nicht für das bezahlt, was er tut, sondern für das, was er kann. Er ist aufgefordert, immer mehr Teile des gesamten Produktionssystems kennenzulernen und zu beherrschen. Und da die Zahl der für höhere Lohnstufen qualifizierbaren Mitarbeiter nicht begrenzt ist, steht die Entwicklung des einen keinem andern im Wege. Die Mitarbeiter unterstützen sich deshalb wechselseitig in ihrem Lernfortschritt.

Die Gruppen werden heute noch von einem Gruppenführer betreut. Diese Führungskräfte rekrutieren sich aus der Schicht der Arbeiter und sind hauptsächlich dazu da, die Teambildung und die Gruppenentscheidungsbildung zu fördern. Sie haben also mehr die Funktion eines Ausbilders und Beraters und sind nicht individuell verantwortlich für die Planung, Abwicklung und Kontrolle der Arbeit in ihrer Gruppe. Es ist vorgesehen, diese unterste Führungsstufe im Laufe der Zeit ganz aufzulösen. Die Koordination zwischen den Gruppen wird dann ausschließlich durch die gewählten Gruppensprecher wahrgenommen werden.

Dieser letzte Schritt ist heute schon recht gut vorbereitet. Der Abbau hierarchischer Steuerung und Kontrolle wird konsequent vorangetrieben. Die Gruppenmitglieder erhalten laufend alle anfallenden technischen und betriebswirtschaftlichen Daten. Sie können deshalb schon heute das meiste direkt erledigen, was normalerweise den Arbeitstag des unteren und mittleren Managements ausfüllt.

Selbstverwaltung der Betriebsgemeinschaft

Es gibt keine Werksbestimmungen und keine Hausordnung. Alle Gebrauchsregeln entwickeln sich aus der Erfahrung und sind dementsprechend einem laufenden Wandel unterworfen. Für Fragen der sozialen Einrichtungen, des Arbeitsschutzes oder des Materialflusses gibt es fest etablierte, in regelmäßigen

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Abständen zusammentretende Ausschüsse. Für die Lösung spezieller Probleme werden ad hoc temporäre Arbeitsgruppen gebildet. In der Praxis hat dies dazu geführt, daß fast jeder Mitarbeiter durch die Tätigkeit in einer oder mehreren Arbeitsgruppen direkt an der Meinungs- und Entscheidungsbildung auf Betriebsebene beteiligt ist.

Bereits bei der Raumplanung wurde alles vermieden, was »trennend« wirken oder Statusdenken fördern könnte. Alles ist darauf angelegt, die Gemeinschafts­bildung zu unterstützen. Es gibt eine offene Parkfläche, einen gemeinsamen Eingang für Betrieb und Büros sowie ein einheitliches Innendekor. Die Raumgliederung ist so konzipiert, daß das Zusammenkommen der Gruppenmitglieder während der Arbeitszeit erleichtert wird. Dies spiegelt die grundsätzlich optimistische Annahme des Planungsteams wider, daß die Möglichkeit zu spontanen Versammlungen nicht nur den »erfreulichen zwischenmenschlichen Beziehungen«, sondern auch der Koordination der Arbeit und dem Lernprozeß förderlich ist.

Startschwierigkeiten 

Um es gleich vorwegzunehmen: In dem neuen Werk lief, besonders in der ersten Zeit, bei weitem nicht alles rund. Spannungen gab es zunächst einmal im Zusammenhang mit der Leistungsbeurteilung und der Lohnfindung. Gruppenführer und Teammitglieder taten sich schwer damit, eine Vielzahl subjektiver Meinungen über die Leistung eines Mannes in freier Diskussion auf einen Nenner zu bringen. Dazu kamen schwierige Grundsatzdiskussionen über die Frage, ob in Zukunft der Schwerpunkt noch mehr auf die Gruppenleistung oder wieder vermehrt auf die individuelle Leistung des einzelnen gelegt werden sollte. Ferner gab es Mitarbeiter, die durch den Verantwortungsumfang schlicht überfordert waren, andere, die gerne wieder gewohntere Kontrollmethoden gesehen hätten, und es gab Führungskräfte, die Mühe hatten, sich dieser Verführung zu entziehen.

Es kam vor, daß einzelne Mitarbeiter von der Gruppenmeinung »vergewaltigt« oder im Sinne der »Lynchjustiz« als Sündenbock für ein nicht offen ausdiskutiertes Gruppenproblem mißbraucht wurden. Die Anwesenheit eines tüchtigen, intelligenten und fachlich versierten, wenn auch sprachlich etwas ungewandten Arbeiters in einer firmenweiten Versammlung von Unfallverhütungsexperten löste unter seinen Kollegen, die allesamt dem Management angehörten, große Verunsicherung aus. Und es gab Vertreter von Lieferantenfirmen, die zutiefst schockiert waren, mit einem »gewöhnlichen Arbeiter« verhandeln zu müssen; denn Verkäufer werden bekanntlich darauf abgerichtet (und sind es auch aufgrund ihrer täglichen Erfahrung gewohnt), ihren voraussichtlichen Erfolg danach abzuschätzen, wie hoch in der Hierarchie oder, wie man so schön sagt, »wie nahe der Entscheidungsebene« sie Eingang finden. Kurz, es galt an allen Fronten, Erfahrungen zu sammeln.

Wirtschaftliche Bilanz

Betriebsfachleute hatten aufgrund herkömmlicher Überlegungen ursprünglich eine erforderliche Belegschaft von 110 Personen errechnet. Das Konzept selbständiger Arbeitsgruppen und der Wegfall von Spezialisten führten statt dessen zu einem Normalbestand von weniger als 70 Personen. 18 Monate nach Inbetriebnahme des Werkes lag der Fixkostenanteil 33 Prozent tiefer als derjenige im alten Werk.

Noch gewichtiger sind die Senkungen der variablen Herstellungskosten. Der Produktionsausschuß ist um sage und schreibe 92 Prozent geringer als in Kankakee. Die Abwesenheitsrate liegt neun Prozent unter dem Konkurrenzdurchschnitt. Dazu kommt eine beinahe optimale Kapazitätsauslastung. Dies alles führt zu jährlichen Minderkosten in der Größenordnung von mehr als einer halben Million Dollar. Die Unfallquote und der Personalwechsel gehören heute zu den niedrigsten im ganzen Konzern.

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