Neandertaler      Start   Weiter 

5.  Die Massengesellschaft

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Es soll hier nicht behauptet werden, es sei von vornherein unmöglich, daß der Mensch - mit den Anlagen, die er im Laufe der Evolution erworben hat - friedlich in großen Gesellschaften leben kann. Als Kulturwesen und Weltmeister der Anpassung müßte er, so scheint es, dazu grundsätzlich in der Lage sein. 
Theoretisch - ich betone: theoretisch - wäre er es wohl auch. 

Wenn es keinen Hunger und keine existentielle Armut gäbe; wenn alle Kinder in intakten Familien aufwachsen und sich zu gesell­schafts­fähigen Menschen entwickeln könnten; wenn überall lebendige Formen direkter Demokratie praktiziert würden; wenn eine weltweit akzeptierte Wertordnung herrschen würde, welche den Schutz der natürlichen Umwelt und den Respekt vor anderen Menschen und Kulturen gewährleistet; und wenn es Institutionen gäbe, die in der Lage wären, diesen Werten weltweit Achtung zu verschaffen — dann wären die Menschen durchaus in der Lage, sich an diese Situation anzupassen.

Trotz unseres angeborenen Aggressionstriebes:
Eine friedliche Welt wäre grundsätzlich denkbar. 
Es ist anders gekommen.

    Verlust der Gemeinschaft   

Massengesellschaften und regionale Überbevölkerung, verbunden mit Verknappung der natürlichen Ressourcen, Hunger und Armut hat es bereits sehr früh gegeben. Wo zu viele Menschen leben, werden sowohl die Versorgung als auch die Formen des Zusammenlebens auf die Dauer zum Problem. Das war immer schon so. Neu ist allerdings, daß die Überbevölkerung nicht mehr nur einzelne Regionen betrifft, sondern an die Grenzen dieses Planeten stößt. 

Und jetzt wird, solange weiterhin zu viele Kinder geboren werden, massenhaft gestorben. Denn die Ressourcen sind insgesamt knapp und im übrigen auch noch ungleich verteilt. Wir sind wahr­scheinlich an dem Punkt angelangt, wo die Weltbevölkerung - unabhängig von der Geburtenrate - ganz einfach nicht mehr weiter wachsen kann wie bisher.

Doch das Zusammenleben der Menschen in Massengesellschaften führt nicht nur zu einer Knappheit der Ressourcen, sondern auch zu Störungen des Sozial­verhaltens. Wissenschaftliche Experimente mit Tieren, die in ihrer natürlichen Umwelt in Gruppen leben, haben folgendes gezeigt: Stark erhöhte soziale Dichte führt zu einer enormen Multiplikation der sozialen Kontakte pro Zeiteinheit und damit zu einer Reizüberflutung. Die Inter­aktionen zwischen zwei Tieren können nur noch selten ihren natürlichen Ablauf nehmen. Kaum hat ein Tier angefangen, auf ein anderes zu reagieren, wird — bevor eine "Rückmeldung" erfolgen kann — bereits durch einen Reiz von anderer Seite eine nächste Reaktion ausgelöst. Der natürliche Dialog zwischen Individuen wird laufend gestört, unterbrochen, zerhackt. Die Tiere sind nicht mehr in der Lage, die von allen Seiten auf sie einstürm­enden Signale zu verarbeiten. An die Stelle sinnvoller Abläufe treten zusammen­hang­lose Einzelreaktionen. Die "Melodie" wird zum "Geräusch", der individuelle Partner zum bewegten Objekt ohne persönliche Identität.

Dies ist nicht nur bei Tieren so. Auch bei den Menschen geht in einer Massengesellschaft die Gemein­schafts­fähigkeit verloren — und zwar gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird es bei zu hoher sozialer Dichte immer schwieriger, stabile Familien zu bilden. Immer weniger Kinder und Jugendliche können von Grund auf lernen, wie man partnerschaftlich zusammenlebt. Zum zweiten: An die Stelle überschaubarer Sippen­gemein­schaften treten große, anonyme Massen — und wo Organisation notwendig ist, entstehen hierarchisch struktur­ierte Gebilde, in denen Macht und Ansehen völlig ungleichmäßig verteilt sind. Es ist nicht mehr jedes Individuum ein gleichwertiger, von allen respektierter Partner. Man kennt gerade noch die Menschen im unmittel­baren Umfeld persönlich. Der Rest degeneriert zu Nummern, Soldaten, Planstellen oder Schach­figuren.

In einer Umwelt ohne stabile persönliche Beziehungen aber kann sich niemand zurechtfinden. Es können sich keine funktions­fähigen Familien mehr bilden. An die Stelle der Geborgenheit in der Gemeinschaft tritt die Bedrohung in der Masse. Es kommt zu einer allgemeinen Desorientierung, zum Zusammenbruch der sozialen Anpassungs­prozesse und zur seelischen Verwahr­losung der einzelnen Individuen. Verhaltens­störungen und Perversionen aller Art sind die Folgen.

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   Der Stoff, aus dem die Liebe ist   

Einer der entscheidenden Faktoren für die Gesellschaftsfähigkeit von höher entwickelten Tieren und Menschen, sind die Verhältnisse, unter denen sie aufwachsen. Der amerikanische Verhaltens­forscher Harry F. Harlow hat vor 40 Jahren bahn­brechende entwicklungs­psychologische Untersuchungen durchgeführt. 

In verschiedenen Käfigen wurden einzelne neugeborene Rhesusäffchen mit künstlichen Müttern großgezogen. Im einen Käfig befindet sich nichts anderes als ein Drahtgestell, das ungefähr die Gestalt eines Affen hat, sowie ein Nippel, der Milch abgibt. In einem zweiten Käfig ist das Drahtgestell mit Pelz überzogen. In einem dritten Käfig führt das pelzüberzogene Drahtgestell von Zeit zu Zeit Schaukel­bewegungen aus. Käfig Nr. 4 ist identisch mit Nr. 3, allerdings gibt der Nippel nur zu bestimmten Zeiten Milch ab. Die Tiere sind alle gut geschützt und werden bestens ernährt.

Die Ergebnisse: 

In Käfig Nr. 1 gehen die meisten Tiere innerhalb kürzester Zeit ein. In Käfig Nr. 2 überlebt ein Teil als Kümmer­exemplare. In Käfig Nr. 3 überleben die meisten, werden sogar normal groß, jedoch nicht geschlechtsreif. In Käfig Nr. 4 — also dort, wo der Faktor "Versagung" mit eingebaut ist — entwickeln sich die Tiere in beträchtlicher Zahl bis zur biologischen Fortpflanzungsfähigkeit. Sie sind jedoch verhaltensgestört. Sie können keine Beziehungen zu anderen aufnehmen. Sie leiden unter Angstzuständen und zeigen Ausbrüche heftiger Feindseligkeit und Zerstörungswut. Auch in Gegenwart normaler Geschlechts­partner kommt es nicht zur Paarung — und wenn einmal doch, sind die Tiere nicht fähig, ihre Kinder liebevoll aufzuziehen, sondern lassen den Nachwuchs verenden.

Ein deutscher Verhaltensforscher machte später mit Mantelpaviansäuglingen ergänzende Erfahrungen. Er ließ sie in rohen Kisten aufwachsen, in denen es nichts gab als eine Milchflasche, einen Plastikkorb, ein elektrisches Heizkissen sowie ein paar Lappen aus Kunstfaserfell. Im Unterschied zu Harlow's Rhesusäffchen wurden die Pavianbabies aber nie lange allein gelassen. Immer wieder beschäftigte sich jemand mit ihnen — nicht etwa Artgenossen, nota bene*, sondern menschliche Betreuer. Und siehe da: Alle Zöglinge entwickelten sich völlig normal, ja sie konnten später ohne große Schwierigkeiten in die Mantelpaviankolonie des Kölner Zoos eingegliedert werden.

Der Stoff, aus dem die Liebe ist, heißt Kommunikation. 

Persönlichkeit und Gesellschaftsfähigkeit — ob beim Tier oder beim Menschen — bilden sich durch Verständigung. Auch beim Menschen ist der fortlaufende, wechselseitige Austausch, das ständige Geben und Nehmen von Information im Rahmen sinnvoller Inter­aktions­ketten die Grundvor­aussetzung für eine normale geistige und seelische Entwicklung. 

detopa-2023: nota bene: merke wohl!, beachte!, wohlgemerkt! 

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Das Kind wird ohne Intelligenz, ohne Bewußtsein und ohne Gewissen geboren. Es kann, wenn es auf die Welt kommt, noch nicht einmal zwischen sich und der Umwelt, vorab der Mutter, unterscheiden. Allein schon dieser erste wichtige Schritt, die Trennung von "Ich" und "Nicht-ich", kann nur durch Kommun­ikation gelingen. Ohne fortgesetzte Verständigung mit einem "Du", das lebt, reagiert, Antwort gibt, können wir kein Bewußtsein entwickeln. Wir lernen weder denken noch reden. Und das, was wir Gewissen nennen, kann nur entstehen, wenn das Kind durch emotionale Nähe zu wichtigen Bezugs­personen, durch Lernen am Vorbild erfahren hat, daß Respekt vor anderen und Rücksichtnahme auf ihre Bedürfnisse sich lohnen.

   Die Bereitschaft zur Unterwerfung  

Von David Hume stammt dieser Satz: "Nothing appears more surprising to those who consider human affairs with a philosophie eye than the easiness with which the many are governed by the few." Sinngemäß: "Nichts ist erstaunlicher für denjenigen, der menschliche Angelegenheiten mit einem philo­sophischen Auge betrachtet, als die Leichtigkeit, mit der die Vielen durch die Wenigen beherrscht werden." Es ist in der Tat erstaunlich, wie leicht oft einzelne Individuen oder kleine Klans an die Macht kommen und große Menschenmassen, nicht selten ein ganzes Volk, beherrschen können. Es war eigentlich schon immer zu vermuten, daß solche Vorgänge nicht aus­schließlich durch herausragende Fähigkeiten der Aufsteiger zu erklären sind.

*

"Ich halte das nicht aus! Ich werde doch den Mann da drin nicht umbringen! Hören Sie, wie der schreit?" Der Versuchsleiter: "Wie ich Ihnen vorher schon sagte: Die Schocks können schmerzhaft sein, aber ..." — Herr Pozi: "Aber er schreit doch! Er kann das nicht aushalten! Was ist mit ihm los?" Der Versuchsleiter: "Das Experiment erfordert, daß Sie fortfahren." Herr Pozi: "Jaaah, aber ich will den Mann da drin nicht fertig­machen. ... wer übernimmt denn die Verantwortung, wenn dem Herrn da drüben was passiert?" Der Versuchsleiter: "Ich trage die volle Verantwortung, wenn ihm etwas geschieht. Fahren Sie bitte fort!" — Herr Pozi fährt fort. Er verabreicht einem wehrlosen, unschuldigen, verzweifelt um Hilfe schreienden Unbekannten Elektroschocks, von denen er annehmen muß, daß sie zum Tode führen können. Er fährt fort, bis das Opfer sich nicht mehr regt.

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Herr Pozi ist eine von über 1000 Versuchspersonen, an denen der Sozialpsychologe Stanley Milgram in Serien von Experimenten das Verhalten gewöhnlicher Menschen gegenüber hierarchischer Autorität getestet hat. In einem psychologischen Labor der Universität stellen sich per Inserat gesuchte Freiwillige für eine "Unter­suchung über Gedächtnisleistung" zur Verfügung. Es gibt einen "Lehrer" und einen "Schüler". Der Versuchs­leiter, ein Wissen­schaftler in grauem Kittel, erklärt, das Experiment befasse sich mit der Auswirkung von Strafe auf das Lernen. Der "Schüler" wird auf eine Art elektrischen Stuhl gefesselt. Der "Lehrer" soll dem "Schüler" einfache Wortpaare vorlesen und später wieder abfragen. Jeder Fehler wird mit einem um jeweils einen Grad stärkeren Elektroschock "bestraft".

Der "Lehrer" sitzt im Nebenraum vor einem imposanten Schockgenerator und ist mit dem "Schüler" über eine Gegen­sprechanlage verbunden. 30 Tasten von 15 bis 450 Volt haben Bezeichnungen wie "leichter Schock", "mittlerer Schock", "schwerer Schock" oder "Gefahr: Bedrohlicher Schock". Die letzten Tasten tragen nur noch die Bezeichnung "XXX". Die Leute, die sich als "Lehrer" zur Verfügung stellen, sind die eigentlichen Versuchs­personen. Der "Schüler" dagegen ist ein eigens für diese Aufgabe vor­bereiteter Schauspieler, der die zunehmend stärkeren Schockreaktionen bis hin zum Todesschrei zu simulieren hat. Es geht darum, heraus­zufinden, wie weit normale Menschen zu gehen bereit sind, wenn ihnen von einer Autoritäts­person befohlen wird, einem protestierenden Opfer immer größere Schmerzen zuzufügen.

   Die Trennung des Tuns von der Verantwortung   

Man hatte angenommen, daß nur eine pathologische Randgruppe von zwei bis vier Prozent bis ans Ende der Schockskala gehen würde. Doch in den ersten Testserien mit Studenten waren es 60 Prozent. Dann wurden die Tests ausgedehnt auf normale Durch­schnitts­bürger beiderlei Geschlechts, aller Berufs­gruppen und Altersklassen. 65 Prozent aller Versuchspersonen gaben den Maximalschock. Weil es schwer fiel, das Unfaßbare zu akzeptieren, sind die Versuche seither in den verschiedensten amerikanischen Städten und europäischen Ländern wiederholt worden — mit Gehorsamsquoten bis zu 85 Prozent

Es bleibt dabei: Drei Viertel der Durchschnittsbevölkerung können durch eine pseudowissenschaftliche Autorität ohne jeglichen Zwang und ohne Androhung von Repressalien dazu gebracht werden, unschuldige Opfer zu foltern, ja zu liquidieren.

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Doch nur ganz wenige verabreichen die Schocks, weil es ihnen Spaß macht. Das Verhalten der Mehrheit wird durch Anpassung an die aktuelle Situation, durch Unterwerfung unter die Autorität bestimmt. Wenn die Versuchsperson die Höhe der Schocks selbst wählen darf, gehen 70 Prozent nicht über das erste leise Anzeichen von Unbehagen, 95 Prozent nicht über den ersten heftigen Protest in der Mitte der Skala hinaus. Zweite entscheid­ende Erkenntnis: Arbeitsteilung korrumpiert die Verantwortung. Wer nur "ein Glied in einer Kette" ist, die Gesamt­situation nicht zu überblicken vermag und sich nur auf seinen engeren, unmittelbaren "Auftragsbereich" konzentriert, kann besonders leicht geführt und mißbraucht werden. Wenn die Versuchs­person nur irgendeine Hilfstätigkeit zugewiesen kriegt — zum Beispiel "Protokollieren" — ist das Resultat erschreckend: 92,5 Prozent machen das Experiment teilnahmslos bis zum mehrfachen Maximal­schock mit.

Der Durchschnittsmensch in einer hierarchisch geschichteten Massengesellschaft verfügt nicht über das notwendige Selbst­vertrauen, um den einzig möglichen Weg aus dem Konflikt mit einer Autorität zu wählen: den offenen Bruch. Mit Milgrams Worten: "Willkürherrschaft wird von unsicheren Menschen aufrecht­erhalten, die nicht genügend Mut besitzen, ihre Über­zeugungen in die Tat umzusetzen."

Dies alles sind keine brandneuen Erkenntnisse. Die Experimente, über die hier berichtet wird, und die ja letztlich nur wissen­schaftlich untermauern, was im realen Leben zu beobachten ist, sind alle vor mehreren Jahrzehnten bekannt geworden. Einige sind so alt wie Einsteins Relativitätstheorie. Was haben sie bewirkt? Nichts — rein gar nichts. Wir leben in Massen­gesellschaften, und Massen­gesellschaften sind, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt entwicklungsfähig.

    Schule des Lebens   

Die anonyme Massengesellschaft ist für allzuviele Menschen eine Schule der Rücksichtslosigkeit und der Brutalität. Die Anlagen dazu bringt der Mensch genauso mit wie diejenigen zur Liebe, Fürsorge und Zusamm­en­arbeit. Was ein Kind aber tatsächlich lernt, und welche Fähigkeiten es entwickelt, hängt vom Umfeld ab, in dem es aufwächst; davon, wie die Menschen während seiner ersten Lebensjahre mit ihm umgehen; und davon, was sie ihm an Verhalten untereinander vorleben. Die Schule des Lebens beruht auf emotionaler Erfahrung am eigenen Leib — und auf Lernen am Modell.

Wenn man wissen will, wohin die Menschheit sich entwickelt, muß man die Bedingungen betrachten, unter denen die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen aufwachsen — und die Chancen, die sich ihnen im Leben bieten.

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Und da zeigt sich leider ein erschreckendes Bild: In der modernen Massengesellschaft haben immer weniger Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, in einer intakten Familie und unter gesunden schulischen Verhält­nissen ein friedliches und ersprießliches Zusammenleben mit anderen zu lernen; eine starke und eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln; zu stabilen moralischen Werten zu gelangen. In praktisch allen Kontinenten nehmen die Zahlen der Straßenkinder und der jugendlichen Gewalttäter dramatisch zu.

In den USA leben gerade noch 51% der Kinder mit beiden Eltern zusammen. Soziologen haben die Auswirk­ungen der vaterlosen Gesellschaft untersucht. Danach stammen aus vaterlosen Familien: 63% der jugend­lichen Selbstmörder, 71% der schwangeren Teenager, 90% aller Ausreißer und obdachlosen Kinder, 85% der jugendlichen Häftlinge, 75% aller Heran­wachsenden in Drogen­entzugsanstalten. Der Anteil Jugendlicher, die Gewaltdelikte begangen haben, ist in den USA von 1986 bis 1994 von 36% auf 53% angestiegen — und er verteilt sich fast gleichmäßig über alle Bevölkerungs­schichten.

    Neuer Lehrplan   

Die Urhorde war eine außerordentlich intensive, lebenslange Schule für soziales Lernen. In einer über­schau­baren Über­lebens­gemein­schaft haben die Menschen Partnerschaft, Zusammenarbeit und Zusammenhalt gelernt. Aber bereits damals war dies nur in zahlenmäßig höchst begrenzten Gruppen möglich — und solidarisches oder gar fürsorgliches Verhalten gab es nur nach innen. Nach außen wurde schon damals mit äußerster Brutalität gekämpft.

Mit dem Seßhaftwerden der Menschen und dem Entstehen größerer sozialer Gebilde ging bereits vor Jahr­tausenden der Zwang zum Zusammenraufen in Überlebens­gemeinschaften verloren. Es begann die Ära der Klassengesellschaft, in der im Prinzip jeder für sich selbst zu sorgen hat. Solidarität konnte gerade noch in intakten Kleinfamilien gelernt und geübt werden. 

Doch in der modernen Massen­gesellschaft, in der Tradition und Moral erodieren; in einer durch Technik dominierten Zivilisation; in einer von individuellem Besitz und Konsum geprägten Wertordnung — da zerfällt zunehmend auch die Keimzelle menschlicher Gesell­schafts­bildung, die Familie. Immer weniger junge Menschen können in den entscheidenden Jahren, wo die Grundlagen für die Entwicklung der Persönlichkeit gelegt werden, friedliches und verantwortliches Zusammenleben mit anderen lernen und einüben.

Es ist nicht zu bestreiten, daß Menschen grundsätzlich - von ihren natürlichen Anlagen her - fähig wären, soziales Zusammen­leben in großen Gesell­schaften, ja sogar in einer globalen, multikulturellen Gesellschaft zu lernen. 

Aber eine solche Gesellschaft stellt, wenn sie funktionieren soll, höchste Anford­erungen an das Sozialverhalten ihrer Mitglieder. Ich bestreite, daß in unserer Massen­gesellschaft - so, wie sie sich entwickelt hat - die Voraus­setzungen dafür gegeben sind. 

Nur verhältnismäßig wenige Menschen können zu einer starken Persönlichkeit mit hochentwickelten sozialen Fähigkeiten heranwachsen. Als Folge von Verstädterung, Vermassung, Kommerzialisierung und Verarmung ist - aufs Ganze gesehen - das Gegenteil vorprogrammiert: Unsere Gesellschaft verlottert. Sie produziert in zunehmendem Maße sozialen Schrott. Und da jede Generation die Ausgangslage für die nächste prägt, kann man sich ausrechnen, wo das hinführt. Wir haben es hier mit dem für unsere Zukunft wahrscheinlich verhängnis­vollsten, sich selbst verstärkenden Trend zu tun.

Es geht hier nicht etwa darum, das Leben in der Urhorde zu verherrlichen. Der Überlebens­kampf in der freien Natur war hart und grausam. Es geht ausschließlich darum, zu betrachten, wie die Dinge sich entwickelt haben, wo wir heute stehen, und wie die Weichen für die Zukunft gestellt sind.

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Fünf nach Zwölf  1998