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15 - Konkurs des Staates 

 

 

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In einer Zeit zunehmender Verteilungskämpfe, politischer Instabilität und steigender Kriminalität würden wir gut daran tun, für ein funktionierendes Staats­wesen zu sorgen. Doch das Gegenteil ist der Fall. In unseren westlichen Demokratien herrscht eine allgemeine Staats­verdrossenheit.

Wirtschaftskreise und wirtschaftsorientierte Politiker betreiben immer offener und hemmungs­loser eine gezielte Demontage des Staates. Die Parla­mente tun alles, um die öffentliche Verwaltung immer tiefer in einer Flut von Gesetzen und Reglementierungen zu ersticken. Die Sozialkosten explo­dieren. Die Steuer­einkommen brechen ein. Und niemand weiß, wo in einigen Jahren das Geld herkommen soll, das gebraucht wird, um ein funktion­ierendes Staatswesen aufrecht­zuerhalten.

Die parlamentarische Demokratie erweist sich zunehmend als unfähig, den Problemen, die von allen Seiten auf sie einstürmen, wirksam zu begegnen. Hierbei handelt es sich nicht um einen akuten Schwächeanfall, sondern um eine progressive Sklerose. 

Hinter allem, was im öffentlichen Bereich geredet oder geschwiegen, getan oder unterlassen wird, stecken letztlich Menschen aus Fleisch und Blut. Das Wirken und Zusammenwirken dieser Menschen entscheidet darüber, ob das Staatswesen funktioniert oder nicht. 

Leider tragen alle Beteiligten kräftig mit dazu bei, daß es nicht funktionieren kann: die Parlamente, die Regierungen, die Parteien, die viel­fältigen Interessengruppen — und, gesagt muß es sein: die Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr über­blicken, was da eigentlich passiert. Um es auf einen Nenner zu bringen: Es herrscht eine kollektive Überforderung.

   Gezielte Demontage  

"Markt statt Bürokratie" — mit dieser und ähnlichen Phrasen wird der Bürger glauben gemacht, erstens, die Ursache allen Übels sei "zuviel Staat", und zweitens, der freie Markt sei das Patentrezept zur Lösung aller Probleme. Anstatt den Staat umzubauen und fit zu trimmen, wird er schlecht­geredet und nach dem Motto "Wo Staat ist, soll Markt werden" schrittweise abgebaut. Wir werden dies bereits in naher Zukunft bitter zu beklagen haben.

Ein kleines, aber typisches Beispiel dafür, wie fahrlässig heute mit dem Staat umgesprungen wird, ist die hochaktuelle Diskussion über Daten­sicherheit im Internet. Immer mehr Firmen und Institutionen wollen die Vorteile des globalen Netzwerkes — erhebliche Beschleunigung und Verbilligung des Datentransfers — für sich nutzen und wickeln wichtige Teile ihrer Kommunikation über Internet ab. Wenn Vertraulichkeit gefragt ist — etwa beim Verkehr einer Bank mit ihren Kunden — werden die Daten mittels spezieller Programme verschlüsselt.

Doch wo die Freiheit grenzenlos ist, gibt es Leute, die sie mißbrauchen. Drei Gruppen sind besonders glücklich über die Möglich­keit, weltweit blitzschnell, billig und vor allem geheim kommunizieren zu können: das organisierte Verbrechen, der internationale Terrorismus und der politische Extremismus. Die deutsche Regierung hat deshalb vorgeschlagen, daß jeder, der verschlüsselt kommunizieren will, seinen Code beim Staat deponiert, so daß im Falle eines dringenden Verdachtes auf kriminelle Aktivitäten Kontrollen durchgeführt werden können — selbstverständlich rechtsstaatlich überwacht und von einem parlament­arischen Ausschuß kontrolliert, wie dies beispielsweise auch bei der Telefonüberwachung der Fall ist.

Die Reaktion darauf war ein landesweiter Aufschrei der Empörung: "Das fehlte gerade noch, daß der Staat sich auch hier noch einmischt! Das ist eine Verletzung der Privatsphäre! Wo kommen wir denn da hin, wenn der Staat über die Schlüssel zu vertraulichen Informationen verfügt!" Der geharnischte Widerstand nicht zuletzt aus Wirtschaftskreisen wird die Initiative massiv verzögern, möglicherweise sogar zu Fall bringen.

Die Demontage staatlicher Autorität ist längst zum Ritual geworden. Die Platte des Marktliberalismus wird bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aufgelegt und wie eine Gebetsmühle abgespielt. Mit großem Pathos wird die Einschränkung der Frei­heit durch den Staat angeprangert. Man verirrt sich gar auf die Ebene der Menschenrechte. Die Konsequenzen für das Gemein­wesen dagegen interessieren keinen Dreck. Und niemand tut etwas dagegen.

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Daß jugendliche Computerfreaks und Internetsurfer, die sich nur noch in virtuellen Räumen bewegen, den Bezug zur Realität verloren haben und für die vermeintlich völker­verbindende Freiheit im Cyberspace auf die Barrikaden gehen, ist zwar traurig, aber vergleichsweise harmlos. Bedenklicher ist dies: Die Kapitäne der Wirtschaft, die sich immer gerne öffentlich zu Wort melden, wenn es darum geht, ihre Interessen zu vertreten, hätten Gelegenheit gehabt, Klarheit zu schaffen. Keiner hat es getan.

Das organisierte Verbrechen läßt herzlich grüßen. Es fühlt sich ausgezeichnet vertreten. Es ist nämlich absolut der gleichen Meinung: Freiheit ist unser höchstes Gut — und es gibt viel zuviel Staat. Doch wir leben be­kannt­lich in einer Demokratie, und da kommt es letztlich darauf an, wie das Volk zu seinem Staat eingestellt ist. 

 

  Die Legende von der Volksherrschaft  

Demokratie wird gemeinhin verstanden als Staatsform, bei welcher der Staat nach dem Willen des Volkes regiert wird. Nun stellen Sie sich einmal vor, alle Bürgerinnen und Bürger von Frankreich, Deutschland oder Italien — um nur mal im engeren Bereich der Europäischen Union zu bleiben — würden folgende simple Frage vorgelegt bekommen: "Wird Ihr Staat nach Ihrem Willen regiert?" Wenn die Demokratie funktionieren würde, müßte eine solide Mehrheit der Befragten mit einem ebenso simplen "Ja" antworten. Die Realität sieht anders aus: Die meisten würden wahrscheinlich einen Lachanfall kriegen. Die Gefühle, die dem Staat gegenüber vorherrschen, sind Wut, Enttäuschung und Resignation.
       Wie kommt das?

Beginnen wir bei der sogenannten "Basis", nämlich dem Volk

Die meisten Menschen sind keine politischen Wesen. Ihr Interesse gilt ihrer Familie, ihrem Beruf, ihrem Häuschen, ihrem Auto, ihrem Schrebergarten. Und einmal im Jahr dem Urlaub am Meer. Sie erwarten vom Staat Sicherheit zu Hause und auf der Straße, ein einigermaßen stabiles Einkommen, Strom aus der Steckdose und Wasser aus dem Hahn. Wie dies gewähr­leistet werden kann, interessiert die meisten im Grunde nicht. Otto Normalverbraucher ist weder fähig noch bereit, sich mit den komplexen Problemen dieser Welt auseinanderzusetzen. Dies ist die Verantwortung der Politiker. Dafür zahlt man Steuern.

Otto Normalverbraucher hört es zwar nicht ungern, wenn man sagt: Wir sind eine Demokratie, alle Macht liegt beim Volk. Das tut seinem Selbstwertgefühl gut. Aber sein Beitrag erschöpft sich auf die Wahl von anderen Menschen, die für ihn Politik machen.

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Wenn er einer Partei angehört, wählt er so, wie die Partei es von ihm verlangt. Wenn nicht, gibt er seine Stimme den Kandidaten, die ihm am besten gefallen. Und am besten gefallen ihm Leute, die nicht so tun, als wäre alles so furchtbar kompliziert. Leute, die eine einfache und klare Sprache sprechen, die Dinge beim Namen nennen und zeigen, daß es für die vorhandenen Probleme einfache und leicht umsetzbare Lösungen gibt. Aber letztlich interessieren ihn nicht Programme. Er wählt eine Person.

Im übrigen ist Otto Normalverbraucher ein gutmütiger und vor allem äußerst nachsichtiger Geselle. Er hat so gut wie gar kein Langzeitgedächtnis. Wenn ein Politiker nichts von dem einhält, was er seinerzeit versprochen hat, macht das gar nichts. Ein paar Jahre später gibt Otto ihm wieder seine Stimme — wenn er nur möglichst genau das erzählt, was Otto hören möchte. Deshalb sitzen in demokratischen Ländern, auch mitten in Europa, immer wieder Staatschefs komfortabel im Sattel, die ihre Wähler schon mehr als einmal brandrabenschwarz angelogen haben.

Berufspolitiker wissen das alles. Und so kommt es, daß in praktisch allen Demokratien von einer verhältnis­mäßig schmalen Schicht von Politikern, Wirtschafts­führern und Funktionären die Politik gemacht wird — meilenweit am Volk vorbei. Alle paar Jahre einmal ist das Volk gefragt. Von allen Plakatwänden herab suchen strahlende Gesichter tiefen Augenkontakt mit den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern. Doch sobald die Wahlen über die Bühne sind, verabschiedet sich die große Politik von der kleinen Welt des einfachen Bürgers und führt ihr eigenes Leben. Zeitungen und Fernsehen vermitteln zwar immer wieder blitzlichtartige Eindrücke von dem Geschehen auf dem Olymp, aber sogar Otto Normalverbraucher merkt: Da wird im Grunde eine ganz große Show abgezogen. Und wenn er sich anschaut, was im Laufe eines Jahres passiert, was nicht passiert, und wie viele Skandale auffliegen, stellt er fest: Politik ist etwas anderes als ein Dienstleistungsbetrieb zur Sicherung seiner Interessen — und die Musik spielt nicht vor, sondern hinter den Kulissen.

 

  Schleichende Entfremdung  

Mit ihrer Ohnmacht der Politik und dem Staat gegenüber hätten sich die Menschen längst abgefunden. Viel gravierender ist dies: Auch die weiß Gott nicht überzogenen Erwartungen, die sie an ihren Staat als Dienst­leister und Ordnungshüter hatten, werden zunehmend nicht mehr erfüllt.

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Viele Ältere haben ein Leben lang hart gearbeitet — und es finanziell auf keinen grünen Zweig gebracht. Viele Junge dagegen, die das Leben noch vor sich haben, stehen vor Zukunftsperspektiven, die man nur als deprimierend bezeichnen kann: zerstörte Umwelt, immer weniger Arbeit, geringes oder gar kein Einkommen, schwindende soziale Sicherheit. Dabei wird alles laufend teurer. Was der Staat ihnen aus der Tasche zieht, wird immer happiger — für viele nachgerade erdrückend. Der Anteil, den der Staat durch direkte und indirekte Steuern und Abgaben von dem abschöpft, was die Bürgerinnen und Bürger durch Arbeit erwirtschaften, beträgt mittlerweile je nach Land und beruflicher Situation zwischen 50 und 70 Prozent. Und wenn sie mitansehen müssen, wie der Staat mit diesem Geld umgeht, packt sie mal hier und mal da die kalte Wut. Während sie selbst jeden Fünfer dreimal wenden müssen, können sie im Fernsehen mitverfolgen, wie in der Geschäftswelt von einigen ganz gewaltig abgesahnt wird. Die Wirtschaft blüht. Banken, Versicherungen und Industrie­konzerne streichen fette Gewinne ein. Und für ihre Renten hat der Staat zusehends nicht mehr genügend Geld.

Wo sie direkt mit dem Staat zu tun haben, werden sie womöglich wie dahergelaufene Bittsteller behandelt. Ihre Anliegen werden verzögert behandelt. Niemand fühlt sich für sie zuständig. Sie werden kiloweise mit in Amtskauderwelsch abgefaßten Druck­materialien abgefertigt, die kein normaler Mensch versteht. Und wenn sie arbeitslos werden, müssen sie neben der Schmach in der Familie und im Bekanntenkreis auch noch entwürdigende Rituale bei den zuständigen Ämtern über sich ergehen lassen.

Gleichzeitig erleben sie tagtäglich, daß der Staat sie nicht mehr vor Einbruch, Diebstahl und Gewalt schützt. Angst und Mißtrauen werden zu Dauerbegleitern. In ihrem engeren Umfeld sind sie von immer mehr Menschen aus fremden Kulturen umgeben. Viele dieser "fremden" Menschen sprechen nicht einmal ihre Sprache, leben auf Kosten des Staates, besetzen begehrten Wohnraum und bleiben weitgehend unter ihresgleichen, ohne Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Wenn sie dann der Zeitung auch noch entnehmen müssen, daß ein weit überproportionaler Anteil der Verbrechen von Ausländern begangen werden, kommt es zu ohnmächtiger Wut und abgrundtiefem Haß.

Die Mitglieder von Regierung und Parlament, die selbstverständlich in besseren Wohngegenden zu Hause sind, predigen "Integration" und "Solidarität". Aber sie predigen nur. Sie sorgen nicht dafür, daß die Integration auch tatsächlich stattfindet. Viele Menschen fühlen sich mittlerweile in ihrer eigenen Heimat als Fremde. Sie verstehen die Welt nicht mehr, die sie umgibt. Sie fühlen sich betrogen, von ihrem eigenen Staat verraten und verlassen.

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Dieses Problem wird von der hohen Politik nach wie vor sträflich verharmlost und außerdem politisch falsch angegangen: mit Phrasen und Appellen statt mit konsequenter Steuerung und konkreten Maßnahmen zur Integration. Es genügt nicht, sich über die neue extreme Rechte zu beklagen. Es genügt nicht, deren primitives Weltbild anzuprangern. Die schlimme Vereinfachung beginnt dort, wo die Politik versucht, sich ausschließlich mit gut klingenden Floskeln aus einer ebenso komplexen wie emotional geladenen Affäre zu ziehen — so lange bis eine Integration politisch gar nicht mehr möglich ist.

Der Anteil ausländischer Einwohner an der Gesamtbevölkerung in Prozenten besagt zunächst gar nichts. Das Problem konzentriert sich nämlich in Ballungsgebieten. Und hier wiederum ergibt sich ein äußerst vielschichtiges Bild. Es gibt "Fremde", die schon lange da und sozial bestens integriert sind. Es gibt andere, die schon lange da und überhaupt nicht integriert sind. Es gibt nochmals andere, die erst seit kurzem da sind und noch nicht integriert sein können. Dann gibt es leider nicht wenige, die von Haus aus kriminell sind. Und es gibt wieder andere, die zwar nicht von Haus aus kriminell sind, aber beispielsweise als junge Arbeitslose aus Langeweile — nicht einmal aus unmittelbarer materieller Not — in die Gewalt und ins Verbrechen abdriften. Durch Gruppen- und Ghettobildung wird die Integration noch zusätzlich erschwert.

Solche differenzierenden Betrachtungen dürfen aber nicht in Verharmlosungen münden. Solange das Problem, das viele Menschen mit dem ungebremsten Zustrom haben, nicht ernst genommen, in seinen Ursachen nicht akzeptiert und lediglich mit politischen Verbalmanifestationen zugekleistert wird, kann man für die Zukunft nur rabenschwarze Prognosen stellen.

 

  Wurzeln der Bürokratie  

Daß der staatliche Verwaltungsapparat dringend der Reform bedarf, steht außer Frage. Tiefgestaffelte Hierarchie, auf die Spitze getriebene Arbeitsteilung und eine Regelungsdichte, in der jede Eigeninitiative im Keime erstickt wird, führen zu einer Schwer­fälligkeit, zu einer Ineffizienz und zu Kosten, die schlicht nicht mehr finanzierbar sind. Unkündbarkeit, Beförderung nach dem Senioritätsprinzip und fehlende Möglich­keiten, Leistung zu honorieren, verhindern jeden Anreiz, sich persönlich zu engagieren. In der Wirtschaft würde jedes Unternehmen, das so geführt wird, innerhalb kürzester Zeit in Konkurs geraten.

Doch damit, daß man auf die Beamten schimpft, ist es nicht getan. Die Beamten sind letzten Endes nur Produkte des Systems, in das man sie gezwängt hat. Woher kommt die verheerende Regelungsdichte im öffentlichen Bereich?

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Der Gesetzgeber ist das Parlament. Und damit sind wir beim Kernproblem. Das Parlament versteht sich in erster Linie als Gesetzes­produktions­maschine. Es sieht seine Aufgabe darin, möglichst viele Dinge möglichst präzise per Gesetz zu regeln. 

Doch kein Abgeordneter fühlt sich zuständig dafür, bereits bestehende Gesetze daraufhin zu überprüfen, ob sie der heutigen Zeit noch entsprechen, ob sie überhaupt noch einen Sinn haben, und ob sie eventuell im Widerspruch stehen zu einem anderen Gesetz. 

Seit hundert Jahren werden einfach laufend neue Gesetze draufgepackt — und der Verwaltungsapparat muß das Ganze bewirtschaften. Dabei werden nicht nur Heerscharen von Menschen geistig und psychisch verbogen, bis sie nur noch in Reglementen denken können. Der Apparat wird auch monströs aufgebläht. Die Aufgaben des Staates könnten locker mit der Hälfte der Beschäftigten bewältigt werden, wenn diese nach Gesichtspunkten des gesunden Menschen­verstandes geführt würden und handeln dürften.

Dies ist die eine Wurzel der Bürokratie: Gesetzesflut und Regelungsdichte. Es gibt eine zweite, nicht minder fatale: die Abwesenheit klarer und stabiler Ziele, das Nichtvorhandensein strategischer Richtlinien, das Fehlen eines Orientierungs­rahmens, an dem der Beamte sein Handeln ausrichten kann. Klare Ziele und Richtlinien sind in der Wirtschaft das kleine Einmaleins der Unternehmens­führung. Sie sagen dem einzelnen Mitarbeiter, wohin die Reise geht — und was von ihm erwartet wird. Wer die Ziele kennt, braucht nicht täglich neue Arbeitsanweisungen. Er kann selbständig handeln. Nicht so in der öffentlichen Verwaltung. Die Vorgesetzten der Chefbeamten auf der politischen Ebene sind in aller Regel weder willens noch fähig, strategisch zu arbeiten. Sie stecken selbst tief im operativen Detail, weil sich's hier leichter werkeln läßt.

Die Beamten wissen häufig nur, daß gestern "hüh!" und heute "hott!" verlangt wird — aber sie wissen nicht, warum. Wenn auf der politischen Ebene die Couleur wechselt, wird der Kurs von heute auf morgen um 180 Grad gedreht. Die braven Soldaten haben nur eines zu tun: zu marschieren. Die Beamten sind ausführende Organe. Sie leben am besten, wenn sie sich gar nicht erst zu viele Gedanken darüber machen, was sinnvoll wäre. Und häufig genug erhalten sie auch noch Signale und Aufträge, die sich gegen­seitig widersprechen. Dazu kommt: In der öffentlichen Verwaltung sitzt man im Glashaus. Alle gucken hin; jeder weiß besser, wie man's machen sollte; und jeder fühlt sich als Steuerzahler und "Arbeitgeber" befugt, überall reinzureden. In einer Welt ständig wechselnder, kaum interpretierbarer und vor allem widersprüchlicher Botschaften und Ansinnen aber gibt es nur eines, an dem man sich orientieren und festhalten kann: das Gesetz, die Vollzugsverordnung, das Reglement. Und das Papier, auf dem sie schwarz auf weiß gedruckt sind.

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Der dritte kritische Punkt ist die faktische Unkündbarkeit der Beamten. Wessen Beschäftigung lebenslang sicher­gestellt ist, der kann gelassen an seine beruflichen Aufgaben herangehen. Im öffentlichen Bereich läuft deshalb alles ein bißchen gemächlicher. Verglichen mit der Anspannung in der Industrie herrschen teilweise idyllische Verhältnisse. Es fehlt das Quentchen Druck, das in der Wirtschaft auch dort für Bewegung sorgt, wo wenig Begeisterung vorhanden ist.

 

  Die vom Volke Auserwählten  

Das Parlament, welches immer bei der Hand ist, wenn es darum geht, den schwerfälligen Verwaltungs­apparat zu kritisieren, ist selbst ein Moloch. Es ist nicht nur viel zu groß, um effizient arbeiten zu können. Es setzt sich naturgemäß auch aus höchst unter­schiedlichen Menschen zusammen. Etwas vereinfacht, kann man quer durch die Parteien vier Kategorien von Abgeordneten unterscheiden: Die Überzeugungs­täter, die Lobbyisten, die Opportunisten und die Vereinsmeier. In der Praxis begegnet man sowohl eindeutig zuzuordnenden Exemplaren als auch den buntesten Mischungen.

Die Überzeugungstäter und -täterinnen sind Männer und Frauen, die sich aus echter politischer Über­zeugung — welcher Art auch immer — für ihr Staats­wesen engagieren. Sie sind klar in der Minderheit. Die Lobbyisten sind die mit Abstand größte Gruppe. Sie vertreten in der Politik die spezifischen Interessen ihres Berufsstandes oder ihrer Wirtschaftsbranche. Alles andere interessiert sie nur sehr begrenzt oder gar nicht. Die Opportunisten sind diejenigen, die in der Politik sind, um sich persönlich profilieren zu können, Einfluß zu gewinnen und sozialen Status aufzubauen. Über welche Partei und auf welchem Weg sie dazu kommen, ist letztlich gar nicht von Belang. Bei ihnen weiß man nie, wann und wo sie plötzlich den Drang verspüren, sich persönlich zu engagieren. Das macht sie brandgefährlich. Die Vereinsmeier sind die Harmlosesten. Sie suchen in erster Linie gesellschaftlichen Anschluß. Sie sind immer bereit, irgendein arbeitsintensives Amt zu übernehmen, um sich nützlich zu machen. Aber sie zerreißen politisch keine Stricke.

Kurz, Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind im Grunde Menschen wie du und ich. Aber dies hat Konsequenzen. Jeder pickt sich wie bei einem Menü à la carte die Themen heraus, mit denen er allenfalls gedenkt, sich näher zu beschäftigen — und bei allen anderen wird bedeutungsvoll geschwiegen, Zeitung gelesen oder durch Abwesenheit geglänzt.

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Resultat: Es herrscht akuter Mangel an Politikern, die sich ganzheitlich um unser Staatswesen kümmern. Zweierlei kommt hinzu: chronische Zeitnot aufgrund chaotischer Arbeitsweise — und die typische Arroganz vieler Volksabgeordneter: Man ist Mitglied der höchsten Instanz im Staate. Man ist persönlich vom Volk gewählt. Man gehört zur obersten Elite. Die abgrundtiefe Ehrfurcht vor sich selbst ersetzt die Notwendigkeit der Sachkunde. Es herrscht allenthalben ein dramatischer Mangel an Kompetenz.

Und schließlich: Als Mitglied der obersten Kontrollinstanz fühlt man sich befugt, wann immer man Lust dazu verspürt, irgendeinen Chefbeamten anzurufen und eine ausführliche Ausarbeitung zu irgendeinem Thema in Auftrag zu geben, das einen gerade beschäftigt — bis übermorgen, wenn es geht, bitte schön. Und so kommt es, daß viele Verwaltungs­abteilungen bis zu einem Drittel ihrer gesamten Arbeitszeit dafür aufwenden, Politikern Auskünfte zu erteilen, Informationen zusammenzutragen und Berichte auszufertigen. Manch einer benötigt sie nur, weil er nächste Woche im Rotary Club ein Referat halten soll. Was ihn aber nicht hindert, bei jeder Gelegenheit gegen die Ineffizienz der Verwaltung zu wettern.

Es gibt selbstverständlich auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene durchaus kompetente und weitblickende Volks­vertreter und -vertreterinnen. Aber sie sind in der Minderheit. Die politischen Aufgaben haben an Vielfalt und Komplexität zugenommen, doch die Parlamentsdebatten bewegen sich häufig auf einem derart erbärmlichen Niveau, daß einem um die Zukunft angst und bange wird. Die großen Fragen unserer Zeit — die Sanierung der Umwelt, die Globalisierung der Wirtschaft, die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Migration, das organisierte Verbrechen und die Finanzkrise des Staates — werden gar nicht erst aufgegriffen. Sollen die zuständigen Ämter und Fachstellen in den einzelnen Ministerien sich darum kümmern. Das Parlament hat anderes zu tun.

Die Parlamente in ihrer heutigen Größe, Zusammensetzung und Funktionsweise sind schlicht überfordert — und sie haben niemanden über sich, der sie kontrolliert. Sie sind selbst die höchste Instanz im Staate und kümmern sich nur um die Funktions­weise aller andern.

 

  .... Minister sein dagegen sehr  

Managementkapazität ist in der Wirtschaft eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Ressource über­haupt. Wer in die Unter­nehmensleitung gelangt, hat in der Regel Jahre oder Jahrzehnte der Führungs­ausbildung und der praktischen Führungserfahrung hinter sich und ist nach Gesichts­punkten der Eignung ausgesucht worden.

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An die Spitze eines Ministeriums dagegen gelangt man auf dem Weg der Politik. Die Menschen, die gemeinsam die Geschicke einer Stadt, einer Region oder eines Landes leiten, kommen aus allen möglichen Berufen. Da findet man Menschen aus dem Lehrberuf, der Landwirtschaft, der Sozialarbeit, der Juristerei, der Hauswirtschaft. Nur wenige bringen Managementerfahrung mit. Viele aber stehen Verwaltungsbereichen von der Größe eines mittelständischen Unternehmens vor — und sollten diese nicht nur führen, sondern auch noch erneuern und umbauen. Mehr betriebs­wirtschaftliche Effizienz, mehr Kunden­orientierung und mehr unter­nehmerischer Geist wären gefragt.

Dieses System hat durchaus Vorteile. So kommen immer wieder unverbrauchte Menschen zum Zuge, die nicht mit managerialer Routine, sondern unverstelltem Blick und gesundem Menschenverstand an die Dinge herangehen. Aber leider genügt dies nicht. Management ist heute, in einer Zeit des Wandels, eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, die ein Mindestmaß an Professionalität erfordert. Doch die obersten Leitungs­funktionen im öffentlichen Bereich sind allzu häufig mit Amateuren und Dilettanten besetzt, die oft noch nicht mal lange genug im Amt sind, um im Ressort ihrer Zuständigkeit eine befriedigende Sachkunde, geschweige denn allgemeine Management­kompetenz zu erwerben.

Die Beschränkung des Denkens und Handelns auf das eigene Ressort, der Mangel an echter Führung, das Durchgreifen der Vorgesetzten in den operativen Alltag der Beamten — all dies beginnt an der Spitze. Die vornehmste Aufgabe des Managements dagegen — das Einleiten und konsequente Verwirklichen von Veränder­ungen der Strukturen und Abläufe sowie der Kommunikation, der Führung und der Zusammenarbeit — bleibt liegen.

Wenn die Verwaltung effizienter und flexibler werden soll, brauchen die einzelnen Fachfunktionen im Rahmen vereinbarter Leistungsziele und Budgets ihren definierten unternehmerischen Handlungsspielraum. Vorbei wäre es dann mit täglichen Durchgriffen von Ministern und Parlamentariern ins operative Geschäft. Vor allem aber: Die Strukturen müßten auch auf der Ebene der Regierung und des Parlamentes überprüft werden. 

Dazu kommt: Verschiedene heilige Kühe — wie etwa die Unkünd­barkeit von Beamten — müßten geschlachtet werden. Leistungs­bezogene Gehälter wären gefragt. Ein neues Beamten­gesetz wäre erforderlich. Doch es gibt Volksvertretungen — wie etwa der deutsche Bundestag — die zu 70% mit staatlich Besoldeten besetzt sind. Da soll mal einer versuchen, eine Reform des Beamtenrechts durchs Parlament zu bringen.

Auch in der Wirtschaft gibt es Widerstände gegen Veränderungen. Aber es gibt einen besonderen Ansporn zur Lösung von Problemen und zur Steigerung der Leistungsfähigkeit: die allgegenwärtige Bedrohung der Existenz — und der Wille, zu überleben.

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detopia-2014:

Von mir eingefügt.

Regieren geht über studieren. 

Ein politisches Tagebuch (1985-87)

1988 von Joschka (Joseph) Fischer, 213 Seiten

Buch in DNB 

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Dieses Moment fällt im öffentlichen Bereich weg. Es gibt zwar immer wieder löbliche Ausnahmen. Aber aufs Ganze gesehen, ist ein erschreckender Mangel an Erneuerungs­fähigkeit festzustellen. Die Beratungsfirma McKinsey, sonst nicht feige, wenn Kunden "mit Aufträgen drohen", hat in mehreren Ländern bereits vor Jahren aufgehört, Mandate im Bereich der öffentlichen Verwaltung zu übernehmen. Bei zum Teil großangelegten Projekten hatte sich immer wieder gezeigt, daß die Politiker am Schluß nur marginale Teile der Empfehlungen umzusetzen bereit waren. Das könne man sich nicht mehr leisten, so McKinsey, das schade dem guten Ruf einer professionellen Beratungsgesellschaft.

 

  Die Polizei, dein Freund und Helfer  

Die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit ist nicht nur eine der wichtigsten, sondern auch die nach außen sichtbarste Funktion des Staates. Doch ausgerechnet die Sicherheitskräfte, die Rechtsprechung und der Strafvollzug erweisen sich zunehmend als überfordert.

Die Polizei ist nur noch punktuell in der Lage, Schutz vor Verbrechen zu bieten. Außerdem gerät sie immer mehr ins Kreuzfeuer auseinander­driftender gesell­schaftlicher Kräfte. Da wird öffentlich zu zivilem Ungehor­sam aufgerufen. Wer immer Lust dazu verspürt, organisiert eine Demonstration. Aber kein Veranstalter kümmert sich um den Ordnungsdienst. Wenn dann vermummte Randalierer auftreten, Steine fliegen und Autos angezündet werden, fühlt sich niemand zuständig. Das Ganze ist plötzlich eine Angelegenheit des Staates. Und am Ende des Schlamassels ist auch der Sündenbock gefunden: die Polizei. Sie hat zu hart durchgegriffen. Sie hat zu wenig hart durchgegriffen. Sie war nicht dort, wo sie hätte sein sollen. Alle wissen genau, was die Polizei hätte tun sollen — am allerbesten diejenigen, die gar nicht dabei waren.

Der Polizist soll uns Gewalttäter vom Leibe halten — aber wenn er bei einer Konfrontation in der Hitze des Gefechts zu hart zugreift, zu früh schießt oder den Delinquenten nicht genau dort trifft, wo das Reglement es vorschreibt, zieht er sich eine monatelange administrative Untersuchung auf den Hals und wird, wenn ein Fehler festgestellt wird, bestraft. Die Bürgerinnen und Bürger wollen Ruhe und Ordnung. Aber die Polizei soll sich, bitte schön, zurückhalten. Kaum greift sie aktiv ein, wird lauthals auf den "Bullenstaat" geschimpft.

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Wir sind mittlerweile so weit, daß die Polizei in den Medien der "Provokation" beschuldigt wird, wenn sie sich überhaupt zeigt. Statt daß wir froh sind, wenn die Polizei Präsenz markiert, wird sie möglichst von der Bildfläche verbannt. Kommt es dann zu kriminellen Übergriffen, hat die Polizei versagt.

Zugegeben: Es gibt auch bei der Polizei Rüpel, Schläger und Rassisten — und gegen diese muß vorgegangen werden. Man findet nicht immer die besten Leute, und häufig werden sie auch noch einseitig ausgebildet — im Umgang mit der Waffe, nicht aber im Umgang mit Menschen. Doch in den meisten westlichen Ländern kann die Polizei mittlerweile machen, was sie will — sie wird pauschal verunglimpft. 

Eines nicht allzu fernen Tages werden sich für den Polizeidienst nur noch Leute finden, die entweder einen sicheren Arbeitsplatz oder aber die Möglichkeit suchen, von Amtes wegen eine Waffe zu tragen. Möglicher­weise wird man dann auch den Polizeidienst privatisieren und vielleicht den Skinheads übertragen.

In Unterpfundwilen — so die Legende — sieht man eines Tages hinter dem Hügel eine große Rauchsäule aufsteigen. Im Nachbar­dorf Hinterallmendingen muß Feuer ausgebrochen sein. Die Feuerwehr versammelt sich, besteigt das rote Mobil, und ab geht die Post, um den Kollegen zu Hilfe zu eilen. Die einheimische Feuerwehr ist bereits auf dem Platz, ein Haus brennt lichterloh. Doch der Hauptmann läßt das Wendrohr auf die Ankömmlinge richten und brüllt sie an: "Verschwindet hier! Macht schleunigst, daß Ihr nach Hause kommt! Das ist unser Feuerchen!".

Die Tragik dieser Anekdote besteht darin, daß sie ziemlich genau beschreibt, wie heute zwischen kommunalen, regionalen und nationalen Sicherheits­kräften zusammengearbeitet wird. Das internationale Verbrechen operiert hochprofessionell, blitzschnell und großräumig. Jeder arbeitet mit jedem zusammen, wenn es der Sache dient. Die unterschiedlichen Polizeiorgane aber verstricken sich in Revier- und Zuständig­keits­gerangel. Und wenn dann jemand wegen Ineffizienz Prügel bezieht, sind es wiederum die Beamten im operativen Bereich. Niemand jagt die Politiker zum Teufel, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben.

In den ersten Septembertagen 1997 wurde in Zürich ein spektakulärer Postraub verübt. Maskierte Räuber entkamen mit einer Beute von 56 Millionen Schweizer Franken. Die Kriminalpolizei kam innerhalb von Tagen auf eine heiße Spur. Ein Dutzend Verdächtige, darunter der mutmaßliche Bandenchef, konnte verhaftet, ein Teil der Beute, etwas über 20 Millionen Franken, in einer Wohnung sichergestellt werden. Die flüchtige Wohnungs­inhaberin wurde sofort international zur Fahndung ausgeschrieben und konnte tatsächlich kurz darauf in Mailand festgenommen werden. Zwei Tage später schlug die Bombe ein: Die italienischen Behörden hatten die Verdächtige wieder auf freien Fuß gesetzt — ohne die Schweizer, die sofort ein Auslieferungsgesuch gestellt hatten, auch nur zu informieren. Es gibt nicht nur Unprofessionalität, Schlamperei und mangelnde Koordination. Es gibt auch gezielte Obstruktion.

Doch die mit Abstand größte Gefahr droht ganz woandersher. Dem Staat geht das Geld aus.

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  Von der Hand in den Mund  

Ob auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene: Die Aufgaben des Staates nehmen an Zahl und Komplexität zu, die Sozial­kosten explodieren — das Einkommen aber geht in den Keller. Arbeitslosigkeit, Konkurse, Kapitalflucht und Steuer­hinter­ziehung führen zu einem dramatischen Einbruch der Steuer­einnahmen. Und hier zeigt sich die Überforderung der Politik am aller­deutlichsten.

Da wird von allen so getan, als hätten wir es mit einer momentanen konjunkturellen Schwankung zu tun. Von Jahr zu Jahr wurstelt man sich durch — den Blick immer erwartungsvoll auf den unmittelbar bevor­stehenden Aufschwung gerichtet. Man spart hier und spart da. Man stellt längst fällige Investitionen zurück. Man streicht gar die Ausgaben für den normalen Unterhalt zusammen — wohl wissend, daß das Schicksal einen einholen und dem Fiskus wenig später um so teurere Reparaturen und Ersatzinvestitionen bescheren wird. Man baut Leistungen ab. Man erhöht nochmals den ohnehin schon beängstigenden Schulden­berg. Ja, man beginnt gar mit dem Ausverkauf der staatseigenen Immobilien, um mit dem Haushalt für ein weiteres Mal gerade noch knapp über die Runden zu kommen. Denn nächstes Jahr, wenn nicht schon vorher, wird ja alles ganz anders sein. 

Und um zu demonstrieren, daß es seine Rolle als Kontrollinstanz ernst nimmt, straft das Parlament kurzerhand den Finanzminister für schlechte Leistungen ab — als ob die Strukturschwäche der Wirtschaft, die steigenden Arbeitslosenzahlen, die explodierenden Sozialkosten, die Abwanderung des Kapitals und die Schwindsucht der Steuereinnahmen im Finanz­ministerium zu verantworten wären.

Und die sogenannten staatstragenden Parteien, denen die Volksvertreterinnen und -vertreter ja nun mehrheit­lich entspringen — ist von ihnen Hilfe zu erwarten? Weit gefehlt! Sie investieren den größten Teil ihrer Zeit und Energie in das längst zum Ritual gewordene Gezänk untereinander. Jede versucht, auf Kosten der anderen ihre Süppchen zu kochen. Keine beschäftigt sich unter langfristigen Gesichtspunkten mit der Zukunft. Keine sagt der Bevölkerung, was mittel- und längerfristig auf sie zukommt.

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Programmierte Pleite

 

Aufgrund der fortschreitenden Globalisierung konzentrieren sich Geld und Macht immer mehr um zwei Pole. Erstens, bei einer immer kleineren Gruppe immer größerer Industrie-, Banken- und Versicherungs­konzerne. Zweitens, bei einer Vielzahl von Gruppen des organisierten Verbrechens. Und letztere erwerben schrittweise größere Anteile an der ersten.

Der Staat dagegen ist — und zwar je demokratischer, desto ausgeprägter — national, regional und lokal organisiert. Der Parlament­arismus ist angesichts der heute herrschenden Probleme total überfordert und degeneriert auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene immer mehr zu einem Schmierentheater. Der Staat wird gleich in zweifacher Hinsicht schrittweise, aber systematisch ausgepowert: Seine Autorität wird untergraben und die Finanzkraft wird ihm entzogen. Er gleitet mehr und mehr ab in die Bedeutungs­losigkeit. 

Dies ist die bittere Erkenntnis: Die parlamentarische Demokratie wird den heute gestellten Anforderungen nicht mehr gerecht. Ihre Vorausschau reicht nicht bis morgen, und ihre Mühlen mahlen viel zu langsam. Die schnellebige Zeit rauscht ganz einfach an ihr vorbei. Sie bleibt nach wie vor eine interessante Spielwiese für eine dünne Schicht äußerst geschäftiger Akteure und Akteurinnen, die sogenannte "classe politique". Aber sie ist zunehmend nicht mehr wirklich von Belang.

Kein größeres Unternehmen, dessen Strukturen älter sind als fünf oder sechs Jahre, könnte heute überleben. Die staatlichen Strukturen vieler Länder sind 50 oder 100, im Falle der Schweiz gar 150 Jahre alt. Sie stammen aus ganz anderen, vergangenen Zeiten und müßten dringend erneuert werden. Dies würde bedeuten: Parlaments­reform, Regierungsreform, Revision von Gesetzen, in vielen Fällen gar eine Verfassungsänderung.

Doch da beißt sich die Katze in den Schwanz: 

Die Meinungsbildungs- und Entscheidungs­vorbereitungs­prozesse, ob man all dies tun soll — und womöglich auch noch wie — müßten innerhalb eben dieses erstarrten, ineffizienten und überforderten Apparates ablaufen. Noch schlimmer: Die Energie, so etwas überhaupt zu wollen, müßte aus diesem Apparat kommen. Denn wer, wenn nicht das Parlament, sollte so etwas einleiten und durchziehen können?

Aber die politische Klasse, Ausfluß des herrschenden Parteiensystems, ist zu verfilzt. Es dominiert nicht die Frage: "Was nützt dem Volk?", sondern "Was ist gut für die Partei?" Wilhelm Hennis,* namhafter ehemaliger Professor für Politikwissenschaft in Freiburg: "Die parlament­arische Demokratie, mit ihrer Mitte in einem lebendigen Parlament, ist durch Macht­erhaltungs­institutionen des Parteien­staates überwuchert und verschlissen worden."

 

So ist niemand da, der das Ganze betrachtet und sich über die Zukunft Gedanken macht. Niemand hat den Mut zu extrapolieren. Die Beurteilung der Lage wird laufend den aktuellen Gegebenheiten angepaßt — von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Aber das Nachführen des Kassenbuches genügt nicht, um die Zukunft zu bewältigen. Niemand fragt: Was wird in zehn oder zwanzig Jahren sein — wenn nicht grüne Männchen vom Mars kommen und alles für uns richten?

Das dringlichste und unmittelbar gefährlichste Problem ist zweifellos die sich dramatisch zuspitzende Finanzkrise des Staates. Es wäre schon schwierig genug, hier überhaupt einen Ausweg zu finden. Aber die Politik ist noch nicht einmal in der Lage, das Problem zu erkennen. Und für Probleme, die nicht erkannt sind, gibt es keine Lösungen. Die Überforderung des Systems ist komplett, die Pleite nur noch eine Frage der Zeit.

Der Staat ist die einzige legitime Steuerungsinstanz, die wir haben. In den Zeiten, die kommen, hätten wir diese bitter nötig. Was die Gesellschaft hier geschehen läßt, wird — unter langfristigen Perspektiven — tragische Konsequenzen haben.

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* (d-2014:)  wikipedia  Wilhelm Hennis  1923-2012

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