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17.  Der Mensch — ein irrationales Wesen 

 

 

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Es sind schon die verschiedensten Versuche unternommen worden, präzise zu definieren, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Zuerst glaubte man, es sei die Intelligenz. Aber auch Tiere verfügen über Intelligenz. Sie ist nur nicht so hoch entwickelt. Dann war man längere Zeit der Meinung, Kultur unterscheide den Menschen grundsätzlich vom Tier. Aber auch dies erwies sich als nicht ganz richtig. Schimpansen zeigen zumindest Ansätze von Entwicklung unterschiedlicher Kulturen.

Der derzeitige Stand der Erkenntnis lautet: Der Mensch ist das fragende Wesen.

Tiere stellen keine Fragen. Sie handeln im unmittelbaren Auftrag der Natur. Es gibt nichts, was den Menschen so klar vom Tier unter­scheidet wie die Frage: "Warum?" Mit der Sprache und dem Denken in Ursache-Wirkung-Zusammen­hängen hat der Mensch gelernt, Fragen zu stellen und Fragen zu beantworten. Die einfache Frage "Wie geht es dir?" ist — echtes Interesse vorausgesetzt — etwas zutiefst Menschliches.

Fragen stellen, Zusammenhänge verstehen und planvoll handeln zu können, ist etwas Großartiges. Aber es ist auch eine Last. Denn es gibt nicht auf alle Fragen befriedigende Antworten. Wer aber, wie der frühe Mensch, gelernt hat, daß folgerichtige Schlüsse für das eigene Überleben von entscheidender Bedeutung sind, der ist zutiefst verunsichert, wenn er mit Fragen konfrontiert wird, auf die er keine Antwort findet. Wissen heißt Sicherheit, Nichtwissen bedeutet potentielle Gefahr. Nichts ist für die Menschen so schwer zu ertragen wie Ungewißheit.

   Antworten auf offene Fragen  

Bitte versetzen Sie sich einmal in die Lage früherer Menschen, die in einer Gruppe von zwanzig Individuen in der freien Natur in ständiger Gefahr um ihr Leben kämpften. Sie fanden nicht immer Wasser und Nahrung. Sie hatten nicht immer ein schützendes Dach über dem Kopf. Sie litten unter Parasiten. Sie mußten ununter­brochen auf der Hut sein vor wilden Tieren. Sie wußten nie, wann sie von irgend­welchen Horden überfallen und vertrieben oder getötet würden. Sie lebten in permanenter Ungewißheit. Sie lebten in ständiger Angst.

Allein schon die Vorgänge in ihrem täglichen Leben — das Verhalten des Wildes, das Auf- und Untergehen der Sonne, des Mondes und der Sterne, die Wolken, der Wind und der Regen — waren für sie zunächst nur erlebbar, nicht erklärbar. Sie waren nicht zur Schule gegangen, hatten keine Universität besucht, konnten in keinem Lexikon nachschlagen. Sie waren mit Ereignissen konfrontiert. Die Ursachen blieben ihnen verborgen. Sie konnten fragen "Warum?" — aber es gab keine Antworten.

Und nun stellen Sie sich vor, was für Empfindungen erst außergewöhnliche Ereignisse bei Ihnen ausgelöst hätten — zum Beispiel ein riesiger, perfekt runder und in prächtigen Farben leuchtender Bogen am Himmel, der aus dem Nichts erscheint und auf ebenso geheimnisvolle Weise wieder verschwindet.

Oder: Sie rufen in Richtung einer Felswand, und der Berg ruft mit Ihrer Stimme zurück, ja, er scheint Sie gleichsam nachzuäffen; in Ihrer Nähe gibt es einen grellen Lichtschein, einen entsetzlichen Schlag — und ein Baum steht in Flammen; die Erde, auf der Sie stehen, das sicherste und stabilste, was Sie kennen, fängt plötzlich an zu zittern und zu beben; der Fluß wird größer und größer, tritt über die Ufer, das ganze Land, so weit das Auge reicht, steht plötzlich unter Wasser, und wer nicht auf einen Baum klettern kann, ertrinkt; ein Teil des Berges stürzt herunter, verändert die Landschaft, und der Eingang Ihrer Höhle ist verschwunden; am Horizont erscheint eine riesige Schlange, die immer näher kommt — und plötzlich bricht ein unvorstellbarer Sturm los, der Bäume knickt wie Grashalme und in wenigen Augenblicken alles verwüstet; mehrere Mitglieder Ihrer Sippe essen eines Tages nichts mehr, werden immer schwächer, und bleiben schließlich regungslos am Boden liegen. Sie wachen nicht mehr auf. Die Sippe ist plötzlich ganz klein geworden.  

Lauter Fragen: "Warum?" — und keine Antworten. Wie wäre Ihnen da zumute?

Die damaligen Menschen hatten keinen Grund, sich als "Krone der Schöpfung" zu betrachten. Sie hatten nicht das Gefühl, die Erde sei ihnen Untertan. Sie empfanden sich selbst als ganz klein und schwach. Und sie kamen zu dem Schluß, daß es offenbar unsichtbare, höhere Mächte gibt, denen sie hilflos ausgeliefert waren. Nicht das erbärmliche Häuflein Menschen bestimmte, was zu geschehen hatte — höhere Wesen bestimmten, was mit den Menschen passierte.

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Die Menschen hatten einen heiligen Respekt vor den unsichtbaren Mächten, die sich in all diesen gewaltigen Erscheinungen ausdrückten. Die ganze Natur war geheimnisvoll belebt und beseelt. Die Menschen waren Teil dieser Natur. Sie hatten eine Seele. Aber alle anderen hatten auch eine Seele — die Pflanzen, die Tiere, die Steine, das Wasser, die Sonne, der Mond. Alles gehörte zusammen. Alles mußte einen tieferen Sinn haben, denn es paßte alles zusammen, es griff alles ineinander.

Die Menschen versuchten sich das, was um sie herum geschah, zu erklären. Sie gingen von Annahmen aus, die ihnen plausibel erschienen — Annahmen, die es ihnen erleichterten, sich in einer geheimnisvollen Welt zurechtzufinden und das gefährliche Leben zu meistern. Die Menschen hatten angefangen, an höhere Mächte zu glauben.

 

   Der Jäger und sein Wild  

Alles, was das Leben der Menschen prägte und für ihr Überleben von Bedeutung war — die Jagd, das Wild, die Sexualität, die Fruchtbarkeit, die Geburt neuen Lebens — war "heilig" und hatte einen tiefen Sinn. Zwischen dem Jäger und seinem Wild bestand eine besonders enge, bedeutungsvolle Beziehung. Einerseits mußte man das Wild jagen und Tiere töten, um sich selbst zu ernähren. Anderseits hatten diese Tiere eine Seele, genauso, wie man selbst eine Seele hatte. Diese Tiere hatten ja auch das gleiche Lebenselixier in ihrem Körper wie der Mensch. Menschen hörten genauso auf, zu leben, wenn das Blut aus ihrem Körper floß, wie die von ihnen gejagten Tiere. Mensch und Tier waren gleichgestellt. Alle waren Teil ein und derselben Natur. Die höheren Mächte waren nicht nur für die Menschen da, sondern auch für die Tiere.

Für die Menschen war es lebenswichtig, sich mit den unsichtbaren Mächten gut zu stellen. Diese konnten einem helfen, ja das Leben retten. Sie konnten aber auch strafen, einen gar vernichten. Man war gut beraten, sie gnädig zu stimmen. Man brachte ihnen Opfer dar. Wenn man ihnen etwas vom erlegten Wild — zumal die besten Stücke, vorab das Gehirn — darreichte, konnte man mit ihrem Wohlwollen rechnen.

Die Beziehung zu den höheren Mächten bedeutete für die Menschen, daß sie nicht völlig ohnmächtig einem unbekannten Schicksal ausgeliefert waren. Man konnte selbst etwas dazu beitragen, sein Schicksal positiv zu beeinflussen. Und wenn man trotzdem von einem schweren Schicksalsschlag getroffen wurde, wußte man zumindest: Auch dies hatte seine tiefere Bedeutung. Es war nicht einfach ein sinnloser Zufall.

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  Das Leben und der Tod  

Die frühesten Hinweise auf religiöse Handlungen, die bisher gefunden wurden, sind ungefähr 30.000 Jahre alte Gräber. Das Bestatten der Toten läßt darauf schließen, daß die Menschen damals an ein Leben nach dem Tode geglaubt haben. Dies sind jedoch nur die frühesten Funde. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß es nicht schon viel früher religiöse Riten gegeben hat. Im Gegenteil, alles spricht dafür, daß religiöse Gefühle, Vorstellungen und Handlungen so alt sind wie die Sprache, das Bewußtsein und das Denken.

Mit dem ersten aufkeimenden Bewußtsein erhob sich für den frühen Menschen die Frage nach dem Ursprung und Sinn des Lebens, aber auch die Frage nach der Bedeutung des Todes — quälend und drängend. Es mußte eine vom Körper unabhängige Seele geben, denn Menschen, deren Körper kalt geworden war und sich nicht mehr bewegte, traten in seinen Träumen wieder in Erscheinung — genau wie zu Zeiten, als ihr Körper noch lebte. Diese "Erkenntnis" war für den Menschen tröstlich, denn das Leben war äußerst gefährlich. Man war selbst ständig in Gefahr, ums Leben zu kommen. Die Aussicht, daß danach nicht alles einfach vorbei sein würde, machte es einem viel leichter, sich mutig einzusetzen bei der Jagd oder bei der Verteidigung. Die Angst, die einen manchmal fast zu lähmen drohte, konnte erheblich reduziert, blockierte Energie freigesetzt werden. Der Glauben an ein Leben nach dem Tod war ein Überlebensvorteil — nicht für das Individuum zwar, aber für die Sippe.

Bis heute verschafft der Glaube an ein Leben nach dem Tode den Menschen Kraft und Gelassenheit. Die Aussicht auf ein Jenseits läßt die Menschen auch schwerste Schicksale ertragen. Die in tiefster Armut lebenden Mitglieder der Kaste der "Unberührbaren" in Indien hadern nicht mit ihrem Schicksal. Sie wissen: Im nächsten Leben werden sie zu den Privilegierten gehören. Und wenn junge Männer glauben, daß sie sich damit einen besonders guten Platz im Jenseits verdienen können, lassen sie sich mit Freuden in einem "heiligen Krieg" für Selbstmord­kommandos einsetzen.

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   In guten Händen  

Eine alte Bekannte von mir war eine Bäckersfrau. Sie und ihr Mann hatten sich aus ärmlichsten Verhält­nissen hochgearbeitet und zuletzt eine eigene, schmucke Dorfbäckerei betrieben. Die beiden hatten sich immer gern gehabt und das Leben gemeinsam gemeistert. Im Alter von 56 Jahren starb der Mann völlig überraschend an einem Herzversagen. Sie stand plötzlich als Witwe allein im Leben. Das war vor über 40 Jahren. Heute, als steinalte Frau, spricht sie noch immer von ihrem Mann, als befände er sich auf einer langen Reise. 

Ich habe sie in all diesen Jahren nie weinen sehen. Sie ist eine gläubige Frau. Sie war von Anfang an der Überzeugung, es sei Gottes Ratschluß gewesen, daß ihr Mann so früh sterben sollte. Und wenn es Gottes Ratschluß war, dann war es richtig so. Sie wird mit ihrem Mann im Jenseits wieder zusammen sein. Sie hat nie gejammert. Sie hat die vielen Jahre, die sie ohne ihren Mann leben mußte, auf ihre Weise sogar genießen können. Sie war immer fröhlich, zufrieden und ausgeglichen. Heute würde sie gerne sterben, denn sie ist 99 Jahre alt und ans Bett gebunden. Aber auch das wird der liebe Gott für sie regeln. 

Die Menschen haben ihre Bilder von den höheren Mächten immer nach ihren tiefsten Sehnsüchten gestaltet. Meine Frau Mama hat sich seinerzeit vor allem einen nachsichtigen Gott gewünscht. "Wenn es einen Gott gibt", hat sie einmal gesagt, "dann hat er bestimmt Humor. Er wird über vieles lächeln, was ich in meinem Leben verbrochen habe." 

   Am Anfang war das Gefühl    

Wer menschliches Verhalten besser verstehen lernen will, muß als erstes von einem weit verbreiteten Irrtum Abschied nehmen — von der Vorstellung nämlich, unser Denken und Handeln werde in erster Linie durch unseren Verstand bestimmt. Die tieferen Gründe für alles, was Menschen wirklich bewegt und antreibt, liegen im emotionalen Bereich. Unsere Intelligenz ist ein überaus nützliches Instrument — aber wofür es eingesetzt wird, das entscheiden tiefe, bei weitem nicht immer bewußte Gefühle: Wünsche, Bedürfnisse und Triebregungen, Neigungen und Abneigungen, Liebe und Haß.

Der Verstand hilft uns, ein schwieriges Unterfangen — eine Weltreise, den Bau eines Hauses, einen Hochschul­abschluß, eine Beförderung in die Direktion — erfolgreich zu gestalten. Aber welche Ziele wir uns setzen, und mit welcher Entschlossenheit wir sie verfolgen — das hängt ausschließlich von unseren persönlichen Wünschen und Bedürfnissen ab. Und unsere schöpferische Kraft, unsere Phantasie, der Inhalt unserer Träume und Tagträume — all dies hat wenig bis nichts mit unserer Intelligenz zu tun; es entspringt unserer Gefühlswelt.

In diesem Punkt unterscheiden wir uns überhaupt nicht von den höher entwickelten Säugetieren: Wir werden gesteuert von unseren Gefühlen. Gefühle sind die überlebens­notwendigen Signale, die uns sagen, was wir anstreben und was wir vermeiden sollen. Ohne Lustprämie auf Sex würde keine Art lange überleben, und ohne Ärger, Wut oder Empörung würde sich kaum jemand besonders kräftig für seine Interessen zur Wehr setzen.

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   Katakomben der Seele  

Seit Sigmund Freud wissen wir, daß das Seelenleben des Menschen über mindestens drei klar unter­scheidbare Etagen verfügt: das Bewußte, das Vorbewußte und das Unbewußte. Das Bewußte beinhaltet alle Ideen, Gedanken, Vorstellungen und Empfindungen, die jederzeit sofort abgerufen werden können. Im Vorbewußt­sein ist alles gespeichert, was nicht sofort klar verfügbar ist, mit einiger Anstrengung aber hervorgeholt werden kann — Ahnungen, Halbvergessenes, Unbequemes, Lästiges. Der Zugang ist erschwert, aber nicht unmöglich. Das Unbewußte ist eine besonders interessante Etage: der tiefe, dunkle Keller, in dem sich all das befindet, was uns selbst verborgen bleibt. Der Zugang ist versperrt. In diesem Verlies befinden sich Dinge, die wir aus unserem bewußten Leben heraushalten wollen — ja, vielleicht aus ganz bestimmten Gründen heraus­halten müssen. Wünsche, Bedürfnisse, Triebregungen, Gefühle oder Einsichten, die uns das Leben schwer machen würden, werden gewisser­maßen begraben. Sie verschwinden in der Versenkung. Sie sind — mit Freuds Worten — verdrängt.

   Entsorgung des Unerwünschten   

Es können sexuelle, erotische oder aggressive Impulse sein, die der Mensch verdrängt, um Konflikte mit dem Umfeld zu vermeiden. Besonders quälende Ängste, Gewissensbisse oder Schuldgefühle können verdrängt werden, weil sie einen in Konflikt bringen würden mit dem, was man tut, und der Art, wie man lebt. Schwere Bedrohungen können verdrängt sein, weil die Angst vor einer eventuell ausweglosen Situation so groß ist, daß sie einen lähmen würde — oder aber, weil man die grundlegenden Veränd­erungen scheut, die man in seinem Leben vornehmen müßte, um der Bedrohung wirksam zu begegnen. 

So kommt es beispiels­weise, daß viele Menschen gar nicht wissen wollen, wie es um ihre Zukunft steht, wenn der Arzt im Zusammenhang mit einer ernsthaften Krankheit Untersuchungen vorgenommen hat. Sie fühlen sich der seelischen Belastung nicht gewachsen, die mit dem Bewußtsein, bald sterben zu müssen, verbunden wäre.

Die Redensart "Der Wunsch ist der Vater des Gedankens" enthält eine tiefe Weisheit. Sowohl einzelne Individuen als auch Gruppen, Völker und Nationen neigen dazu, die Wirklichkeit so zu gestalten, daß sie vor sich selbst und anderen ein respektables Bild abgeben; daß ihre Art zu leben als rechtens, ihre Überzeugungen als "richtig" erscheinen. Dazu gehört notwendiger­weise, alles auszublenden — das heißt für sich selbst "nicht existent" zu machen —, was dieses Bild stören würde. "Das Gesicht verlieren" — vor sich selbst oder vor anderen — gehört nicht nur für die Asiaten zu den unerträglichsten Kränkungen.

Doch mit verdrängten Gefühlen und Triebimpulsen ist es wie mit gefährlichen Sonderabfällen: Damit, daß man sie vergräbt, ist das Problem nicht aus der Welt. Die Wirkung bleibt erhalten — und wo immer es Lecks und Ritzen gibt, dringt sie nach außen. Auf die eine oder andere Weise verschaffen sich die verdrängten Gefühle Beachtung. Sie sind es letztlich, die die Agenda des Menschen bestimmen. Seine Intelligenz hilft ihm lediglich, Argumente zu finden, um das Ganze vor sich selbst und den anderen vernünftig und plausibel erscheinen zu lassen. Der Mensch bastelt sich seine eigenen Mythen. Er gestaltet sein Bild von der Wirklichkeit — von der Vergangenheit, von der Gegenwart und von der Zukunft — so, daß er sein Leben möglichst von seelischen Belastungen sowie von Problemen mit seinem Umfeld freihalten kann. 

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Christoph Lauterburg   Fünf nach Zwölf