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18 - Gesetze des Lebens     Lauterburg-1998

 

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Wenn man die Vorgänge in und zwischen Menschengruppen, Gesellschaften oder Nationen verstehen will, muß man nach den emotionalen Kräften suchen, die die Menschen bewegen. Sowohl ihr Denken als auch ihr Handeln wird von Bedürfnissen und Interessen, Neigungen und Abneigungen bestimmt. Die Suche nach den Motiven führt zu den Lösungen der Rätsel — im realen Leben genauso wie in den Romanen

Nun hat zwar jeder Mensch individuelle Interessen und Abneigungen. Aber es gibt einige allgemeingültige Gesetze. Wer sie kennt, hat es leichter, das scheinbar widersprüchliche und verwirrende Geschehen auf dieser Welt zu verstehen.

   Prinzip Nr. 1  :  Lust und Unlust  

Dies ist das erste und wichtigste: Der Mensch sucht Lust und vermeidet Unlust. Er tut dies von der ersten Stunde seines Lebens an — und er tut es bis an dessen Ende. Bereits der Säugling schreit, wenn er Hunger hat, und lächelt, wenn er zufrieden ist. Ganz am Anfang gibt es nur wenige, dafür aber besonders wichtige Zustände und Mißstände: Hunger und Durst, Wärme und Kälte, Schmerz oder Wohlbefinden.

Bald aber wird weiteres als lustvoll erlebt oder schmerzlich vermißt: Liebe und Zärtlichkeit; Aufmerksamkeit und Zuneigung; Bewegungs­freiheit und Handlungs­spielraum. Alles, was in dieser Zeit wichtig ist, wird wichtig bleiben — für das ganze Leben.

Man kann Kinder so erziehen, daß sie verlernen, ihre Gefühle zu zeigen, ja ihre eigenen Gefühle überhaupt wahrzunehmen. Sie entwickeln sich dann zu Erwachsenen, die scheinbar gefühllos, gleichsam wie elektronisch gesteuerte Roboter durchs Leben gehen.

Auch sie sind Menschen mit Gefühlen. Aber ihre Gefühle sind verdrängt. Sie werden nur indirekt wirksam. Man muß solchen Menschen sehr nahe stehen, um den weichen Kern hinter der harten Schale zu erkennen.

Man kann Kinder ohne Liebe und Nestwärme aufwachsen lassen. Dann verkümmert ihre Gefühlswelt. Sie empfinden null und nichts, wenn sie anderen Menschen weh tun. Doch auch sie empfinden Lust und Unlust. Auch sie haben Interessen, setzen sich Ziele, und tun alles, um sich Vorteile zu verschaffen. Aber es geschieht immer auf Kosten anderer. 

Und man kann Kinder in einem Klima der Schuld und der Angst aufwachsen lassen. Man kann ihnen einhämmern, daß alles, was Lust bringt, des Teufels ist; daß man nicht an sich selbst, sondern immer an die anderen denken soll; daß man dankbar sein soll dafür, daß man überhaupt leben darf. 

Es wachsen Menschen heran, die in ihrem Leben nur dann Befriedigung empfinden können, wenn sie sich für andere aufopfern. Ja, es können Menschen so weit gebracht werden, daß sie nur dann sexuelle Lust empfinden können, wenn ihnen Schmerz zugefügt wird. Keine Lust ohne Strafe — und die Strafe immer zuerst. 

Es gibt mehr solche Menschen, als man denken würde. Sie müssen komplizierte Wege beschreiten, um Befriedigung empfinden zu können. Doch so schwer es fallen mag, dies nachzuempfinden: Auch sie suchen Lust und versuchen, Unlust zu vermeiden — auf ihre Weise.

   Prinzip Nr. 2: Versuch und Irrtum  

Kaum hat das Leben richtig begonnen, wird das kleine Menschlein mit dem ersten großen Problem konfrontiert. Es muß feststellen, daß Lust nicht jederzeit sofort befriedigt, Unlust nicht immer konsequent vermieden werden kann. Die Mutter erscheint nicht immer, wenn man nur jammert. Manchmal muß man schreien, bis einem fast die Puste ausgeht. Dies ist höchst anstrengend. Mal muß man frieren, mal ist es unter all den Decken so heiß, daß man fast erstickt. Oder dann machen die Leute um einen herum einen derartigen Lärm, daß man nicht in Ruhe schlafen kann. Kurz, man macht Bekanntschaft mit Ärger. Später wird man sich gewählter ausdrücken und von Frustration sprechen.

Doch damit nicht genug. Es kommt der Tag, an dem man dieses eine, häßliche Wort zum ersten Mal hören und zur Kenntnis nehmen muß: "Nein!" "Es gibt jetzt keine Schokolade" (Sauerei!). "Ich habe jetzt keine Zeit" (und ich dachte immer, die sei für mich da!). "Du sollst nicht alles anfassen" (sind wir hier in einem Museum?).

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"Du darfst Dein Brüderchen nicht hauen" (habe ich aber Lust zu!). "Keine Geschichten mehr, du gehst jetzt ins Bett" (was soll ich dort, wenn ich gar nicht müde bin?). "Hör auf zu plärren!" (das fehlte gerade noch — nicht einmal mehr weinen darf man hier, wenn man traurig ist!).

Es hat das Lernen begonnen. Über Versuch und Irrtum wird herausgefunden, was funktioniert und was nicht funktioniert; was man darf und was man nicht darf; bei was man gelobt und bei was man bestraft wird; wann man mit Zuneigung rechnen darf, und wann einem die Liebe entzogen wird. Und man stellt fest: Es ist außerordentlich mühsam, immer wieder ins gleiche Messer zu laufen. Auch wenn man nicht immer versteht, was warum läuft, und was warum nicht — es lohnt sich nicht, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Das setzt nur Beulen ab. Besser, man wählt Wege des geringeren Widerstandes.

So lernt der Mensch neue Strategien. Geduld kann sich auszahlen. Wohlverhalten kann äußerst nützlich sein, wenn man etwas Besonderes erreichen will. Überhaupt lohnt es sich, sein soziales Umfeld zu pflegen; die Leute reagieren ganz anders, wenn man sie gut behandelt. Und, ganz wichtig: Wenn man alle anderen gegen sich hat, ist es besonders schwierig, den eigenen Kopf durch­zusetzen. Manchmal gelingt es, erst mal eine Verbündete oder einen Verbündeten zu gewinnen — und plötzlich geht alles viel leichter. Und wenn keine Verbündeten in Sicht sind, muß man halt verhandeln — gibst du mir dies, gebe ich dir das. Wirkt nicht selten Wunder. Diplomatisches Geschick muß man haben!

Das Menschlein entwickelt sich prächtig. Es hat gelernt, mit anderen auszukommen. Es hat gelernt, sozial­verträgliche Wege zu finden, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Es entwickelt immer intelligentere Strategien. Aber die Ziele bleiben die gleichen. Es geht nach wie vor um das Gewinnen von Lust und um das Vermeiden von Unlust.

   Prinzip Nr. 3 : Macht und Ohnmacht  

Dies ist der dritte und letzte große Lernpunkt: Es gibt Situationen, da nützt kein Charme, kein Schmoll­mündchen, keine Krokodils­träne und kein Wutschrei etwas — man hat ganz einfach schlechte Karten. Andere wollen etwas anderes, sie sind stärker, und es ist ihnen hundewurst und schnorz, was ich möchte. Sie haben die Macht, und ich habe keine. Da kann von Glück reden, wer dies bereits in der guten Stube zu Hause vorgekostet hat — und nicht als halb oder ganz erwachsener Mensch im bösen Leben draußen erstmals voll in so einen Hammer läuft.

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Wer nicht rechtzeitig erkennt, wann er schlechte Karten hat, hat es schwer im Leben. Denn wo Macht einseitig verteilt ist, versagen alle sonst wirksamen Strategien. Da ist nichts mit Auf-den-Tisch-Hauen, da finden sich keine Verbündeten, und wenn man verhandeln will, wird man noch ausgelacht. 

Da ist guter Rat teuer.

Am allerschlimmsten ist es, wenn man genau weiß, daß man im Recht ist und die anderen im Unrecht. Wenn das, was diese Leute tun, böse ist. Wenn sie andere Menschen schlecht behandeln. Wenn sie es sich auf Kosten anderer gut gehen lassen. Wenn die letzte Waffe — den Übeltätern ins Gewissen zu reden — sich auch als stumpf erweist. Wenn sich zeigt: Sogar Moral ist ihnen schnuppe. Sie sind stärker. Sie haben die Macht. Sie wissen das. Und alles andere schert sie einen Dreck. Manch einer muß verhältnismäßig spät in seinem Leben nochmals gründlich umlernen. 

Da hat man immer geglaubt, wenn man sich schön brav an allgemeingültige Normen und Regeln hält, hätte man es einfacher im Leben. Man könne sich darauf verlassen, daß die anderen sich auch daran halten. und jetzt muß man plötzlich feststellen: Es gibt Leute, die halten sich überhaupt nicht daran — und können noch nicht einmal ordentlich bestraft werden.

Dies ist die bittere Pille: Es genügt nicht, Recht zu haben; es genügt nicht, Gesprächs- und Verhandlungs­bereitschaft zu zeigen; es genügt nicht, ein guter Christ zu sein. Es gibt Situationen, da muß man auch Macht haben — sonst zieht man den Kürzeren, und zwar völlig unabhängig davon, ob das, wofür man sich engagiert, eine gute Sache ist oder nicht.

Manch einer aber hat schon früh gelernt, wie man Macht aufbaut. Man muß viele Verbündete und Mitstreiter haben. Man muß gut organisiert sein. Nur dann ist Gewähr geboten, daß man seine Ziele auch wirklich erreichen, seine Interessen auch gegen Widerstände durchsetzen kann. Denn es gibt immer welche, die etwas anderes wollen. Und in letzter Konsequenz entscheidet nicht das Recht und nicht die Moral, sondern die Macht darüber, wer gewinnt.

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   Organisation ist Macht  

Mit der Viehzucht und dem Ackerbau hat der Mensch gelernt, durch Organisation Macht gezielt auf- und auszubauen. Er hat die Erfahrung gemacht, daß organisierte Interessen sich durchsetzen und nichtorganisierte Interessen auf der Strecke bleiben — unabhängig davon, welche Interessen "legitim" sein mögen, ja zum Teil sogar unabhängig davon, was für Bedürfnisse und Interessen die Mehrheit haben mag. Die am besten organisierte Macht setzt sich durch — gegen alle anderen.

Seit Tausenden von Jahren gehen alle großen Entwicklungen und Veränderungen auf organisierte Interessen zurück — Kriege und Revolutionen; der Aufbau von Staaten, Kirchen, Wirtschaftsunternehmen oder Gewerkschaften. Zahllose Kulturen sind unter­gegangen, Völkerstämme ausgerottet worden — nur weil sie nicht genügend Macht hatten, sich gegen Eroberer, die besser organisiert und bewaffnet waren, zur Wehr zu setzen.

Doch es braucht gar nicht um Mord und Totschlag, Unterdrückung und Ausbeutung zu gehen. Auch in einer funktionierenden Demokratie läuft nichts ohne Macht — und wo immer sich etwas bewegt, ist gut organisierte Macht am Werk. Dies sind die Machtträger: das Parlament, die Regierung, die Verwaltung, die Parteien, die Gewerkschaften, die großen Wirtschafts­unternehmen und Wirtschafts­verbände, große Berufsstände und Inter­essen­gruppen sowie — last but not least — die Medien. Sie können sich Gehör verschaffen, sie können zur Durchsetzung ihrer Interessen Macht mobilisieren. Nichtorganisierte Interessen dagegen haben nicht die geringste Chance, auch nur gehört zu werden. Wer keine Lobby hat, dringt gar nicht erst zu den Zentren der Macht durch.

    Interessen regieren die Welt  

Als Christoph Kolumbus in seiner ersten großen Krise steckte — der Königshof hatte ihn fallengelassen und sein Lebensprojekt, die Westpassage nach Asien suchen und finden zu können, schien gescheitert —, da tauchte völlig unerwartet ein reicher Mann auf und bot sich an, die Expedition zu finanzieren. Kolumbus fragte als erstes mißtrauisch: "Warum wollt Ihr das tun?" Der Mann antwortete ohne zu zögern: "Aus Gottesfurcht; aus Menschenliebe; aus Hilfsbereitschaft. Und im übrigen ist das wichtigste Motiv bekanntlich immer Geld. Ich glaube, daß es sich für uns lohnen wird."

Das wichtigste Ziel der meisten Menschen heißt Geld. Für nichts anderes legen sich soviele Menschen ins Zeug, für nichts werden so viele Organisationen auf die Beine gestellt, für nichts so hohe Risiken in Kauf genommen, für nichts so schwere Verbrechen begangen. 

Und auch da, wo vorgegeben wird, es drehe sich alles ausschließlich um das Gemeinwohl, ist es ratsam, genau hinzugucken und zu fragen: Wer verdient sich hier seinen Lebensunterhalt — und vielleicht sogar eine goldene Nase?

Es gibt einen lateinischen Spruch, der aus sieben Buchstaben besteht, und in höchster Konzentration den Schlüssel zur Lösung der meisten großen Probleme menschlicher Gesellschaften enthält: "cui bono" — "Wem nützt es?" oder, sinngemäß: "Wenn du die Gründe von etwas nicht verstehst, frage dich, wem es nützt."

Es gibt nicht für alle Probleme, die unsere Zukunft bedrohen, Lösungen. Aber für einige schon. Wir wissen beispielsweise, daß wir in den hochentwickelten Wohlstandsländern den Energieverbrauch drastisch zurück­schrauben müßten. Und alle wissen, daß dies nur über eine entsprechend wirksame Energiesteuer zu erreichen wäre.

Wann immer etwas nicht geschieht, was notwendig wäre, um unsere Zukunft zu sichern, stellen wir fest: Es ist politisch nicht durchsetzbar. Und wenn man untersucht, warum etwas politisch nicht durchsetzbar ist, stellt man in neun von zehn Fällen fest: Es geht um Geld. Wirtschaftliche Interessen haben sich formiert. Ihre Macht war stärker als alles andere. Wenn es uns ans Portemonnaie geht, vergessen wir die Umwelt, die Gesundheit, die Zukunft unserer Kinder. Und wir vergessen, daß die meisten Menschen auf diesem Planeten längst ärmer dran sind, als wir es wären, wenn wir für die Energie das Dreifache bezahlen müßten. Der Mensch denkt kleinräumig, kurzfristig und egozentrisch. Er verbaut sich und seinen Nachkommen schrittweise den Weg in die Zukunft.

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