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19.  Die Überlistung des Verstandes 

 

 

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Der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen. Er kann die absurdesten Ideen von sich geben — im Glauben, die letzte, objektive Wahrheit zu verkünden. Er kann die absonderlichsten Dinge tun — in der Über­zeugung, sich völlig logisch und vernünftig zu verhalten. Er handelt aufgrund von Motiven, die tief in seinem Inneren wirksam sind, seiner bewußten Einsicht aber verborgen bleiben.

Doch es gibt auch Einflüsse viel einfacherer Art, die das Urteil des Menschen beeinträchtigen und seinen kritischen Verstand überlisten können. Es gibt Faktoren, die nichts mit verdrängten Gefühlen und Trieben zu tun haben.

Von Marie-Antoinette, der französischen Kaiserin zur Zeit der Französischen Revolution, wird folgende Anekdote berichtet. Vor den Toren des Palastes herrschte eines Tages ein großer Tumult. Massen schreiender Menschen hatten sich versammelt. "Was haben diese Menschen?", fragte Marie-Antoinette. — "Das Volk hat Hunger." — "Dann gebt ihm Brot." — "Wir haben kein Brot." — "Warum gebt Ihr ihm dann nicht Kuchen?"

Marie-Antoinette war eine normal intelligente Frau. Sie litt auch nicht unter schwerwiegenden neurotischen Störungen. Aber sie verfügte nicht über die für eine realistische Beurteilung der Lage notwendigen Informationen und Erfahrungen.

   Ich: das Zentrum der Welt  

Der Mensch hat gelernt, daß die Erde groß und rund ist. Er weiß, daß es unzählige Völker gibt, und daß viele ganz anders leben als er selbst. Durch die Zeitung, das Radio und vor allem das Fernsehen erfährt er eine ganze Menge über fremde Länder und Sitten sowie über Ereignisse, die ganz woanders stattgefunden haben.

Aber eines bleibt: Der Mensch kann nicht aus seiner Haut schlüpfen. Jedes menschliche Individuum erlebt die Welt von seiner ganz persönlichen Warte aus. Für seine individuelle Wahrnehmung befindet es sich immer im Zentrum der Welt. Wo immer Sie sich gerade aufhalten — Sie befinden sich im Zentrum Ihrer Welt.

Unser Denken und Handeln wird in erster Linie durch das beeinflußt, was wir selbst erleben. Wir glauben am ehesten, was wir mit eigenen Augen gesehen haben. Wir lernen am meisten durch das, was wir selbst erfahren haben. Je weiter entfernt die Dinge sind, desto weniger fühlen wir uns betroffen. Über vieles, was sich auf dieser Erde zuträgt, erfahren wir zwar einiges, aber es hat für uns nur begrenzte Bedeutung. Über das meiste erfahren wir gar nichts — und wie das Sprichwort sagt: "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß."

Wir hören oder lesen, daß irgendwo ein Krieg im Gange ist, eine Hungersnot herrscht, ein schweres Erdbeben stattgefunden hat. Wir finden das schrecklich — aber wir sind nicht wirklich berührt. Es ist auch gar nicht möglich, daß wir alle Sorgen dieser Welt auf unsere Schultern laden. Wir haben nur eine begrenzte Kapazität, uns mit Problemen zu befassen. Unsere eigenen haben Vorrang — und wenn noch Zeit und Kraft vorhanden ist, wählen wir sorgfältig aus, womit wir uns allenfalls zusätzlich noch näher befassen wollen. Zuviel darf es nicht sein, denn wir müssen in erster Linie für uns selbst sorgen. Wir leben unser eigenes Leben.

Wenn ein Mensch stirbt, den wir gut gekannt haben, geht uns dies möglicherweise nahe. Wenn anderswo Tausende sterben, die wir nicht gekannt haben, sind dies für uns statistische Daten. 

Wir befinden uns im Zentrum unserer Welt. Andere befinden sich im Zentrum ihrer Welt. Die nächste, von der unseren völlig verschiedene Welt muß übrigens geographisch gar nicht weit entfernt sein. Wir wissen, wie unterschiedlich die Welten sein können, in denen Geschwister leben, die in der gleichen Familie aufgewachsen sind und in der gleichen Stadt wohnen. Wir würden manchmal staunen, wenn wir wüßten, wie anders das Schicksal, das Lebensgefühl und die Weltsicht eines Menschen sind, an dem wir auf der Straße achtlos vorübergehen. Jeder lebt im Zentrum seiner eigenen Welt — und jeder trägt sein Bild von der Welt mit sich herum.

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   Begrenztes Gesichtsfeld  

Unser Gesichts- und Erlebnisfeld ist notwendigerweise begrenzt — und keine zwei Menschen haben genau das gleiche. Wer in einem Palast lebt, hat ein anderes als jemand, der sich von seiner Hände Arbeit ernähren muß. Wer viel in der Welt herum­kommt, hat ein anderes als jemand, der immer am gleichen Ort gelebt und gearbeitet hat. Wer viel mit unterschiedlichen Menschen zu tun hat, hat ein anderes als jemand, der einer stillen Beschäftigung nachgeht. Frauen haben ein anderes als Männer.

Aber auch ein und derselbe Mensch hat, je nach Lebensphase und Lebenssituation, ein völlig unterschiedliches Erlebnisfeld. Die Welt des Säuglings ist zunächst noch äußerst eng begrenzt. Im Laufe der Zeit erweitern sich der Aktionsradius, der Informations­stand und die Lebenserfahrung. Der individuelle Horizont weitet sich aus. 

Aber gegen Ende des Lebens wird das Gesichtsfeld wieder enger. Irgendwann einmal wird die letzte Reise unternommen. Eines Tages ist der Mensch ans Zimmer, später ans Bett gebunden. Es kommt der Moment, wo er nicht mehr Zeitung lesen oder fernsehen mag. Das Geschehen auf dieser Welt wird schrittweise entrückt. Die Wirklichkeit wird begrenzt auf das, was sich in diesem einen Zimmer abspielt.

Das individuelle Gesichts- und Erlebnisfeld aber entscheidet darüber, was für Zusammenhänge ein Mensch verstehen kann, ja wofür er sich überhaupt interessiert. 

Theoretisch kann man einem anderen Menschen alles, was man selbst erlebt und erfahren hat, erzählen und erklären. Aber die Erfahrung zeigt immer wieder, wie begrenzt unsere Möglichkeiten sind, anderen Menschen Dinge nahezubringen, zu denen sie selbst keinen direkten Zugang haben. 

Wo wenig Interesse und Verständnis vorhanden sind, kämpft man letztlich gegen Windmühlen. Wir können uns noch so viel Mühe geben — Menschen nehmen nur auf, was sie aufnehmen können und aufnehmen wollen.

 

Druck des Umfeldes

In unserer Familie herrschten seinerzeit strenge Sitten und Gebräuche. Man aß, was auf den Tisch kam — und man trug, was einem gegeben wurde. Und so wurden mir eines Tages halb knielange Hosen gegeben. Dies war für mich eine unvorstellbare Katastrophe, denn zur damaligen Zeit trug man als Jüngling kurze Hosen — je kürzer desto schicker.

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Ich versuchte alles, um meiner Regierung klar zu machen, daß ich diese Hosen unter gar keinen Umständen tragen möchte — zumindest nicht außer Hause. Da ich sonst kein sehr rebellischer Junge war, hätte mein Vorstoß eigentlich höchste Aufmerksamkeit erregen müssen. Aber er tat es nicht. Ich wußte genau, ich würde zum Gespött der ganzen Klasse werden — und genau so war es dann auch. Noch heute dreht sich mir der Magen um, wenn ich daran zurückdenke. Da hilft mir noch nicht einmal die Erkenntnis, daß ich heute mit diesen Hosen haarscharf im Trend liegen würde.

Haben Sie sich noch nie darüber gewundert, wie leicht Menschen unterschiedlichster Sprache und Herkunft sich hinter ein und denselben Schönheits­idealen versammeln lassen? Letztes Jahr kurz und grün mit weiß — heuer lang und lila mit schwarz. Alle und überall. Daß ein Mensch ab und zu mal sein äußeres Erschein­ungs­bild verändern möchte, wäre ja noch zu verstehen. Aber wenn Millionen das, was sie noch vor einem halben Jahr schön fanden, im Schrank lassen und plötzlich alle miteinander etwas ganz anderes, und zwar wieder alle genau das gleiche, schön finden, muß doch wohl Zauberei im Spiel sein.

So wenig Aufnahmebereitschaft ein Mensch zeigen kann, wenn ein einzelner ihn von etwas zu überzeugen sucht, das ihn nicht interessiert, so rasch und nachhaltig kann sich das ändern, wenn die Mehrheit der Menschen in seinem Umfeld in die gleiche Richtung tendieren. Die Wirkung des sozialen Umfeldes auf die Wahrnehmung, das Denken und die Meinungs­bildung des Einzelnen ist im Laufe der Zeit wissenschaftlich untersucht worden. Man hat Erstaunliches festgestellt.

In einem Vorführraum werden einer Anzahl Menschen auf einer Projektionsleinwand ganz einfache Zeichen gezeigt, beispiels­weise jeweils zwei Striche unterschiedlicher Länge. Die Versuchspersonen sollen jeweils sagen, welches ihrer Wahrnehmung nach der längere Strich ist. Die gezeigten Bilder sind ausgetestet. Man weiß genau, welche Striche von normalen Durchschnitts­menschen wie wahrgenommen werden. In diesem Experiment geht es um etwas anderes. Nur eine Person ist die eigentliche Versuchsperson. Die anderen sind alle eingeweiht und handeln nach einem vorbereiteten Regieplan des Untersuchungs­leiters. Es geht darum, zu erfahren, wie die Menschen sich in ihrer Wahrnehmung durch das, was andere sagen, beeinflussen lassen. Die Versuchsperson gerät in ein Dilemma, sobald die anderen teilweise, mehrheitlich oder gar ausschließlich Wahr­nehmungen äußern, die von der eigenen abweichen.

Die Resultate sind frappierend. Ein überwiegender Teil der Menschen paßt sich in seinen Wahrnehmungen dem Umfeld an. Die Menschen trauen dem, was andere sehen oder zu sehen vorgeben, mehr als den eigenen Augen. Sie können so weit gebracht werden, etwas anderes zu sehen, als was sie tatsächlich sehen.

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Solche und ähnliche Experimente haben gezeigt: Wir werden in unserer Meinungsbildung viel stärker von unserem sozialen Umfeld beeinflußt, als wir glauben. Die Suggestivkraft der Mehrheits­meinung ist derart stark, daß nur wenige Menschen die psychische Kraft besitzen, sich allein dagegen zu stellen.

Dies kommt nicht von ungefähr. Die harte Schule des Lebens lehrt uns immer wieder: Wer abweichende Meinungen äußert, der riskiert, ausgegrenzt zu werden. Abweichendes Verhalten wird als "nicht normal" wahrgenommen und mit Ablehnung beantwortet. Minderheiten sind immer unterdrückt, Behinderte und Sonderlinge ausgestoßen worden.

Auch wenn die letzte Hexe im Alpen­raum kurz vor Ende des letzten Jahrhunderts* verbrannt worden ist: Wir haben ein feines Gespür dafür, welche Meinungen und welches Verhalten von unserem Umfeld als "normal" erwartet, akzeptiert und belohnt werden. Wer davon abweicht, hat sehr schnell das Etikett eines "Querschlägers" weg. 

Und nichts ist für den einzelnen schwerer zu ertragen, als ausgegrenzt zu werden. Bereits Kinder — und erst recht Jugendliche — tun alles, um unter ihresgleichen "in" und nicht "out" zu sein.

 

*detopia-2012: wikipedia  Hexenverfolgung : "1782 wurde Anna Göldi in Glarus als letzte Hexe in der Schweiz hingerichtet." - CL muss korrigiert werden, etwa: 'Kurz vor Ende des vorletzten Jahrhunderts.' (Das vorliegende Buch erschien 1998.)

 

Selektive Wahrnehmung

 

Wenn man sich einmal feste Meinungen gebildet und ein bestimmtes Weltbild zurechtgelegt hat, tritt ein Mechanismus in Kraft, den die Psychologen "selektive Wahrnehmung" nennen: Man nimmt alles, was einen in den bisherigen Annahmen bestärkt, besonders deutlich wahr — und neigt dazu, alles zu übersehen, was ihnen widerspricht. Wenn wir etwas glauben, achten wir besonders auf Bestätigungen — und wenn man Bestätigungen sucht, findet man sie auch.

Wenn Menschen sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen, kommt es leicht zu geistiger Inzucht: Sie bestätigen sich wechselseitig in der Richtigkeit ihrer Überzeugungen und ihres Weltbildes. Es gibt keine kritischen Fragen und keine abweichenden Meinungen mehr. Für die Mitglieder einer Skinhead-Gang, eines esoterischen Zirkels oder einer religiösen Gemeinschaft können die unglaublichsten Ideen und Theorien zur unerschütterlichen Gewißheit und "objektiven Wahrheit" werden.

So kommt es, daß normal intelligente Menschen allen Ernstes glauben, es habe im Dritten Reich keine Konzen­trations­lager gegeben; das Jüngste Gericht stehe unmittelbar bevor; die Wiedergeburt sei wissenschaftlich hieb- und stichfest bewiesen; oder der Teufel fahre gelegentlich in den Körper eines Menschen und könne mit ganz bestimmten Ritualen wieder ausgetrieben werden.

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Wenn dann noch allgemein respektierte Autoritätspersonen ein Machtwort dazutun, kann das Weltbild von Millionen beeinflußt werden. Alle Kirchen leben letztlich davon. Wenn fremde Religionsführer abenteuerliche Ideen verkünden, schütteln wir den Kopf. Wenn ähnliches im Rahmen unserer Landeskirchen passiert, fällt uns dies gar nicht auf.

Noch 1978 erklärte der höchste deutsche Würdenträger einer der großen christlichen Konfessionen kraft seines Amtes in aller Öffentlichkeit: "Unsere Kirche hält an der Existenz der Hölle, des Fegefeuers und der Dämonen fest." Daß jemand persönlich dieser Überzeugung sein mag, ist eine Sache — daß Millionen sich dadurch in ihrem Weltbild beeinflussen lassen, eine andere.

 

Die Gnade, zu vergessen

 

Menschen, Gruppen und Gesellschaften neigen aber nicht nur zu einer selektiven Wahrnehmung. Es gibt auch eine selektive Erinnerung. Fakten, die nicht in das Bild passen, das man von sich selbst haben möchte, verschwinden ganz einfach aus dem Gedächtnis.

In der Geschichte jedes Volkes gibt es dunkle Seiten — Teile der Vergangenheit, die auf wundersame Weise aus dem Bewußtsein der Menschen verschwunden sind. Sie sind so gründlich vergessen, daß sie nicht einmal mehr in den Geschichts­büchern vorkommen. Es ist, als ob jemand in einem zentralen Computer die entsprechenden Dateien gelöscht hätte.

Fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind in den Vereinigten Staaten bisher geheime Archive geöffnet worden. Bei dieser Gelegenheit kamen Dokumente an die Öffentlichkeit, welche die Rolle der Schweiz — die damalige Politik der Regierung, der Nationalbank sowie der Großbanken — in einem neuen und wenig schmeichelhaften Licht erscheinen ließen. Der Schweiz wurde vorgeworfen, sich durch Handel mit Raubgold bereichert, nachrichten­lose jüdische Vermögen vereinnahmt und letztlich als Hehler des Dritten Reiches den Krieg verlängert zu haben. Die Eidgenossen waren plötzlich gezwungen, erstmals ernsthaft zu untersuchen, was sich damals tatsächlich zugetragen hat. 

Die selbstgebastelten Mythen, die man während eines halben Jahrhunderts landesweit für die objektive historische Wahrheit gehalten hatte, bröckelten ab. Seriöse Vergangen­heits­bewältigung wurde unumgänglich — und zwar nicht etwa aus eigener, besserer Einsicht nein, ausschließlich unter dem massiven Druck des Auslandes.

Es geht hier nicht um den Fall Schweiz. Mehrere Länder — unter anderen Frankreich, Großbritannien, Schweden, Spanien, ja sogar die USA — werden im Zusammenhang mit den damaligen Vorgängen noch schmerzhafte Einsichten zu verdauen haben, wenn die Eidgenossenschaft ihren Läuterungs­prozeß längst hinter sich hat.

Es handelt sich hier lediglich um ein aktuelles Beispiel für die erstaunliche Fähigkeit von Menschen und Gesellschaften, sich ihr Bild von der Wirklichkeit kunstvoll zurechtzulegen.

Die Zukunft ist ein wichtiger Teil der Wirklichkeit. Dazu gibt es ein breites Angebot von Daten und Fakten, Meinungen und Vermutungen, Hoffnungen und Befürchtungen. Aber jeder Mensch wählt individuell die Elemente, aus denen er sein Zukunftsbild konstruiert. Die meisten gestalten ein Bild, das sie nicht beunruhigt.

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