Glaube     Start    Weiter

20.  Diktatur des Bildschirms

Lauterburg-1998

 

210-215

In der heutigen Zeit ist das Denken und Fühlen der Menschen aufs engste verbunden mit den modernen Massenmedien, insbesondere mit dem Fernsehen. Es gibt kein anderes Medium, das auch nur annähernd so viele Menschen erreicht. Dank einfacher und billiger Solargeneratoren haben die Menschen mittlerweile bis in die entlegensten Winkel dieser Erde Zugang zu einem Fernseh­gerät. In den USA sehen über 99 % der Bevölkerung regelmäßig fern. Es gibt mehr Fernsehgeräte als Klos mit Wasserspülung oder Telefon­apparate.

Dazu kommt: Die meisten Menschen verbringen täglich mehrere Stunden vor dem Fernseh­apparat. Was über dieses Gerät in die Köpfe eingespeist wird, prägt wie nichts sonst das Bild, das sich Milliarden Menschen von der Wirklichkeit machen. 

   Droge Fernsehen  

An sich ist das Fernsehen ein fantastisches Medium. Es bietet den Menschen die Möglichkeit, entfernt stattfindende Vorgänge mitzuverfolgen und wichtige Ereignisse zumindest aus Distanz mitzuerleben. Für viele alte und kranke Menschen ist es schlicht das einzige Fenster zur Außenwelt. Es bringt das Kino in jedes Haus und in jede Wohnung. Was einem - neben maßenhaftem Schrott - täglich an Wissenswertem, Anregendem und Unterhaltendem in die gute Stube geliefert wird, ist immer wieder faszinierend.

Aber mit dem Fernsehen sind auch ernst zu nehmende Gefahren verbunden.

Der Fernsehkonsum hat Ausmaße angenommen, die man nur noch als kollektiven Suchttatbestand bezeichnen kann. Die meisten Menschen sind nicht in der Lage, gezielt auszuwählen und kritisch zu urteilen. Sie saugen einfach in sich hinein, was ihnen dargeboten wird - wie Säuglinge die Muttermilch.

Viele Menschen leiden heute an innerer Vereinsamung und tödlicher Langeweile. Fernsehen ist für sie nicht einfach Entspannung. Es hilft ihnen vielmehr, eine gähnende innere Leere zu übertünchen. Es lenkt sie ab von einer zutiefst unbefried­igenden Lebens­situation. Das Fernsehen ist zur Droge der modernen Massen­gesellschaft geworden.

Manch ein Fernsehgerät wird frühmorgens ein- und spätnachts wieder ausgeschaltet. Das Flimmern und die Beschallung werden zu Dauerbegleitern der Menschen in ihrem Wohnbereich. In vielen Familien ist der Fernseher mittlerweile zur zentralen Institution geworden. Hier ist es, wo man sich, wenn überhaupt noch, trifft — kaum je alle, denn die Interessen sind unterschiedlich. Und alle Anwesenden sind auf den elektron­ischen Kasten ausgerichtet. Es gibt keinen Raum mehr für das gemeinsame Gespräch. Es wird nichts mehr gemeinsam unternommen. Und wenn man von Freunden zu einem Besuch eingeladen wird, entscheidet das Fernseh­programm, ob man "frei" ist.

    Leben in einer Scheinwelt   

Viele Menschen, die regelmäßig stundenlang fernsehen, können mit der Zeit nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden. Sie glauben, bestens informiert zu sein. Sie halten das, was ihnen an Information und an Bildern vermittelt wird, für die Realität. 

Aber auch sauber recherchierte und nicht bewußt manipulierte Sendungen können immer nur Schlaglichter werfen. Die komplexen Hintergründe und Zusammen­hänge gehen verloren — und was gestern aktuell war, wird heute durch etwas ganz anderes wieder überlagert. Die Menschen werden trainiert, nur noch in Kürzeln zu denken. Wer auch noch fleißig "zappt", hüpft nur noch von Moment­aufnahme zu Momentaufnahme. Jeder Sinn­zusammenhang geht verloren, die Oberflächlichkeit regiert.

Vor allem aber: Durch den raschen Wechsel von Dokumentation und nachgestellter Wirklichkeit in Filmen und Serien wird ein Mischmasch von Eindrücken erzeugt, den niemand mehr zu sortieren vermag. 

Besonders Kinder und Jugendliche können das Gesehene nicht kritisch beurteilen.

Dies gilt noch verstärkt für Massen von Menschen in Entwicklungs­ländern, die nie eine Schule besucht haben. Ihre einzige "Bildung" ist das, was über den Bildschirm flimmert. 

In Verbindung mit eigenen Emotionen und Phantasien wird in den Köpfen der Menschen eine Scheinwelt aufgebaut, die mit der Realität nur noch entfernt etwas zu tun hat.

Und nun steht uns das interaktive Fernsehen ins Haus. Mit ihm wird die Konstruktion von Wirklichkeit auch noch mit der Illusion der persönlichen Einflußnahme, des direkten Beteiligtseins verbunden. Der Realitäts­verlust ist perfekt.

211/212

   Das Geschäft mit den Gefühlen  

Besonders bedenklich aber ist dies: Das Medium, welches die Kultur am stärksten prägt, hat sich zu einer knall­harten kommerziellen Veranstaltung entwickelt. Information ist zur Ware, die Einschaltquote zum zentralen Erfolgsmaßstab geworden. Wie jeder Konsument, wird auch der  Fernseh­zuschauer über Gefühle angezogen und festgehalten. Das Fernsehen ist deshalb zum Geschäft mit den Gefühlen der Menschen verkommen.

Die Emotionen der Massen werden gezielt abgerufen. Es wird eiskalt nach Quotenwirksamkeit und politischer Opportunität ausgewählt, worüber berichtet wird und worüber nicht. Es wird teilweise haar­sträubend tendenziös kommentiert. Und die verschiedenen Sender überbieten sich gegenseitig mit Versuchen, im Viertel­stundentakt emotional besetzte Themen, mit Vorliebe etwa aus dem Bereich der Sexualität, hochzukochen — und gleich wieder liegen zu lassen.

Der Versuch, sich in die Gefühlswelt des Durchschnittszuschauers einzuschleichen, führt nicht nur zu üblen Geschmacks­verirrungen, sondern auch zu einem verlogenen Umgang mit der Wirklichkeit — am schlimmsten in der Werbung.

Hinzu kommt: Information, Unterhaltung und Werbung werden auf raffinierteste Art und Weise zu einem Cocktail mit Namen "Infotainment" zusammengemixt, welcher von den Menschen nur noch konsumiert, aber weder mental noch emotional verarbeitet werden kann. Das Ziel: Werbeeinnahmen durch Zuschauerbindung. Der Effekt: Eine verheerende geistige und seelische Abstumpfung der Menschenmassen.

 

   Die Prinzessin und die Ordensschwester 

Was für gigantische Gefühlswallungen der Massen erzeugt und kommerziell genutzt werden können, hat sich im Herbst 1997 anläßlich des Todes der britischen Prinzessin Diana gezeigt. Wenn weltweit zwei bis drei Milliarden Menschen per Fernsehen dieser einen Bestattung beiwohnen, wenn in den biedersten Demokratien Millionen Frauen über einen Todesfall in der britischen Königsfamilie mitweinen, und wenn von den Medien an diesem Ereignis Milliarden verdient werden, dann hat dies allein schon gespenstische Züge.

212/213

In der gleichen Woche ist aber Mutter Teresa gestorben, eine der herausragenden Frauen­persönlich­keiten dieses Jahrhunderts, Friedensnobel­preisträgerin und Gründerin bedeutendster Hilfswerke für die Armen. Ihr Tod ist im Rummel um Diana fast zum Nicht-Ereignis geworden. Dieser Vorgang illustriert nicht nur die Rolle der Massenmedien, sondern auch die innere Verfassung unserer globalen Gesellschaft.

Nur ein verschwindender Teil der weltweit weinenden Menschen ist Prinzessin Diana jemals persönlich begegnet. Aber prominente Persönlichkeiten sind Identifikationsfiguren. Die Menschen projizieren ihre tiefsten sozialen Bedürfnisse und Gefühle in sie hinein. Sie weinen nicht um den Menschen Diana, sondern - aus unterschiedlichen Gründen - um sich selbst: Von Männern verlassene oder schlecht behandelte Frauen; vom Establishment ausgestoßene und vergessene Verliererinnen und Verlierer der Gesellschaft; Britinnen und Briten, die Trauerarbeit leisten für ihr Königreich wegen des Verlusts an Größe, Macht und Ansehen; Menschen in aller Welt, die nie gehabt oder verloren haben, was man nach Suggestion der Medien braucht, um glücklich zu sein: Jugend, Schönheit und Reichtum. Im weltweiten Gefühlsausbruch um Diana kommt die tiefe Trauer vieler Menschen über eigenes seelisches Elend zum Ausdruck. 

  Die Suggestion der Masse  

Doch das Medium Fernsehen eignet sich hervorragend, um die Gefühle der Menschen nicht nur anzuzapfen, sondern auch zu bündeln und zu verstärken. Es zeigt nämlich nicht nur Ereignisse, sondern auch das Pub­likum: Massen von Menschen — und ihre Reaktionen auf das Ereignis. Emotionale Reaktionen von Mensch­en­massen aber wirken ansteckend. Durch diese Rückkoppelung werden die Empfindungen des einzelnen Individuums massiv verstärkt, manchmal sogar umgelenkt. Es kommt zu einer Massen­suggestion. Diese kann so weit führen, daß Menschen sich "out" fühlen, wenn sie eine bestimmte Sendung, über die alle sprechen, nicht gesehen haben; daß nationale Stromnetze zusammenbrechen, weil eine ganze Nation vor dem Bildschirm sitzt; oder daß rund um den Globus Menschen unterschiedlichster Kulturen über den Tod einer britischen Prinzessin in Tränen ausbrechen.

213/214

Es gibt Sozialromantiker, die auch noch versuchen, globalen Fernsehhappenings eine völkerverbindende Funktion anzudichten. Von Olympischen Spielen einmal abgesehen, bei denen in begrenztem Maße — nämlich beim Anzünden des olympischen Feuers sowie beim Einmarsch der Nationen — derartige Effekte mitspielen, werden Völker auf diesem Wege so wenig verbunden wie fernsehende Mitglieder einer zerrütteten Familie. 

Gleichschaltung allein verbindet nicht. Echte Verbindung kommt über Dialog zustande — oder gar nicht. Im übrigen käme es hier auch noch auf den Anlaß an. Wenn das Leben und die Botschaft von Mutter Teresa zu einem globalen Medienereignis geworden wären, hätte man sich allenfalls völkerverbindende Effekte versprechen können. Der Todesfall im Milieu eines dekadenten Königshauses bietet hierfür wenig Substanz.

 

   Der Faktor Macht  

Aufgrund seines gewaltigen Einflusses auf das Denken und Fühlen der Menschen ist das Fernsehen mittler­weile zu einem gesellschaftlich entscheidenden Machtfaktor geworden. Politikerinnen und Politiker können ohne Fernsehpräsenz kaum mehr Karriere machen. In den USA haben die Fernsehduelle der Präsi­dent­schafts­kandidaten einen entscheidenden Einfluß auf die Wahlresultate. "Das Bemühen mancher Politiker", so der frühere deutsche Bundes­kanzler Helmut Schmidt, "beschränkt sich darauf, im Fernsehen zu erscheinen." 

Aber auch einfache Bürgerinnen und Bürger entwickeln in einer von Anonymität geprägten Massen­gesellschaft eine immer wieder überraschende Geilheit, im Fernsehen aufzutreten. Sie können problem­los dazu gebracht werden, vor einem Millionenpublikum ihre intimsten Gefühle und Erfahrungen preiszugeben. Talkshow-Moderatoren mit hohen Einschaltquoten werden zu Kultfiguren und Königsmachern, erfolgreiche Fernsehsender zu Goldgruben.

In unseren Breitengraden steht zwar nach wie vor das Geschäft im Vordergrund, und es gibt zumindest noch lebhafte Konkurrenz.

Aber im Zeitalter der Fusionen ballt sich bei großen Medienkonzernen eine politische Macht zusammen, die man nicht unterschätzen darf — und die auch immer wieder mal schamlos zu politischen Zwecken mißbraucht wird.

In nichtdemo­kratischen Ländern dagegen wird die Meinungsbildung der Bevölk­erung durch zentrale Steuerung der Medien systematisch manipuliert.

Theoretisch könnte das Fernsehen eine ganz andere Macht haben: Die Macht, aufzuklären; die Macht, Bewußt­sein zu bilden; Menschen und Völker einander näher zu bringen; die Realität abzubilden; die Gefahren aufzuzeigen, die unsere Zukunft bedrohen; Hintergründe und Zusammenhänge verständlich zu machen; Energie zu wecken, um die Zukunft aktiv zu gestalten. 

Doch daraus ist nichts geworden. Die wenigen zaghaften Ansätze sind, insgesamt betrachtet, ein Tropfen auf einen heißen Stein. Für die Fernsehmacher geht es in erster Linie ums Geschäft.

Und die Fernsehkonsumenten wollen Ablenkung haben von einem Leben, das ohnehin schon bis zum Rand mit Problemen vollgestopft ist. So ist das Fernsehen zu einer gigantischen Kirmes geworden, zu einer Traumfabrik, die Scheinwelten aufbaut, in die die Menschen flüchten, um die Wirklichkeit zumindest während einiger Stunden am Tag zu vergessen.

Das Fernsehen ist ein Medium. Es sind immer Menschen, die es gestalten, und Menschen, die es nutzen. Die tieferen Ursachen für die Art und Weise, wie heute Fernsehen gemacht, finanziert und konsumiert wird, liegen in der inneren Verfassung unserer Gesellschaft. 

Das Resultat ist ernüchternd: Wichtige Chancen bleiben ungenutzt, der soziale Zerfall wird massiv verstärkt.

215

#

detopia-2023: Heute muss man alle Bildschirmmedien dazunehmen, wenn man das betrachtet, was 99% der Betrachter betrachten.

Mehr bei Postman-1985  

    www.detopia.de      ^^^^ 

Lauterburg-1998