5.Chaos       Start    Weiter

23 - Der sogenannte Kippeffekt 

 

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  Die Seerose 

Eine kleine Denksportaufgabe lautet wie folgt: Eine bestimmte Seerosenart kann sich besonders schnell vermehren. Unter günstigen Bedingungen verdoppelt sie sich innerhalb 24 Stunden. Ein Exemplar dieser Gattung gelangt in einen großen Teich. Nach 21 Tagen ist die Wasseroberfläche zur Hälfte mit Seerosen bedeckt. Wie lange dauert es, bis der Teich vollständig zugewachsen ist?

Jawohl: Am nächsten Tag ist der Teich zugewachsen.

Wenn man das Wachstum der Seerosen auf der Fläche des Teiches grafisch darstellen würde, ergäbe dies nicht eine gleichmäßig nach oben führende Gerade, sondern eine Kurve, die zunächst über eine längere Strecke ziemlich flach verläuft, dann aber immer steiler wird und schließlich fast senkrecht nach oben führt. Es ist eine sogenannte Hyperbel, die anzeigt, daß wir es mit einem exponentiellen — das heißt sich stark beschleunigenden — Wachstum zu tun haben. Eine solche Kurve entsteht beispielsweise, wenn man das Wachstum der Weltbevölkerung nach dem Seßhaftwerden der Menschen grafisch aufzeichnet.

Eine beschleunigte Zunahme mündet in ein explosionsartiges Wachstum, eine sich beschleunigende Abnahme in einen Zusammen­bruch. Zweierlei ist typisch für solche Vorgänge: Erstens, sie verlaufen zunächst scheinbar ganz harmlos; nichts deutet auf eine dramatische Entwicklung hin; es gibt wenig bis keine äußerlich erkenn­baren Symptome für die sich anbahnende, dramat­ische Veränderung. Zweitens, wenn der große Umbruch deutlich erkennbar wird, ist er meist schon sehr weit fort­geschritten und entwickelt eine Eigendynamik, die sich nicht mehr beherrschen läßt.

Ein typisches Beispiel dafür ist der Zusammenbruch der Preise an der Börse.

  Der Börsenkrach 

Sollten Sie zu den vielen Menschen gehören, die im Oktober 1987 bei einer Bank Geld in Aktien angelegt hatten, dann wissen Sie, wovon hier die Rede ist — denn Sie haben damals schmerzhafte Vermögens­einbußen erlitten. Sie hatten gedacht: Eine angesehene Bank beschäftigt ausgewiesene Profis. Dort ist mein Geld sicher. Sie wurden eines Besseren belehrt. Die sogenannten Profis der Banken sind praktisch durchweg mit all ihren Kunden­geldern voll in den Hammer gelaufen. Und hinterher hat Ihr Anlageberater Ihnen mit treuherzigem Blick und im Brustton der Überzeugung erklärt, es sei "höhere Gewalt" gewesen. Man hätte das nicht vorher­sehen können. Allen anderen sei es ebenso ergangen. Und Sie haben das geglaubt.

Die Börse ist ein Markt. Wenn mehr Leute Aktien kaufen als verkaufen wollen, steigt der Preis und damit der Wert der Papiere. Es ist aber nicht nur der reale Wert eines Unternehmens, der Investoren und Spekulanten bewegt, die entsprechende Aktie zu kaufen. Für viele ist vielmehr entscheidend, wie der Preis der Aktie sich entwickelt. Wenn er steigt, wird gekauft — in der Hoffnung, daß er noch weiter steigt. Wenn er fällt, wird verkauft — in der Befürchtung eines weiteren Preisverfalls. Aus diesem Grunde verlaufen Preisentwicklungen an der Börse praktisch nie gerade, sondern immer in mehr oder weniger ausgeprägten Schwankungen. Die Fachleute sprechen von Volatilität.

Nun sind heute in den Börsenmärkten unvorstellbare Summen investiert. Wie bereits an anderer Stelle in diesem Buch dargelegt, haben viele private und institut­ionelle Anleger ihr Geld professionellen Vermögens­verwaltern und Fondsmanagern anvertraut, in deren Händen gewaltige Kapital­volumina konzentriert sind. Wenn auch nur einer von ihnen plötzlich alles umschichtet, kann dies bereits spürbare Kursbewegungen auslösen. Nun verfügen aber alle diese Profis über die gleichen Marktinformationen und die gleichen Möglich­keiten, Chancen und Risiken zu berechnen — und alle können innerhalb von Sekunden einem bestimmten Markt Milliarden zuführen oder entziehen. Wenn nun nach einer längeren Hausse nicht mehr viele Käufer dazukommen, beginnen die Preise zu stagnieren. Da niemand weiß, ob es sich lediglich um eine Verschnauf­pause des Marktes oder aber um eine Trend­umkehr handelt, warten zunächst alle ab. Niemand möchte eine mögliche weitere Haussephase verpassen. Aber alle sind darauf vorbereitet, sofort aus dem Markt auszusteigen, wenn die Kurse unter eine bestimmte Marke fallen sollten.

In dieser Situation ist es fast egal, wer als erster "abdrückt". Da niemand mehr zukauft, genügt bereits ein verhältnismäßig kleines Verkaufs­angebot, um den Kurs nach unten zu drücken — und eine Lawine auszulösen.

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Plötzlich stehen Milliarden zum Verkauf an — und niemand ist da, der bereit wäre, zu kaufen. Der Preis fällt und fällt — und löst nur weitere Verkaufs­angebote aus. Der Markt bricht zusammen, die Preise stürzen ins Bodenlose. Innerhalb von Stunden oder Minuten ist alles verloren, was der Markt vorher in Monaten oder gar Jahren gutgemacht hatte. Riesige Vermögenswerte sind schlagartig vernichtet.

Es hat im Oktober 1987 Zeichen gegeben, die auf die Möglichkeit eines Börsenkrachs hingewiesen haben. Einzelne Fachleute haben den Crash kommen sehen — wirklich professionelle Anlageberater und Vermögens­verwalter spezialisierter Privatbanken sowie großer Investoren. Einige sind noch zwei Tage vorher ausge­stiegen. Aber es waren ganz wenige — eine kleine Minderheit. Für die große Masse war der Crash ein völlig unvorhersehbares Ereignis, ein Schicksals­schlag, von dem sich viele nie wieder erholt haben.

  Die Mauer  

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Deutschland in zwei Teile geteilt, und seit dem August 1961 gab es die Mauer — ein 45 Kilometer langes System von Gräben und Betonwänden, Stacheldrahtzäunen, Minen­feldern und Selbstschußanlagen, welches die Verbindungswege zwischen Ost und West in Berlin hermetisch abriegelte. Über 70 Menschen sind im Laufe der Zeit beim Versuch, die Mauer zu überwinden, umgekommen. Eine Wieder­vereinigung der beiden deutschen Republiken erschien — nach Jahrzehnten der strikten politischen Trennung sowie der unterschiedlichen wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung in Ost und West — kaum mehr vorstellbar.

Im Laufe der 80er Jahre kam es in der UdSSR mit "Glasnost" und "Perestroika" zu Reformbewegungen, die auch auf die Verbündeten Rußlands im Bereich des Warschauer Paktes ausstrahlten. Gorbatschow warb allenthalben, unter anderem auch in der DDR, für eine politische Öffnung. Aber die DDR, das nach Rußland wirtschaftlich und militärisch stärkste Land des gesamten Ostblocks, befand sich im eisernen Griff seiner Regierung. Die herrschende Klasse zeigte kein Interesse an einer wie auch immer gearteten Lockerung der Repression. Nichts deutete darauf hin, daß sich in absehbarer Zeit an den Machtverhältnissen auch nur das Geringste ändern könnte.

Doch dann kam die Nacht von Leipzig. Die Unruhen begannen am Abend des 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, mit Demonstrationen und Straßen­schlachten. Ein großes Polizeiaufgebot sollte Ruhe und Ordnung wiederherstellen. Truppen wurden zusammengezogen.

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Doch gemäßigte Kräfte in der Regierung verhinderten buchstäblich in letzter Minute den Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Danach ging alles sehr schnell. Am 9. November 1989 wurde die Mauer geöffnet. Gorbatschow widerstand dem Druck mancher seiner Militärs und verzichtete auf den Einsatz russischer Truppen zur Erhaltung des DDR-Regimes. Zusätzliche Übergänge wurden geschaffen. Im März 1990 fanden die ersten freien Volks­kammer­wahlen statt. Am 1. Juli wurden die Grenzkontrollen abgeschafft. Und am 3. Oktober 1990 wurde der Beitritt zur Bundes­republik Deutschland besiegelt. Ein diktatorisches Regime, das sich auf einen bestens eingespielten Macht­apparat stützen konnte und das seit Jahrzehnten fest im Sattel saß, war fast über Nacht wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen.

Die DDR ist kein Einzelfall. Immer wieder wurden scheinbar stabile politische Systeme von einem Tag auf den andern weggefegt. Ein besonders extremes Beispiel war das Ende der Herrschaft des Schahs von Persien. Der Inhaber des Pfauenthrons verfügte über eine der bestausgerüsteten Armeen der Welt und über einen perfekt durchorganisierten Apparat für innere Sicherheit. Persien galt als eines der politisch stabilsten Länder der Welt. Noch Tage vor seinem Sturz hätten die meisten westlichen Politiker Wetten darauf abgeschlossen, daß der Schah in seinem Land alles unter Kontrolle hat. Und eines Morgens lasen wir in der Zeitung, daß es einen fast unblutigen Staatsstreich gegeben hatte. Der Schah und seine Gattin waren gerade noch mit knapper Not ins Ausland entwischt. Über Nacht waren die Mullahs an die Macht gekommen. Und da sitzen sie noch heute.

   Anatomie des Infarktes   

So dramatisch das plötzliche Ereignis erscheinen mag — es kommt nicht aus heiterem Himmel. Es ist das End­er­gebnis einer hochkomplexen, länger­fristigen Entwicklung. Die Entladung ist kein spontanes Geschehen, sondern ein Umbruch, der sich während einer längeren Inkubationszeit angebahnt hatte. Man spricht von einem sogenannten Kippeffekt.  

Ein See kann während Jahren mit einer tödlichen Giftfracht belastet werden, ohne daß man ihm etwas anmerkt — und irgendwann einmal ist der Punkt erreicht, wo die Regenerations­kräf­te nicht mehr ausreichen. Innerhalb kürzester Zeit kippt das ökologische System. Das Leben im See stirbt ab.

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Herzkranzgefäße können so weit verengt sein, daß nur noch minimale Blutmengen durchfließen. Aber der Herz­muskel ist noch mit Sauerstoff versorgt. Der Mensch spürt nichts. Aber ein kleines, scheinbar harmloses Blutgerinnsel genügt, um den Durchfluß schlagartig zu stoppen. Es kommt zu einem möglicher­weise tödlichen Infarkt. 

Ähnliches haben Sie schon mehrmals auf Autobahnen erlebt: Der dichte Verkehr fließt scheinbar ganz normal, allenfalls etwas verzögert dahin. Und plötzlich stehen Sie mitten in einem schweren Stau. Sie denken "Unfall" oder "Baustelle" — und manchmal trifft dies auch zu. In vielen Fällen aber suchen Sie im nachhinein vergebens nach der Ursache. Der Stau löst sich in nichts auf — und niemand weiß, wie es überhaupt zu stehendem Verkehr kommen konnte. Die Chaos-Theorie hat dafür eine Erklärung: Wenn der Verkehr an eine gewisse Belastungsgrenze kommt, genügt das abrupte Brems­man­över eines einzelnen Automobilisten, um eine Kettenreaktion auszulösen, an deren hinter­stem Ende, in viel­en Kilometern Entfernung, der gesamte Verkehr zum Erliegen kommt. Der "Schmett­er­lingseffekt" läßt grüßen.

  Die Ruhe vor dem Sturm  

Der Ausbruch eines Vulkans, die Ausbreitung von Schädlingen in Erntegebieten, der Zusammenbruch des Im­mun­systems im menschlichen Körper, Migrations­wellen in großen Populationen, Klimaverschiebungen, Wald­brände, Flutkatastrophen, Ver­sorgungs­engpässe in Hungergebieten, kriegerische Konflikte oder das Zusamm­en­brechen eines Staatswesens — all diese Phänomene gehorchen letztlich den gleichen Gesetzen. 

Umbrüche in komplexen, dynamischen Systemen verlaufen nicht linear, sondern exponentiell. detopia-2021: Vergleiche Senecaeffekt

Der Mensch aber denkt nicht komplex, nicht dynamisch, nicht prozeßorientiert. Er denkt linear. Er glaubt, jedes Ereignis auf eine einfache Ursache zurückführen zu können. Er glaubt, aus dem Heute im Maßstab 1:1 ableiten zu können, was morgen sein wird. Und wenn morgen etwas eintritt, das er nicht vorhergesehen hat, dann spricht er von einer "Natur­katastrophe", von einem "Schicksalsschlag", von "höherer Gewalt".

Wir befinden uns heute im weiteren Vorfeld einer globalen Katastrophe.

Viele Trends — ökologische und gesell­schaftliche — laufen seit längerer Zeit in eine ungünstige Richtung. Und sie beschleunigen sich. Aber wir selbst sind noch nicht von existentiellen Konsequenzen betroffen. Andere schon, aber nicht wir. Folglich ist alles halb so dramatisch. Die Gefahr wird verkannt, bis es zu spät ist. Es gibt zwar Frühsymptome. Aber all diese Signale werden glatt überfahren — übersehen, verharmlost, uminterpretiert. - Dies ist einer der Gründe, weshalb ein Crash nicht zu verhindern sein wird.

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*detopia-2011:  wikipedia  Finanzkrise   "Oktober 1987" ist richtig. Man kann danach googeln.

detopia.de     ^^^^ 

Christoph Lauterburg  1998  Fünf nach Zwölf   Der globale Crash und die Zukunft des Lebens