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26 - Die Ohnmacht übergeordneter Institutionen

Lauterburg-1998

 

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Die Gefahren, die heute unsere Zukunft bedrohen, lassen sich nicht allein auf lokaler oder nationaler Ebene bekämpfen. Sowohl die ökologischen als auch die gesellschaftlichen Trends bedürften dringend einer globalen Koordination und Steuerung. Doch unsere Welt ist ein äußerst komplexes Gebilde. Da ist eine wirksame Steuerung von vornherein schwer vorstellbar — und wenn, könnte sie nicht von irgend­einem supranationalen Debattierklub ausgeübt werden.

Was gebraucht würde, wäre eine mit entsprech­enden Handlungs­befugnissen ausgestattete und von einem Weltparlament kontrollierte oberste Exekutive. Doch der Gedanke an irgendeine Form von "Welt­regierung" ist derart utopisch, daß er bei mir fast einen Schreib­krampf auslöst.

So etwas würde ja zweierlei voraussetzen: Erstens, eine ideelle Grundlage: die Verständigung der Völker auf gemeinsame Werte und Ziele. Zweitens, eine gesunde innere Verfassung zumindest einer Mehrheit der Nationen. Denn das lokale und regionale Geschehen kann nicht zentral gesteuert werden; es müßte dezentral geregelt sein. - Da versagt schlicht die Phantasie.

    50 Jahre UNO   

Es fehlt beileibe nicht an übergeordneten Institutionen. Da gibt es, allen voran, die Vereinten Nationen — und mit ihnen einen Weltsicher­heitsrat, eine Welthandels­organisation (WTO), eine Organisation für Erziehung und Wissenschaft (UNESCO), eine Weltgesundheitsorganisation (WHO), ein Internationales Arbeitsamt (ILO), eine Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO). 

Es gibt ein allgemeines Zoll- und Handels­abkommen (GATT), einen Internationalen Währungsfond (IMF), eine internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ("Weltbank"), einen regelmäßig stattfindenden Gipfel der führenden Wirt­schaftsnationen (G7, G8, G9), einen Internationalen Gerichtshof. Und es gibt machtvolle internationale Zusammenschlüsse wie etwa die Nord­atlantische Allianz (NATO) oder die Europäische Union (EU).

Die UNO ist eine überaus wichtige Institution. Die Welt wäre ohne sie bestimmt in einer wesentlich schlechteren Verfassung. Sie kann zwar kaum Kriege verhindern. Aber sie hat immer wieder Kriege eingedämmt und verkürzt. Sie hat geholfen, die Kriegs­folgen zu mildern. Sie ist und bleibt ein Hoffnungs­träger. Die Weltbank leistet in vielen unterentwickelten Ländern wertvolle Aufbauhilfe. Der Internationale Währungsfond ist aus der hochvernetzten Weltwirtschaft gar nicht mehr wegzudenken. Er sorgt vielerorts für einigermaßen stabile wirtschaftliche Verhältnisse. Ohne ihn wären Länder wie Mexiko, Südkorea oder Indonesien längst bankrott. Ähnliches gilt - auf anderen Gebieten - für Institutionen wie die UNESCO, die WHO oder die FAO. Daß ein internationaler Gerichtshof oder die Zusammenkünfte der G8-Vertreter stabilisierend wirken, steht ebenfalls außer Frage.

Die Staaten sind also durch ein vielschichtiges und verhältnismäßig enges Netzwerk von supranationalen Institutionen und Organisationen miteinander verbunden. Wie ist es da möglich, daß die Leistungen der reichen Industrie­nationen für Entwicklungshilfe - entgegen klaren, internationalen Vereinbarungen - zurückgehen statt aufgestockt zu werden? Wie ist es möglich, daß rund um den Globus Millionen von Kindern verhungern und verelenden, obschon es weltweite Zusagen der Regierungen gegeben hat, dem Schutz der Kinder hohe Priorität einzuräumen?

Wie können zwei der größten Kriegsverbrecher der jüngeren Zeit - Karadzic und Mladic - jahrelang frei herumlaufen, ja im Hintergrund sogar weiterhin fröhlich Politik machen? Wie ist es möglich, daß die USA, die größte Wirtschaftsmacht der Welt, der UNO seit Jahren astro­nomische Summen an Mitgliedsbeiträgen vorenthalten? Wie ist es möglich, daß Südkorea, ein allseits umjubelter Star unter den boomenden Wirtschafts­nationen, eines schönen Tages ganz einfach vor dem Bankrott steht — mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Weltwirtschaft? 

Und dies sind nur einige Beispiele. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Die UNO ist die einzige Institution von globaler Bedeutung und mit — wenn auch begrenztem — welt­polit­ischem Einfluß. Alle anderen sind letztlich "Spezialisten" mit fachlich eng umrissenen Aufgaben. Sie haben — genau wie wir einzelne Menschen — keine Gesamtschau. Dazu kommt: Sie haben nur höchst begrenzte Möglichkeiten, einzugreifen. Häufig können sie nur hinterher Feuerwehr- und Reparaturdienste leisten. Dies zeigt sich deutlich am Beispiel der Ende 1997 ausgebrochenen Asienkrise. Der Crash wurde nicht vorausgesehen, er konnte nicht verhindert werden, ja, wir können von Glück reden, wenn es gelingt, einen weltweiten Flächen­brand zu verhindern. Dabei befassen sich zwei Drittel der oben genannten Institutionen ausschließlich oder schwer­punktmäßig mit wirtschaftlichen Fragen.

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Alle diese Institutionen leisten im Rahmen ihres klar definierten Auftrages wertvolle Arbeit. Sie wirken stabilisierend. Es ist nicht auszudenken, wo wir ohne sie heute stehen würden. Aber man darf von ihnen bezüglich der Lösung unserer Zukunftsprobleme keine Wunder erwarten. Auch sie vermögen die globalen Entwicklungen nicht zu steuern. Sie helfen mit, Schaden zu begrenzen. Sie haben nicht die Macht, die zersetzenden Kräfte zu eliminieren. Sie können den Trend nicht aufhalten, geschweige denn umkehren. Sie hinken ihm — genau wie die Politik auf nationaler Ebene — hinterher.

    Die Unfähigkeit zum Konsens   

Wenn mehrere Menschen etwas gemeinsam unternehmen wollen, müssen sie sich untereinander verständigen können. Die Durchführung eines gemeinsamen Projektes setzt gemeinsam getroffene und allseitig akzeptierte Entscheidungen voraus. Und wenn im Umfeld Turbulenzen auftreten, dann können die Partner nicht endlos palavern. Da muß immer wieder mal rasch entschieden und gehandelt werden. Dazu ist ein mit Handlungs­kompetenzen für Ausnahmesituationen ausgestattetes Organ unerläßlich. Dies wiederum setzt ein Mindestmaß an wechselseitigem Vertrauen unter den Partnern voraus. Wenn dagegen die "Chemie" nicht stimmt, ist es um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit schlecht bestellt. Gegenseitiges Mißtrauen, Taktik, Machtspiele und Reibungsverluste beherrschen die Szene. Die Durchsetzung von Eigeninteressen hat Vorrang. Mit einer solchen Gruppe möchte sich niemand auf eine schwierige Expedition begeben.

Nun, auf der weltpolitischen Bühne haben wir es nicht mit Einzelpersonen zu tun, sondern mit Nationen. Auch diese müßten sich auf gemeinsame Ziele und Vorgehensweisen verständigen können. Doch die Kommunikation ist durch drei Faktoren schwer­wiegend beeinträchtigt. Erstens, durch die große Zahl der Partner. Es kommt nicht zu einem echten Dialog. Es bleibt bei der Aneinanderreihung und Wiederholung längst bekannter Standpunkte. Zweitens, durch Unterschiede der Kulturen. Die Möglichkeit einer Annäherung ist begrenzt durch teilweise diametral entgegengesetzte Wertesysteme. Drittens, durch völlig unter­schiedliche Interessen. Es steht nicht ein gemeinsames Ziel im Vordergrund, sondern ein Kuchen, von dem jeder ein möglichst großes Stück mit nach Hause bringen will. 
Da ist guter Rat teuer.

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Die innere Verfassung der sogenannten Völkergemeinschaft gibt nicht den geringsten Anlaß zu Hoffnung. Zwischen vielen Ländern und Regionen gibt es unüberbrückbare wirtschaftliche, kulturelle und ideologische Barrieren. Am runden Tisch der UNO sitzen die Vertreter diktatorischer Regime, welche die Menschenrechte mit Füßen treten, gleichberechtigt neben denjenigen demokratischer Rechtsstaaten. Auf der internationalen politischen Bühne wird das gleiche Trauerspiel aufgeführt wie auf nationaler und kommunaler Ebene: Kuhhändel und Verteilungskämpfe beherrschen die Szene.

detopia-2007:  Regime als Plural - dann andere Betonung (RegimÄ), aber selbes Schriftbild. - "Kuhhändel" so im Original.  In meinem DDR-Duden steht "Kuhhandel", vielleicht Plural oder Schweizerdeutsch

Wir sind weiter denn je von einer allseitig akzeptierten und funktionsfähigen, globalen Gemeinschaft entfernt. Wann immer eine weltweite Übereinkunft zur Debatte steht — handle es sich um die Menschenrechte, den Schutz der Regenwälder, ein Verbot des Walfangs oder die Ächtung von Personenminen — verläßt ein Teil der Nationen ganz einfach den Verhandlungstisch. Und unsere Lebensgrundlagen gehen derweil schrittweise vor die Hunde. Die Menschen, Völker und Kulturen sind nicht fähig, sich partner­schaftlich zusammenzuraufen. Sie sind weder willens noch in der Lage, gemeinsam die Voraussetzungen für eine Entwicklung zu schaffen, die unsere Zukunft sichern würde.

   Gretchenfrage Macht: Die Impotenz ist gewollt  

Der Schlüssel zur Lösung dieser Rätsel liegt darin, daß jedes Land letztlich seine Unabhängigkeit über alles andere stellt. Jedes UNO-Mitglied betont zwar, wie wichtig der internationale Konsens sei. Aber erste Priorität hat für den einzelnen Nationalstaat nicht der internationale Konsens, sondern die Durch­setzung seiner Interessen. Und alleroberstes Gebot ist es für jede Nation, zu verhindern, daß eine Situation entsteht, in der irgend jemand irgend­welche Dinge bestimmen könnte, von denen sie selbst betroffen wäre. Mit anderen Worten:

Das oberste und letzte Ziel besteht für alle darin, eine mit echten Handlungs­kompetenz­en ausgestattete, übergeordnete Institution zu verhindern. Die Impotenz der UNO ist gewollt — und zwar von allen. Jede Regierung eines demokratischen Staates, die wesentliche Teile ihrer Autonomie an ein internationales Gremium abtreten würde, wäre spätestens nach den nächsten Wahlen weg vom Fenster — und ein diktatorisches Regime käme aus naheliegenden Gründen gar nicht erst auf so eine Idee. 

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Daß es - vorwiegend aus wirtschaftlichen oder militärischen Gründen - immer wieder Initiativen einzelner Staaten gibt, sich zusammenzuschließen, steht auf einem anderen Blatt. Aber erstens ist ein begrenzter Zus­ammen­schluß kein global handlungsfähiges Gebilde. Zweitens reichen wirtschaftliche und militärische Motive nicht aus, um unsere Zivilisation zu retten. Da müßten erst noch einige andere Prioritäten in Erscheinung treten. Drittens zeigt das aktuelle Beispiel der Europäischen Union sehr deutlich, wie schwierig es ist, auch nur innerhalb eines begrenzten Kreises von Ländern nationale und übergeordnete Interessen in Einklang zu bringen.

Das Leben auf diesem Planeten ist gefährlicher geworden. Wir sind zunehmend alle wechselseitig voneinander abhängig. Was der eine tut, wirkt sich direkt oder indirekt auf alle anderen aus — und die Geschwindigkeit der Vorgänge hat massiv zugenommen. Gleichzeitig ist das Geschehen viel zu komplex, als daß wir es noch überschauen und wichtige Ereignisse voraussehen könnten. Und erst recht gibt es keine Instrumente oder Institutionen, die eine wirksame Steuerung ermöglichen würden. Dies gelingt nicht einmal mehr auf nationaler, geschweige denn auf globaler Ebene. Wir stehen vor Entwicklungen, die wir nicht wollen — aber wir können sie nicht aufhalten. Wir selbst haben diese Entwicklungen eingeleitet, wir selbst sind Teil davon — aber sie sind uns über den Kopf gewachsen. Wir sind Zauberlehrlinge. Die Welt ist uns entglitten.

   Happening der Weltelite  

Wer die fatalen Mechanismen - Tabuisierung und Verdrängung - studieren möchte, die dazu führen, daß der globale Crash nicht zu verhindern sein wird, hatte unlängst im Schweizer Kurort Davos Gelegenheit dazu. Da findet alljährlich das Weltwirt­schafts­forum (World Economic Forum) statt — eine Versammlung der Größen der Weltwirtschaft, ergänzt durch höchste Vertreter politischer Prominenz. Das Thema des Jahres 1998, nicht gerade bescheiden, aber verheißungsvoll: <Perspektiven für das 21. Jahrhundert>.

Wie immer wimmelte es nur so von großen Namen: Kofi Annan, Bill Gates, Helmut Kohl — um nur drei markante Beispiele zu nennen. Das Wichtigste sind bei dieser Veranstaltung die informellen Kontakte. In kleinsten Zirkeln werden große Geschäfte eingefädelt, Fusionen vorbereitet. Marktabsprachen getroffen. Der Zeitpunkt war günstig, denn es gab ein hochaktuelles Thema: die Asienkrise. Sie war Ende 1997 ausge­brochen, hatte die Weltwirtschaft in ihren Grundfesten erschüttert und ist bis heute nicht ausgestanden.

Zwei Fragenkomplexe drängten sich in dieser Lage förmlich auf. Erstens, Ursachenforschung: Wie konnte es überhaupt zu dieser gefährlichen Krise kommen — ausgerechnet dort, wo für die Zukunft einer der größten Booms aller Zeiten angesagt war? Zweitens, Frühwarnsystem: Wie ist es zu erklären, daß das gesamte vor­handene Instrumentarium — weltberühmte Rating-Agenturen, Weltbank, Internationaler Währungsfond, Welt­handels­organisation, Wirtschafts­verbände sowie nationale, mit gewaltigen Ressourcen ausgestattete Wirt­schafts- und Handels­ministerien — so kläglich versagt hatte. Wenn eine Frage nach Klärung schrie, dann diese.

Der finanzielle Zusammenbruch eines Landes wie Südkorea oder Indonesien ist ein komplexes Geschehen. Aber wie jeder dramatische Vorgang ist er letztlich auf einige wenige Hauptursachen zurückzuführen. Im Falle der Tigerstaaten sind es deren zwei. Zum einen: Wirtschaften auf Pump. Der Boom war nicht mit erwirt­schafteten Mitteln, sondern mit geborgtem Geld hochgepusht worden. Dies ist zwar äußerst riskant und gilt in unseren Landen als unseriös, müßte aber noch nicht zwingend zum Kollaps führen. Theoretisch kann man mit geliehenen Mitteln sinnvolle Investitionen tätigen. Es könnte in großem Umfange Mehrwert geschaffen werden. Aber da gab es Ursache Nr. 2: Korruption und Vetternwirtschaft. Im Clan um den Präsidenten von Indonesien beispielsweise sind in den letzten Jahren reihenweise Freunde und Verwandte auf wundersame Weise zu kleinen und großen Wirtschafts­imperien sowie zu gewaltigen Vermögen gekommen. Da ist kein entsprechender Mehrwert geschaffen, sondern ganz einfach in gewaltigem Umfang Kapital vernichtet worden.

In Davos aber sprach man über Investitions- und Finanzierungsmöglichkeiten, über zukünftige Export­offensiven der Tigerstaaten, über die Auswirkungen auf die Weltkonjunktur. So unglaublich es klingen mag: Die Wurzeln des Debakels blieben unberührt. Es wäre unangenehm gewesen, darüber zu sprechen. Man hatte ja selbst mitgeholfen, den Boom zu finanzieren. Man hatte selbst dort investiert. Man möchte auch in Zukunft dort Geschäfte tätigen. Ebensowenig suchte jemand nach einer Erklärung für die peinliche Tatsache, daß keine der glorreichen Wirtschaftsinstitutionen rechtzeitig Alarm geschlagen hatte.

"Lernen aus Fehlern", lautet in der Wirtschaft eine wichtige Devise. "Jeder darf Fehler machen — aber keiner zweimal den gleichen", wird Führungs­kräften eingehämmert. Zu Recht. Doch dies gilt nicht für die Elite. In Davos waren die Schlüsselfragen tabu. "Business as usual" beherrschte die Szene. Die Koryphäen der Weltwirtschaft, Gschaftlhuber auf höchstem Niveau, haben die Chance vertan, aus der Krise zu lernen. Das nächste Debakel — etwas größer und gefährlicher — kommt so sicher wie das Amen in der Kirche.

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Christoph Lauterburg   1998