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 Teil 6   Szenarium Crash  / Lauterburg-1998

27 - Count-Down 

 

263-277

Die beiden Amerikaner P. Schwartz und P. Leyden haben den bisher wohl umfassendsten Versuch unternommen, die Chancen zu konkret­isieren, welche die Technik für die Menschheit bereithält. Unter dem Titel The Long Boom / Der lange Aufschwung, beschreiben sie in der Zeitschrift Wired (Juli 1997), wie die großen Probleme unserer Zeit — Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, politische Spannungen und Umwelt­zerstörung — in den nächsten Jahrzehnten Schritt für Schritt gelöst werden, so daß die Menschheit im Einklang mit der Natur in Frieden und Wohlstand leben kann.

Die Autoren wollen ihre "Geschichte der Zukunft" zwar ausdrücklich nicht als Prognose, sondern als ein mögliches Szenario, als eine denkbare Zukunfts­entwicklung verstanden wissen. Aber bei der Lektüre wird klar, daß die beiden Autoren den wirt­schaftlichen und sozialen Aufschwung für die wahrscheinlichste aller denkbaren Zukünfte halten. Das Fazit in einem Satz: Wir haben 25 Jahre Prosperität, Frieden und eine bessere Umwelt für die ganze Erde vor uns.

  Traum von einer besseren Welt    

Die Zukunft, so die Argumentation der beiden Autoren, darf nicht aufgrund dessen beurteilt werden, was heute ist. Der atem­beraubende Innovations­rhythmus der letzten Jahre wird sich noch beschleunigen. Auf fünf Gebieten wird es in den nächsten 25 Jahren zu technologischen Quanten­sprüngen kommen: Informatik, Tele­kommunikation, Biotechnologie, Nano­technologie sowie alternative Energien. Diese werden unsere Welt grund­legend verändern.

Durch mobiles Computing, Satelliten-Telefonie und Internet wird die Welt kommunikativ sehr rasch zusamm­en­wachsen. Sprach- und Schrift­erkennung sowie automatische Übersetzung werden die Sprach­barrieren praktisch aufheben. Menschen, Völker und Kulturen werden dadurch immer enger miteinander verbunden.

Mit der Einführung neuer Technologien entstehen neue Produkte, neue Dienstleistungen, neue Märkte, neue Berufe, und damit neue Arbeitsplätze — andere, als wir sie heute haben, aber so viele, daß ein neuer, welt­weiter und anhaltender Wirtschafts­aufschwung in Gang kommt. Die Arbeitswelt wird nicht mehr durch feste Anstellungsverhältnisse geprägt sein, sondern durch viele selbständig berufstätige Menschen, die situativ vermarkten, was sie an Wissen und Know-how anzubieten haben. Viele werden sich von einem breiten Portefeuille durchaus unterschiedlicher Dienstleistungen ernähren. Es wird immer mehr sogenannte virtuelle Unternehmen geben — flexible Netzwerke selbständiger Dienstleister, Gewerbebetriebe und etablierter Firmen, die sich für die Erfüllung bestimmter Marktaufgaben kurz oder auch mal längerfristig zusammen­schließen, aber auf alles verzichten, was nur Geld kostet und mit Umtrieben verbunden ist: eine eigene Gesellschaft, ein Hauptsitz, eine Verwaltung, festangestellte Mitarbeiter. 

In einer hochproduktiven, netzwerkartig strukturierten Wirtschaft mit vielen virtuellen Unternehmen wird es einen neuen, starken Mittelstand geben — und mit ihm einen neuen Wohlstand der Massen. Die enorm gesteigerte Produktivität führt zu gewaltigen Gewinnen und damit zu hohen Zukunfts­investitionen. Hohe Wachstumsraten — eine Verdoppelung der Wirtschaft alle 12 Jahre — sind so gut wie vorprogrammiert. Was wir heute in den USA, in China sowie in den Tigerstaaten erleben, ist erst ein bescheidener Anfang.

Die Nanotechnologie — Konstruktion und Herstellung von Produkten im atomaren Bereich — und die Gen­technik eröffnen Möglichkeiten, von denen wir heute nur träumen können. Miniaturisierte Roboter werden über die Blutbahnen an praktisch jede Stelle des menschlichen Körpers gelangen und dort Diagnosen erheben oder Reparaturen an Zellen vornehmen. Durch Gentherapien werden Krankheiten wie Krebs oder Aids praktisch verschwinden. Neue, gentechnisch optimierte Pflanzen und Nutztiere werden zu einer massiven Steigerung und Verbilligung der Nahrungs­mittel­produktion führen.

Gleichzeitig wird die Umweltbelastung aufgrund neuer, energiesparender und umweltschonender Herstellungs- und Transport­verfahren drastisch zurückgehen. Mit Erdgas betriebene Hybridmotoren werden schon kurz nach der Jahrtausend­wende zu sauberen Abgasen der Automobile führen — und ab 2020 wird eine Umstellung auf Brennstoffzellen erfolgen. Eine einzige Tank­füllung Wasserstoff reicht dann für Tausende von Kilometern und monatelanges Fahren aus. Das einzige Abfallprodukt: reines Wasser.

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   Friede auf Erden  

In der als Folge der Globalisierung hochvernetzten Welt hängen die verschiedenen Länder wirtschaftlich derart stark voneinander ab, daß es praktisch keine Kriege mehr gibt. Die Menschen empfinden immer mehr, daß wir im Grunde alle "in einem Boot" sitzen. Die Erkenntnis setzt sich weltweit durch, daß mit offenen Märkten und kaufkräftigen Konsumenten letztlich allen gedient ist. 

Ab 2010 kommt weltweit eine Generation ans Ruder, die mit den neuen Medien und Technologien aufgewachsen und deshalb aufgeschlossener und weltoffener ist. Dies hat Konsequenzen für die Politik. Das Wirtschafts­produkt wird besser verteilt. Die Angst totalitärer Regime vor demokratischen Reformen nimmt ab. Armen Ländern wird von den führenden Wirtschaftsnationen im eigenen Interesse unter die Arme gegriffen. Der Staat kann aufgrund der prosperierenden Wirtschaft seine Finanzen sanieren und definiert seine Rolle neu. Als Hauptaufgabe des Staates steht die soziale Integration im Vordergrund: Schaffen einer funktions­fähigen multi­kulturellen Gesell­schaft. Das Denken in Nationen nimmt ab, auf globaler Ebene kommt es zu einer "Zivilisation der Zivilisationen" — zu einem friedlichen Miteinander in einer multikulturellen Welt.

Die Autoren formulieren für die ihrer Ansicht nach bereits angebrochene neue Ära ein ebenso einfaches wie allgemeingültiges Prinzip: Offen, gut — geschlossen, schlecht. Unsere Zukunft wird durch Offenheit geprägt sein — Offenheit der Märkte, der Grenzen, des Geistes.

Soweit eine der schönsten Zukunftsvisionen, die mir bekannt sind.
Wer würde nicht gerne an eine solche Zukunft glauben?
Wer würde die Chancen zukünftiger technologischer Innovationen in Abrede stellen?
Wer wollte bezweifeln, daß ein friedliches Leben der Menschen auf diesem Planeten theoretisch möglich wäre? 

   Der Faktor Mensch  

Die beiden Autoren haben in vielen Punkten völlig recht. Wir sind schon heute durch elektronische Medien, Transportwege und wirtschaftliche Verbindungen weltweit vernetzt. Die wechselseitigen Abhängigkeiten werden sich in Zukunft noch massiv verstärken. Auch wenn wir wollten — wir könnten das Rad nicht mehr zurück­drehen. Und: Man kann nicht elektronisch und wirtschaftlich weltweit vernetzt sein — und sich gleich­zeitig politisch und sozial abschotten. Das funktioniert ganz einfach auf Dauer nicht. Es bleibt im Grunde nur der Weg nach vorn.

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Doch leider werden uns weder die Technik noch die Wirtschaft das Heil bringen können. Im Gegenteil. Der Glauben, das einzige, was uns fehlt, sei ein stärkeres Wirtschaftswachstum, ist selbst das Problem, für dessen Lösung er sich hält. 

Mit den Lebens­mitteln, die heute weltweit produziert und konsumiert werden, könnte man leicht die ganze Menschheit ernähren. Und wenn das Geld, welches für Rüstung aufgewendet wird, in den Umwelt­schutz und in die qualitative Entwicklung dieses Planeten investiert würde, könnten sogar noch etliche Menschen mehr eine einigermaßen ersprießliche Zukunft vor sich haben. 

Es fehlt uns nicht an Geld. Das Problem besteht darin, daß die einen sich Fettbäuche anfressen, und die andern verhungern.

Im übrigen ist es ja nicht so, daß das Experiment Zivilisation gerade eben begonnen hat, und man gespannt sein darf auf die Ergebnisse der nächsten 20 Jahre. Die Langzeitstudie menschlicher Gesellschafts­bildung dauert mittlerweile einige Tausend Jahre. An technischen Errungenschaften und wirt­schaftlichen Glanzzeiten hat es in der Vergangenheit beileibe nicht gefehlt. Schon gar nicht in den letzten 100 Jahren. Und das Ergebnis ist bekannt.

Der Engpaß sind wir selbst. Das Problem ist der Mensch.

Wo stehen wir denn heute — nach Jahrzehnten eines beispiellosen wirtschaftlichen Booms, nach zahllosen technologischen Quanten­sprüngen auf den verschiedensten Gebieten? In den westlichen Wohlstands­ländern ist jeder sich selbst der Nächste. Konsum und eigene finanzielle Absicherung stehen im Vordergrund. Und wo politisches Engagement erkennbar wird, geht es in vier von fünf Fällen um die Durchsetzung wirtschaftlicher Sonderinteressen. 

In den Schwellen- und Entwicklungsländern aber herrschen erst recht nicht Verhältnisse, die einen weltweiten Zusammenschluß zu einer Völkergemeinschaft als realistische Perspektive erscheinen ließen. Alle sind hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. Wenn es über die Grenzen hinausgehende Interessen gibt, sind diese rein wirtschaftlicher Natur. Und häufig genug muß man sehr deutlich unterscheiden zwischen einer herrschenden Clique, die auf dem inter­nationalen Parkett in Erscheinung tritt, und einem Volk, das politisch nichts, aber auch gar nichts zu sagen hat.

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   Mammon — oder der Tanz um das goldene Kalb  

Für die Zukunft der Menschheit ist auch nicht entscheidend, was die Technik uns noch an Möglichkeiten bescheren wird. Ent­scheidend ist, wer Zugang hat zu den jeweils neuesten Technologien — und wie der damit generierte Wohlstand verteilt wird. Dies war schon vor Jahrtausenden der Dreh- und Angelpunkt. Er ist es heute. Und er wird es auch in Zukunft bleiben. 

Wohlstand — wie immer entstanden — wurde und wird ungleich verteilt. Und im Gegensatz zu Parolen, die verständlicherweise vor allem von den Besitzenden verbreitet werden, hat dies mit Tüchtigkeit im engeren Sinne nicht immer viel zu tun. Das eigentliche Thema heißt Macht.

Dies läßt sich am einfachsten am Beispiel des Reichtums illustrieren, der durch Erdöl oder Erdgas erzeugt wird. Denn diese Energieträger sind nicht in irgendeinem Laboratorium in jahrelanger Arbeit entwickelt und anschließend weltweit patentiert worden. Sie kommen aus dem Boden — und die Bodenschätze eines Landes, würde man meinen, gehören allen. Doch weit gefehlt. Ob in Mexiko, in Nigeria oder in Rußland — um nur drei Beispiele aus drei verschiedenen Kontinenten zu nennen: Es ist eine hauchdünne Schicht von Politikern, Funktionären und Unternehmern, die sich maßlos bereichert — und sich um die eigene Bevölkerung einen Dreck schert. Wenn es Armut, Hunger und Elend gibt, so die dort herrschende — und, wie mir scheint, weltweit geteilte — Meinung, gehören sie in den Zuständig­keitsbereich internationaler Hilfsprogramme. So einfach ist das.

Der von Präsident Jelzin abgehalfterte General a.D. Alexander Lebed zu der Frage, wo heute die Macht in Rußland liegt: "Das Sagen in Rußland haben Verwaltungszombies, großgeworden auf den Trümmern der Sowjetmacht. Und sie sind ausschließlich mit zweierlei beschäftigt: der Neuverteilung von Eigentum und dem Umlenken von finanziellen Strömen. Außerdem reisen sie durch die Welt und betteln." Die Karriere Lebeds bestätigt, was er sagt. Der Mann, von dem alle wissen, daß er unter anderem für die Bekämpfung der Korruption steht, wurde ausgerechnet unmittelbar nach einer diplomatischen Großtat, nämlich der erfolgreichen Beendigung des Tschetschenien­krieges, von Jelzin auf Druck der Staatsmafia sang- und klanglos aller Funktionen enthoben.

  Die globale Gesellschaft  

Mit Überbevölkerung, Armut und Analphabetismus, mit Verstädterung und Migration, mit Wirtschaftskrise, Über­forderung des Rechtsstaates und Wachstum des organisierten Verbrechens, mit Raubbau und Umwelt­zer­störung sind Trends eingeleitet, die nicht nur zu schwerwiegenden politischen und sozialen Spannungen und Konflikten führen, sondern schlicht unsere Lebensgrundlagen gefährden.

Die Lösung dieser Probleme würde eine globale Gesellschaft voraussetzen, die über Sprach-, Länder- und Kultur­grenzen hinweg ein Mindestmaß an wirt­schaft­lichem und sozialem Ausgleich schafft und gleichzeitig weltweit die Schonung der natürlichen Ressourcen durchsetzt.     deto-2019: "Weltinnenpolitik"

Eine solche globale Gesell­schaft wiederum würde in den einzelnen Ländern und Regionen weltoffene, verantwortungs­bewußte und kompromiß­bereite Menschen voraussetzen. Mehrheitlich zumindest.

In Tat und Wahrheit aber ist eine Mehrheit der Menschen aufgrund mangelnder Ausbildung sowie aufgrund ihrer Lebenssituation gar nicht in der Lage, die Komplexität der Probleme auf diesem Planeten zu erfassen. 

Und sie ist erst recht emotional nicht bereit, fremde Menschen und Kulturen in ihrer Anders­artigkeit als gleich­berechtigte Partner zu akzeptieren. Bereitschaft zum Kompromiß — insbesondere zum wirtschaftlichen Verzicht zugunsten anderer — ist absolute Mangelware. 

Dabei würde in den hoch­entwickelten Ländern Verzicht allein noch nicht einmal genügen. Persönliches Interesse und Engagement für das, was sich anderswo auf dieser Erde abspielt, wären unverzichtbar. 

Denn in einer Demokratie bestimmt letztlich die Mehrheit der Bevölkerung, wie die Weichen in der Politik gestellt werden. Die hohe Politik bildet letztlich nur ab, was aus den Menschen kommt. Wie der amerikanische Präsident sagte: "Wir sind gescheitert beim Versuch, das amerikanische Volk über die Folgen der globalen Erwärmung aufzuklären."  

Die Menschen — wo immer auf dieser Welt — denken kleinräumig, kurzfristig und egozentrisch.

Zur Zeit der Urhorde war dies überlebensnotwendig. Aber in der Zeit danach hat sich daran — bei Lichte betrachtet — nichts verändert. Auch nicht im 20. Jahrhundert, einer Zeit sich überstürzender technologischer Quantensprünge. Dies wird jetzt nicht plötzlich anders werden — schon gar nicht in den nächsten zwei Jahrzehnten. 

Nicht ausgerechnet in einer Zeit, in der zunehmend mehr Nachwuchs in die Welt gesetzt wird, der keine Kultur- und Gesellschafts­fähigkeit mehr besitzt. Nicht in einer Zeit, in der die Schere zwischen Arm und Reich weltweit auf- statt zugeht; in der die Aufwendungen für Entwicklungshilfe sinken statt steigen; in der die sozialen Spannungen allenthalben zunehmen und Konflikte immer häufiger mit Gewalt ausgetragen werden; in der sich das organisierte Verbrechen weltweit zur stärksten Wirtschafts­branche entwickelt hat und ein beispielloses Wachstum aufweist.

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   Braune Aussichten  

Eine stabile Weltlage würde stabile Verhältnisse in den einzelnen Ländern voraussetzen. Doch in vielen Ländern bahnt sich gerade auf nationaler Ebene eine Zerreißprobe an. Als Folge der Globalisierung der Märkte werden mittel- und länger­fristig unüber­brückbare Interessen­gegensätze in den einzelnen National­staaten entstehen.

Ich fasse hier nur kurz zusammen. 

Die technologische Rationalisierung, die Konzentration in der Wirtschaft durch Fusionen, die Auslagerung von Arbeits­plätzen in Länder mit tieferem Lohnniveau sowie massenhafte Pleiten aufgrund schrumpfender Märkte bescheren uns eine steigende Arbeitslosigkeit und damit eine schleichende Verarmung breiter Bevölkerungs­schichten. Gleichzeitig wandern immer mehr Menschen aus anderen Ländern zu, die vom nationalen Sozialnetz profitieren, günstigen Wohnraum besetzen und einen hohen Anteil an der Kriminalität stellen. 

Wenn sich beispielsweise herausstellt, daß es sich bei bis zu 80% der professionellen Drogendealer größerer mitteleuropäischer Städte um sogenannte "Asylsuchende" und illegale Einwanderer handelt, muß man nicht mehr fragen, wie sich die emotionale Lage der Bevölkerung auf Dauer entwickeln wird.

Und da ist schließlich die schleichende Erosion des Staates als einzig legitimer Ordnungskraft. Es erwachsen ihm laufend neue Aufgaben, die Sozialkosten explodieren — und gleichzeitig verliert er seine finanzielle Basis. Die Zahl der Menschen mit mittleren Einkommen sinkt ab — und private Investoren sowie institutionelle Anleger haben in einer globalisierten Wirtschaft durchaus legale Möglichkeiten, den nationalen Fiskus zu umdribbeln. Vom Problem der Steuer­hinterziehung gar nichts erst zu reden.

 

Aus diesem Dilemma gibt es aus heutiger Sicht keinen Ausweg — und es wird ihn auch in Zukunft nicht geben können, ohne daß an fundamentalen Mechanismen des Weltwirtschafts­systems etwas geändert würde. Doch dazu wird es nicht kommen. Das Problem wird systematisch verleugnet und verharmlost, denn da sind viel zu mächtige wirtschaftliche Interessen tangiert.

Wirt­schaftliche und politische Interessen aber sind in den einzelnen Ländern so eng verflochten, daß eine ernsthafte Debatte über grundsätzliche Veränderungen gar nicht erst geführt wird. Kein parlamentarischer Vorstoß in irgendeinem europäischen Land, der auf mehr als kosmetische Retuschen abzielte, hat in den letzten Jahren auch nur zu einer breiteren Diskussion geführt. Das Killer-Argument "Das würde Arbeitsplätze kosten" verfängt immer.

Dabei würde es noch nicht einmal genügen, auf nationaler Ebene umzudenken. Alle wichtigen Wirtschafts­nationen müßten sich gemeinsam auf neue, verbindliche Spielregeln verständigen. Und zwar bald.

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In Tat und Wahrheit hätte es längst geschehen müssen, denn wir haben nicht mehr Jahrzehnte Zeit, uns zu überlegen, ob und gegebenenfalls wie die globale Lage saniert werden soll. Es muß deshalb damit gerechnet werden, daß wir in einer ganzen Reihe von Ländern, vorab in Europa, in zunehmende soziale Spannungen und Konflikte hineinschlittern werden.

Ein neues Proletariat ist im Entstehen begriffen. Massive nationalistische Bewegungen werden in Gang kommen. Und mal hier und mal da werden sie irgendwann einmal die Oberhand gewinnen. In manch einem heute demokratischen Land werden reaktionäre Elemente Versuche unternehmen, eine faschistische Ordnung zu etablieren. Und nicht alle diese Versuche werden von Mißerfolg gekrönt sein. Und da keine faschistische Bewegung ohne Widerstand an die Macht kommt, ist auch mit gewalttätigen Auseinandersetzungen zu rechnen.

Manch ein Land, das heute als Einheit erscheint, wird möglicherweise auseinanderbrechen. Ob ein Europa in der Form, wie es uns heute vorschwebt, Bestand hat, wird sich dann zeigen. Mit Sicherheit aber tragen nationalistische und faschistische Tendenzen nicht zum Zusammen­wachsen einer multi­kulturellen Völker­gemeinschaft bei. Im Gegenteil: Die Völker könnten sich sehr leicht weiter voneinander entfernen.

  Das Hohelied auf den Cyberspace  

Wer sich von den neuen Medien das Heil erhofft, der setzt auf das falsche Pferd. Erstens wird auch in der absehbaren Zukunft nur eine kleine Minderheit der Menschen über die notwendigen Voraussetzungen — nämlich Geld, Bildung und Infrastruktur — verfügen, um im Internet herum­zusurfen. Im Moment dürfte es nicht viel mehr sein als ein halbes Prozent der Weltbevölkerung. Und was tun diese Menschen im Internet? 

Sie beschaffen sich irgendwelche Fach- oder Produk­tinformationen, die sie brauchen, um ihr Geschäft zu betreiben oder ihren privaten Steckenpferden nachzugehen. Die mit Abstand höchste Frequenz verzeichnet — zumindest in unseren, sogenannten hochentwickelten Ländern — die Pornographie. Und nicht wenige sind ganz einfach süchtig. Sie surfen mehr oder weniger ziellos im Cyberspace herum, um sich nicht mit der inneren Leere in ihrem realen Leben befassen zu müssen. 

Nein, Bildschirm und Internet sind nicht das, was aus einem Menschen einen sozial interessierten, verant­wort­ungs­bewußten und engagierten Erdenbürger macht.

Und wenn dem doch so wäre: Die Menschen, die in 20 Jahren erwachsen sein werden, weilen heute bereits unter uns. Sie werden nicht irgendwann einmal in der Zukunft geboren werden. Sie sind da. Die Jüngsten unter ihnen würden heute und in den nächsten wenigen Jahren Nahrung, Gesundheit und eine intakte Familie benötigen, um sich zu gesellschaftsfähigen und internetkompatiblen Menschen entwickeln zu können. Sie müßten zur Schule gehen. 

Irgendjemand müßte sie sorgfaltig mit den Problemen auf diesem Planeten und Wegen zu ihrer Lösung vertraut machen. Und dabei ginge es nicht um den Nachwuchs einer begrenzten Anzahl privilegierter Wohlstandsbürger. Es ginge um Hunderte von Millionen Kinder und Jugendliche rund um den Globus. Jetzt.

Nein, der Cyberspace macht zwar Leute wie Bill Gates reich. Aber er wird zur Lösung unserer Zukunfts­probleme kaum einen entscheidenden Beitrag leisten. Im Gegenteil, er wird zu einer noch klareren Trennung von Wissenden und Unwissenden führen — und, wie das Sprichwort sagt: "Wissen ist Macht", Unwissen bedeutet Ohnmacht. 

Vielleicht hätten wir eine Chance, wenn etwas weniger von Technologie und Brutto­inland­produkt die Rede wäre — und etwas mehr von den Verteilungs­strukturen sowie von der Qualität der Umwelt auf diesem Planeten. Aber die weltweit herrschende Wertordnung ist nun mal anders gestrickt.

  Wenn der Klon kommt  

Bleibt uns die Gentechnologie. Auch da fehlt es nicht an Träumen. Wie wär's mit diesem: Möglicherweise wird man eines Tages den gesamten menschlichen Nachwuchs klonen und industriell herstellen können. Man wird jedes gewünschte Verhaltens­programm sowie alle nur erdenklichen Wissensinhalte vom Internet direkt auf die grauen Zellen der Klone herunter­laden können. Aber ich finde diesen Gedanken wenig attraktiv. 

Da geht es mir wie der alten Bergbäuerin, der berichtet wurde, neuerdings könne man die Kühe künstlich befruchten. Die komplizierte Hin- und Herreiserei mit dem Vieh falle weg. "Kann man das auch beim Menschen machen?", wollte die Bauerin wissen. Im Prinzip schon, erwiderte der Besucher. "Ach", meinte die Bäuerin, "ist das aber schade für den schönen, alten Volksbrauch!"

Doch Spaß beiseite: Auch das Klonen würde unsere Probleme nicht lösen. Ein geklonter Mensch wäre ja nichts anderes als ein Mensch mit exakt den gleichen Erbanlagen wie ein anderer — eine Art eineiiger Zwilling des Originals. Aber anders als beim Tier hängen die Entwicklung und das Verhalten eines Menschen nicht nur von seinen Erbanlagen ab, sondern auch — sehr wesentlich sogar — von seiner Erziehung und seinem sozialen Umfeld. Ob ein Mensch ein Verbrecher wird oder nicht, entscheidet sich nach und nicht vor seiner Geburt. Dies gilt auch für Klone.

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Die Diskussion über Gentechnik wird in den USA ganz anders geführt als in Europa. Man setzt auf die wirtschaft­lichen Chancen dieses Wissenschafts­zweiges und will sich hier rechtzeitig einen weltweiten techno­logischen Vorsprung sichern. Die amerikan­ische Industrie bereitet sich bereits heute gezielt auf das Klonen im Humanbereich vor. Ich gehe davon aus, daß es in den USA in nicht allzuvielen Jahren die ersten geklonten Menschen geben wird.

Aber erstens werden dies keine Androiden sein, sondern Menschen wie du und ich. Zweitens werden Klone zumindest auf absehbare Zeit die Ausnahme und nicht die Regel darstellen. Drittens werden sie, wie alle Menschen, 20 Jahre brauchen, um erwachsen zu werden. Mit anderen Worten: Da ist nicht von heute auf morgen mit einer dramatischen Wende zu rechnen. Das Schicksal der Menschheit wird sich aber in den nächsten wenigen Jahrzehnten entscheiden — lange bevor das Klonen unseres Nachwuchses einen wie auch immer gearteten Einfluß auf die Gesamtentwicklung würde nehmen können.

 

   Rezepte  

Es gibt - leider vorwiegend außerhalb der etablierten politischen Szene - immer wieder kritische Beobachter der Weltlage, die davon überzeugt sind, daß unsere Zukunft ernsthaft gefährdet ist. Leute, die glauben, daß dringend etwas getan werden muß. Und sie sagen zum Teil auch was. Ich will hier lediglich zwei Beispiele zur Illustration heranziehen.

1.
Das amerikanische <Worldwatch Institute> stellt fest: Zwischen 1990 und 1997 sind weltweit Güter und Dienst­leistungen im Wert von fünf Billionen Dollar produziert worden. Dieses Volumen entspricht dem gesamten Wachstum vom Beginn der menschlichen Zivilisation bis zum Jahre 1950. Wenn das konsum­orientierte west­liche Wirtschaftsmodell so weitergeführt wird, führt dies gerade­wegs in den Kollaps. 

Das Institut fordert zur Rettung der Erde dringend eine weltweite Steuerreform. Besteuert werden müsse der Ausstoß von Kohlen­dioxid, die Nutzung von Rohstoffen sowie anderes "umweltschädliches Verhalten". Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuern dagegen müßten sinken. Nun, dem kann man getrost beipflichten. Fehlt nur noch jemand, der in der Lage wäre, derartige Eingriffe in das Gefüge der Weltwirtschaft gegen den erklärten Willen des versammelten Großkapitals durchzusetzen.

2.
Das Buch <Countdown 2000: Chancen einer nachhaltigen Gesellschaft> von Walter Wittmann dagegen enthält einen ganzen Katalog von Maßnahmen. Das 10-Punkte-Programm lautet wie folgt:

  1. Stabilisierung der Weltbevölkerung durch rigorose Geburtenkontrolle.

  2. Einschränkung des Verbrauchs an nicht lebensnotwendigen Gütern — d. h. Konsumverzicht — in den reichen Ländern.

  3. Einsatz von Wasserstoff als Ersatz für Erdöl sowie Umstellung auf schienengebundenen Verkehr vor allem in den Ballungszentren.

  4. Verbesserung der Effizienz beim Einsatz von Ressourcen.

  5. Schutz der Umwelt: Revolutionierung der Nahrungsmittelproduktion, Schonung der Böden, der Wälder und des Wassers.

  6. Vermeiden, Sammeln und Entsorgen chemischen und/oder giftigen Mülls.

  7. Globales Moratorium für den Bau von Atomkraftwerken bis die sichere Endlagerung atomaren Mülls gewährleistet ist.

  8. Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen aller Art und Vernichtung der Arsenale durch die traditionellen Atommächte.

  9. Stabilisierung, Entflechtung und Sanierung der Megaballungszentren, vor allem in der Dritten Welt.

  10. Abschied vom quantitativen Wachstum, Aufgabe des Raubbaus an der Umwelt, Schaffen einer nachhaltigen Gesellschaft.

Ich wähle dieses Beispiel, weil hier nicht nur von Wirtschaft, Technologie und Umwelt die Rede ist, sondern von einer ganzheit­lichen Sanierung der globalen Lage. Man kann dem Autor in allen Punkten nur zustimmen. Aber Sie müssen sich diese Forderungen wirklich einmal in Ruhe zu Gemüte führen, und sich dann selbst eine Antwort geben auf die Frage, ob auch nur eine - geschweige denn das ganze Programm - Chancen hat, verwirklicht zu werden. Wie der Autor in seinem Kommentar selbst einräumt: "Der Mensch ist kein verzicht­ender Altruist, sondern ein expansiver Egoist."  Das Problem besteht leider nicht so sehr darin, zu definieren, was zu tun wäre, sondern darin, das, was geschehen sollte, umzusetzen. 

   272-273

    Die Parabel von der Eule 

Von Beratern in der Wirtschaft wird gesagt — nicht immer zu unrecht —, sie hätten jede Menge guter Ideen zur Hand, was getan werden sollte, würden sich aber zu wenig darum kümmern, wie diese umgesetzt werden könnten. Man greift dann gerne auf die Parabel von der Eule zurück.

Eine Delegation von Mäusen klopft bei der Eule an und bittet um Audienz. "Liebe Eule, wir haben von deiner Weisheit gehört, und sind von weit her angereist, um dich um Rat zu fragen. Wir sind in großer Not. Bei uns gibt es eine große, böse Katze, die Mäuse frißt. Viele von uns sind bereits verschwunden. Wir sind in großer Angst um unser Leben. Wie können wir uns schützen?" Die Eule schließt die Augen und fängt an zu denken. Nach langer Zeit öffnet sie ihre großen Augen, blickt in die Ferne, und sagt: "Ihr müßt der Katze eine Glocke um den Hals hängen. Wenn sie dann versucht, sich anzuschleichen, werdet Ihr sie hören und könnt fliehen."

Die Mäuse sind begeistert von dieser Idee, bedanken sich bei der Eule für ihren Rat, und machen sich auf den Heimweg. Zu Hause angekommen, kaufen sie eine schöne, große Glocke. Da fragt ein kleines Mäuschen: "Wie wollt Ihr der Katze diese Glocke umhängen, ohne gefressen zu werden?" Die großen Mäuse blicken sich erschrocken an, und keine weiß Rat. "Wir müssen nochmals zur Eule gehen", sagt der Obermäuserich, "sie wird uns sagen, wie man das macht." Gesagt, getan. "Liebe Eule, wir brauchen nochmals deinen Rat. Wie können wir der Katze die Glocke umhängen, ohne daß sie uns frißt?" Die Eule erwidert: "Ich habe euch das Prinzip erklärt. Für die Umsetzung in die Praxis seid Ihr selbst verantwortlich."

Dies ist auch unser Dilemma. Es geht längst nicht mehr darum, herauszufinden, was zu tun wäre. Es fehlt lediglich an Möglich­keiten, das Wünschbare und Notwendige zu verwirklichen.

Als Ausfluß des in den westlichen Ländern herrschenden Parteiensystems sowie der auf allen Stufen herrschenden Überforderung politischer Funktionsträger beschäftigt sich die Politik allenthalben in der Hauptsache mit sich selbst. Sie kann sich nicht auch noch um die großen Probleme unserer Zeit kümmern. Dabei wäre es mit kümmern noch nicht einmal getan. Man müßte auch noch Lösungen finden — und diese umsetzen.

Der deutsche Bundespräsident Roman Herzog, beunruhigt über den Reformstau in der deutschen Innenpolitik und die Unfähigkeit der Parteien, die anstehenden Probleme gemeinsam anzugehen, beklagte im Frühjahr 1997 in einer vielbeachteten Rede die Erstarrung von Politik und Gesellschaft und nannte konkret eine ganze Reihe dringend notwendiger Veränderungen. Er betonte aber, das eigentliche Problem sei nicht die Analyse, sondern die Durchsetzung. Zitat: "Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem."

Dieser denkwürdige Satz hat Gültigkeit für vieles, was auf dieser Welt geschehen sollte und nicht geschieht. Bezüglich der globalen Lage haben wir allerdings nicht nur ein Umsetzungsproblem. Da mangelt es rund um den Globus bereits an Erkenntnis.

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   Zeichen der Angst 

Man braucht die Vorgänge auf diesem Planeten nicht im einzelnen zu überblicken oder gar in ihren komplexen Wechselwirkungen zu verstehen, um sich bezüglich unserer Zukunft Sorgen zu machen. Es genügt, festzustellen, wie sich unsere Umwelt und unsere Gesellschaft innerhalb weniger Jahre verändert haben. Viele Menschen reagieren denn auch ganz einfach auf das, was sie in ihrem unmittelbaren Umfeld beobachten. Sie fragen sich, wo das hinführt. Und sie haben Angst vor dem, was kommt.

Man muß nicht im Kaffeesatz abgehobener ökonomischer Theorien lesen, was es bedeuten könnte, daß Massen von Menschen jeden ersparten Pfennig auf die hohe Kante legen, anstatt ihn unter die Leute zu bringen und damit die Wirtschaft anzukurbeln. 

Man braucht auch nicht Sigmund Freud zu konsultieren, um zu verstehen, wie es kommt, daß so viele Leute, die ansonsten ihren Gürtel ins engste Loch geschnallt haben, so viel Geld fürs Reisen ausgeben. Warum Natur- und Tierdokumentarfilme im Fernsehen sich eines so hohen Interesses erfreuen. Warum zunehmend mehr Menschen aller Altersklassen "aussteigen", auswandern und unserer überdrehten Zivilisation den Rücken kehren. 

Oder warum gestandene Manager, die sich beruflich nur in klimatisierten Büroräumen, chauffierten Limousinen, Flugzeugen und Firstclass-Hotels aufhalten, für ihre Ferien ein Überlebens­training im südamerika­nischen Dschungel buchen. Da wird nicht zum Ausgleich gerudert, gewandert, gesegelt oder geklettert. Das nackte Überleben in der Wildnis wird geübt.

Es gibt aber nicht nur die Flucht nach außen, die Suche nach der Robinsoninsel irgendwo draußen im Ozean. Es gibt auch die Flucht nach innen. Esoterische Zirkel haben Hochkonjunktur. Wahrsagen, Kartenlegen und Horoskopieren sind zu florierenden Dienstleistungen geworden, die nicht nur von frustrierten Hausfrauen, sondern auch von ratlosen Unternehmern, Managern und Politikern in Anspruch genommen werden. Science-Fiction-Filme sind das große Geschäft — besonders, wenn darin mit Außer­irdischen Kontakt aufgenommen wird. Denn, wer weiß, vielleicht helfen sie uns aus unserer Misere hienieden — oder laden uns gar zu sich nach Hause, auf irgend einen fernen Planeten ein, wo alles viel besser ist.

Und da ist schließlich der Zulauf, den religiöse Gemeinschaften aller Art zu verzeichnen haben. Was zieht so viele Menschen in eine Sekte? 

Zum einen: die tiefe Sehnsucht nach einer übergeordneten Schicksalsmacht, die einem wohlgesonnen ist. Die Sehnsucht nach Geborgenheit und Verständnis. Eine innere Erlebniswelt, die ruhiger, wärmer und akzeptierender ist als unsere knallharte, eiskalte Leistungsgesellschaft.

Zum zweiten: Eine wie auch immer geartete, klare Werteordnung. Ein weltanschaulich fundiertes Verhaltens­programm. Orientierung. Leitplanken. Und damit innerer Halt. 

Zum dritten: ein soziales Netz. Freunde und Bekannte. "Wir"-Gefühl im Kreise Gleichgesinnter. Eine persönliche Identität als Individuum in einer über­schau­baren Gemeinschaft. Mit anderen Worten: All das, was uns in unserer Massen­gesellschaft abhanden gekommen ist. 

Die traumhaften Wachstums­raten gerade auch totalitärer und ausbeuterischer Sekten und Pseudo­religions­gemein­schaften zeigen, wie stark das Bedürfnis  nach Halt in unserer Gesellschaft zugenommen hat. Ein Sprichwort sagt: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Genauso gilt: Geteilte Angst ist halbe Angst. Je bedroh­lich­er das Umfeld und die Zukunft, desto dringender der Bedarf nach Gemeinschaft mit anderen. Man darf des­halb nicht nur fragen: Wohin wenden sich diese Menschen? Man muß auch fragen: Wovon wenden sie sich ab?

   Die soziale Bombe tickt  

Die Angst der Menschen - bewußt oder unbewußt - kommt nicht von ungefähr. Wir sind tatsächlich bedroht, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen durch die fortschreitende Zerstörung unserer natürlichen Lebens­grundlagen. Zum andern aber durch unsere Formen des Zusammen­lebens und Zusammen­wirkens. Durch die Zersetzung unserer gesellschaftlichen Strukturen. Das heißt: durch uns selbst.

Die beiden Entwicklungen - die ökologische und die gesellschaftliche - beeinflussen und verstärken sich gegenseitig. Wirbel­stürme und Waldbrände, Verkarstung und Verwüstung, Mißernten und Epidemien verstärken die sozialen Probleme. Sie tragen bei zur Verstädterung, zur Migration, zur Armut, zum Hunger und zum Elend auf dieser Welt. Überbevölkerung, Armut, Hunger und Elend ihrerseits tragen bei zur Plünderung der letzten natürlichen Ressourcen und zur Zerstörung der Umwelt. Wir haben es mit einem verhäng­nis­vollen Teufelskreis zu tun.

Man kann also die beiden Entwicklungen nicht völlig isoliert betrachten. Aber beide haben ihre eigene Dynamik. Und wenn man die Erfahrungen der letzten Jahre zugrunde legt, kann man sich eines Eindruckes kaum erwehren: Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Spannungen, die Gewalt­bereitschaft, die Kälte und die Orientierungs­losigkeit in der Gesellschaft haben besonders stark zugenommen. 

Die innere Zersetzung der Gesellschaft schreitet schneller voran als die Zerstörung unserer biologischen Lebens­grund­lagen. Es sieht so aus, als stünde uns ein Zusammenbruch wirtschaftlicher, politischer und gesellschaft­licher Strukturen näher bevor als ein globaler, ökologischer Kollaps. Auf einen solchen steuern wir zwar auch zu — aber wohl nicht mit der gleichen Geschwindigkeit.
Wenn nicht alles täuscht, kommt der Sozio-Crash noch vor dem Öko-Crash.

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Christoph Lauterburg   -   Der globale Crash und die Zukunft des Lebens  +  1998