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1  Ein persönlicher Standpunkt 

 

 

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Man kann sich kaum vorstellen, wie überrascht ich war, als ein Kollege an einem Nachmittag im April 1989 in mein Büro im Museum von Nairobi platzte und aufgeregt rief: »Herzlichen Glückwunsch!« Verdutzt erwiderte ich: »Wozu?« Daraufhin berichtete mein Kollege, was er im Radio gehört hatte: Man habe mich zum Direktor der Tier- und Naturschutzbehörde ernannt. Die Entscheidung des Präsidenten Daniel arap Moi war gerade im Rundfunk bekanntgegeben worden. 

»Davon weiß ich noch gar nichts«, sagte ich. Die Arbeit dieses Tages blieb liegen: Ich verließ sofort das Museum und fuhr nach Hause. Am nächsten Morgen telefonierte ich mit dem Präsidenten, und er bat mich, ihn aufzusuchen; er wollte mit mir über einen neuen Versuch sprechen, den Tierschutz in unserem Land umzugestalten und unter anderem zu verhindern, daß die Elefanten im tödlichen Kugelhagel aus den Gewehren der Wilderer ausgerottet wurden.

Es war der Beginn einer der schwierigsten Phasen in meinem Leben. Ich würde mich von meiner Stelle als Direktor des kenianischen National­museums, die ich über zwanzig Jahre lang bekleidet hatte, ebenso trennen müssen wie von meiner heißgeliebten Paläoanthropologie, der Suche nach den Ursprüngen des Menschen, die ich ebensolange in den fossilreichen Sedimenten am Westufer des Turkanasees in Nordkenia betrieben hatte. Ich würde zu meinen Wurzeln zurückkehren.

Als ich ein kleiner Junge war, ließen der Duft der milden Luft, der Anblick wilder Orte und wilder Tiere sowie die nächtlichen Geräusche unsichtbarer Geschöpfe tief in mir eine Liebe zu Afrika wachsen, eine Liebe zur Natur. Damals interessierte ich mich mehr für lebende Wesen als für die uralten Knochen, von denen Louis und Mary Leakey, meine Eltern, zu meiner Verblüffung und häufigen Verwirrung so fasziniert waren. 

Ihre Entdeckungen, durch die Ostafrika als entscheidendes Gebiet für die Entdeckung von Spuren unserer ältesten Vorfahren anerkannt wurde, sind in den Annalen der Suche nach der Abstammung des Menschen zur Legende geworden. Mein Vater war aber nicht nur versessen auf die Vergangenheit, sondern er hatte auch eine große Leidenschaft für die Naturforschung und schrieb über die Tiere dieser Gegend mehrere Bücher. Außerdem gründete er 1958 die East Africa Wildlife Society, die für die ökologische Forschung und den Naturschutz des Landes noch heute eine große Rolle spielt.

Als wir klein waren, wanderte Louis mit meinen Brüdern Jonathan und Philipp und mir oft durch die Olduvai­schlucht und erzählte dabei endlose Geschichten — er in der Hoffnung, Hinweise auf neue Fossillager­stätten zu entdecken, wir in der Hoffnung auf den Anblick eines reißenden Löwen oder eines schleichenden Leoparden. Oft waren Szenen wie aus dem Bilderbuch unser Lohn. Auch nachts im Lager fesselte er uns mit Geschichten, während die ruhige Luft von den Lauten der Natur erfüllt war.

Ich wurde ebenfalls ein begeisterter Naturforscher und war anfangs besonders von Käfern und Schmetterlingen entzückt. Später erkannte ich die Wunder größerer Tiere; ich grübelte darüber nach, wie vielfältig das Leben ist und wie jeder Teil so eng mit vielen anderen Teilen in Wechselwirkung steht. Im Jahr 1969 gründete ich die Wildlife Clubs of Kenia, die es sich zum Ziel setzten, Kinder über das Leben in ihrem Land aufzuklären.

Ich liebe Kenia, mein Geburtsland. Es ist ein Land gewaltiger geographischer Gegensätze, von den feuchtheißen Lebensräumen auf Meereshöhe bis zu den schneebedeckten Gipfeln des Mount Kenya (der nach dem Kilimandscharo Afrikas zweithöchster Berg ist), und von trockenen Wüsten bis zu feuchten Berghängen. In diesen unterschiedlichen Lebensräumen gedeiht eine Tier- und Pflanzenwelt, deren Vielfalt der des Landes in nichts nachsteht und die zu den üppigsten der Welt gehört. Der Begriff »Gleichgewicht der Natur« war mir in meinen jungen Jahren nicht geläufig, aber er fängt in vereinfachten Worten ein, was ich in der Wildnis empfand.


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Ich folgte meinem Drang, mich an unwegsamen Orten aufzuhalten, soweit es nur möglich war, und so ist es bis heute geblieben. Die Natur war und ist ein Mittel zur Reinigung und Belebung dessen, was ich in Ermangelung eines besseren Wortes meine Seele nenne. Natürlich hat die ungezähmte Natur auch ihre Gefahren. Meine Brüder und ich litten häufig an Malariaanfällen und gelegentlich auch an Bilharziose, einer Parasiteninfektion, die man sich beim Baden zuzieht, wenn im Wasser Schnecken mit dem Erreger Schistosoma mansoni leben. 

Daneben gab es Schlangenbisse; sie sahen meist sehr dramatisch aus, ohne wirklich lebensgefährlich zu sein, aber das war nicht immer so. Und bei einer beschämenden Gelegenheit mußte ich mich in einen Käfig einschließen, in dem ich einen Leoparden fangen wollte, denn das Tier schien mir mehr Aufmerksamkeit widmen zu wollen, als ich für gesund hielt. Trotz der damit verbundenen Demütigung hielt ich es für klüger, vorübergehend meine eigene Beute als für immer das Opfer der großen Katze zu sein.

 

Als junger Bursche träumte ich davon, Wildhüter zu werden, aber dann gab ich mich damit zufrieden, Tiere für die Filmemacher Armond und Michaela Denis zu fangen, die in der Nähe meines Elternhauses in einem Vorort von Nairobi lebten. Die Filme des Ehepaars Denis vermittelten vielen britischen Fernseh­zuschauern die ersten Eindrücke von der afrikanischen Wildnis. In Wirklichkeit inszenierten die beiden oft Nahaufnahmen von den Tieren, die ich für sie gefangen hatte. Das galt damals als legitime Methode, denn in freier Wildbahn war es nur eingeschränkt möglich, an gefährliche Tiere heranzukommen.

Beim Einfangen der Tiere lernte ich eine Menge über ihr Verhalten. Für die abgelieferten Exemplare erhielt ich auch Geld, so daß meine Ausbildung als Naturforscher mit dem Aufbau eines für einen Dreizehn­jährigen recht üppigen Bankkontos verbunden war. Das verschaffte mir eine erste Unabhängigkeit, und darüber war ich froh.


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Später wirkten Natur und Kommerz in meiner Ausbildung erneut zusammen, diesmal in Verbindung mit einer schweren Dürre in den Jahren 1960 und 1961. Zehntausende von Tieren gingen zugrunde; die Ebenen waren mit Kadavern übersät — es waren so viele, daß die Aasfresser sie nicht beseitigen konnten. Viele tote Tiere blieben unversehrt, ohne Spuren von Zähnen oder Schnäbeln. Nachdem ich erklärt hatte, ich wolle finanziell von meinen Eltern unabhängig werden (ich war damals siebzehn), erkannte ich in dem Reichtum der unbarmherzigen Natur meine Gelegenheit. Mit geliehenem Geld kaufte ich einen alten Landrover, und dann fuhr ich los und sammelte tote Tiere ein, große und kleine. Ich kochte sie in einem alten Ölfaß, um die Weichteile zu entfernen, reinigte die Skelette, nahm sie auseinander und schickte sie an Museen und Universitäten auf der ganzen Welt. Mit dem Erlös war ich zufrieden.

Bei meiner Arbeit machte ich mich eingehend mit vergleichender Anatomie vertraut, denn ich mußte jeden Knochen etikettieren und nummerieren, so daß man die Skelette an ihrem Bestimmungsort wieder zusammen­setzen konnte. Eine wirksamere Methode, um Anatomie zu lernen, kann ich mir nicht vorstellen. Als Paläoanthropologe muß man ein Tier häufig an ein paar Knochenbruchstücken erkennen. Ohne daß ich es damals schon wußte, verschaffte mir also meine kurze Jugendlaufbahn als Knochenhändler eine solide Grundlage für meine spätere, lange Karriere als Paläoanthropologe.

Bevor ich mich aber eingehend mit der Erforschung der Herkunft des Menschen befaßte, gründete ich meine eigene Safariagentur. Sie bot eine hervorragende Gelegenheit, mich an abgelegenen Stellen in der Wildnis aufzuhalten und mich auch noch dafür bezahlen zu lassen. Ich fand es spannend, Besucher aus Europa und Amerika mit der gewaltigen Vielfalt des Lebens in meiner Heimat bekannt zu machen, deren Spektrum von den kleinsten Einzelheiten einer Orchideenblüte bis zu den großen Tierwanderungen von der Serengeti in Tansania zur Masai Mara in Kenia reichte. 

Ich fühlte mich in meinem Element und war unglaublich glücklich. Aber ich war auch unruhig: Ich wußte, daß ich eigentlich etwas anderes wollte, aber was, das war mir noch nicht klar. Schließlich wurde ich trotz aller lautstarken Beteuerungen, niemals beruflich in die Fußstapfen meiner Eltern treten zu wollen (oder genauer gesagt, in ihrem Schatten zu stehen), zum Paläoanthropologen, und 1968 leitete ich meine erste größere Expedition an das Ostufer des Turkanasees. 


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Ich habe diese Entscheidung nie bereut, denn ich hatte das Glück, daß ich mit einigen hervorragenden Wissenschaftlern zusammenarbeiten konnte, und außerdem fand ich mehrere wichtige Überreste aus unserer Entwicklungsgeschichte. Viele Menschen verspüren einen tiefen, fast urtümlichen Wunsch, die Anfänge unserer Spezies kennenzulernen, und die Suche nach solchen Überresten in alten Sedimenten bringt uns mit der Vergangenheit der Menschen in unmittelbaren Kontakt. Wir, die wir in dieser Richtung arbeiten, sind wirklich bevorzugt.

Zwanzig Jahre lang kombinierte ich meine Tätigkeit als Direktor der kenianischen Nationalmuseen — es sind zehn Museen, die über das ganze Land verstreut liegen — mit möglichst vielen Freilandaufenthalten, bei denen ich Fossilien suchte und ausgrub. Die Ufer auf der Ost- und Westseite des Turkanasees erwiesen sich als wunderbar reichhaltige Quelle alter menschlicher Fossilien, an denen unsere Evolution von der Zeit vor etwa vier Millionen Jahren bis in relativ junge Vergangenheit deutlich wird. 

Wir haben heute über unsere Evolution viel vollständigere Kenntnisse als vor zwanzig Jahren, und ich bin stolz darauf, daß ich zu diesem umfassenderen Wissen mit einigen aufsehenerregenden Funden von beiden Seiten des Sees beigetragen habe. Wenn man über alte Sedimente geht und dabei Fossilien sucht und findet, sammelt man nicht einfach nur Knochen auf, auch wenn das oft wichtig ist. Und man rekonstruiert auch nicht nur die Entwicklungsgeschichte einer einzigen Art namens Homo sapiens. Man blickt vielmehr durch ein paläontologisches Fenster in vergangene Welten und wird Zeuge des Schicksals, das sie im Laufe der Zeit erlitten haben.

Wenn sich die Eindrücke, die man beim Blick durch dieses Fenster gewinnt, überhaupt mit einem einzigen Wort zusammenfassen lassen, dann lautet dieses Wort Veränderung. Der Strom des Lebens ist in ständigem, dynamischem Wandel begriffen. Die Triebkraft ist manchmal eine Klimaverschiebung, die trockenen Gebieten mehr Feuchtigkeit bringt, so daß dort nun Lebewesen mit anderen Eigenschaften leben können. 


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Manchmal gibt es auch in der Evolution eine Welle der Umwälzungen, so daß zuvor lebende Geschöpfe nicht mehr da sind und andere an ihre Stelle treten. Schübe des Aussterbens und der Neuentstehung von Arten sind eine regelmäßig wiederkehrende Kraft, die den Strom des Lebens verändert und die Schwerpunkte immer wieder verschiebt. Durch das paläontologische Fenster betrachtet, gleicht das Leben dem Bild in einem Kaleidoskop, bei dem Änderungen nicht nur natürlich, sondern unvermeidlich sind. Man sieht den Tod als Teil des Lebens, das Aussterben als Teil der Entwicklung.

 

Als ich auf Präsident Mois Geheiß Direktor der Naturschutzbehörde wurde, stand ich sofort einigen sehr praktischen Fragen gegenüber, nicht zuletzt dem bereits erwähnten dringenden Problem, dem habgierigen Treiben der Elefantenwilderer ein Ende zu machen. Und es gab die Aufgabe, zwei widersprüchliche Notwendigkeiten zu vereinbaren: die Bedürfnisse einer wachsenden Bevölkerung, die immer mehr Land brauchte, und den Schutz der Wildtiere, die ihrer natürlichen Lebensräume beraubt wurden. 

Aber ich konnte auch verstehen, was die Vielfalt des Lebens bedeutet und welchen Platz der Homo sapiens darin einnimmt; dazu machte ich mir die Perspektive der ständigen Veränderung zu eigen, die ein unausweichlicher Gesichtspunkt der Erdgeschichte ist. Ich behaupte nicht, daß diese Sichtweise viel hilft, wenn man beispielsweise vor der Frage steht, was man gegen die von streunenden Elefanten angerichteten Schäden in den Bauerndörfern tun soll. 

Nützlich ist sie aber zum Beispiel bei der Überlegung, wie man sich gegenüber den Wechselbeziehungen verhält, die zwischen Elefanten und den von ihnen scheinbar zerstörten Lebensräumen bestehen. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß man oftmals am besten der Natur ihren Lauf läßt; wir werden in solchen Situationen Zeugen einer Veränderung, die ein Teil der Natur ist, und es wäre unnütz — oder sogar schädlich —, wenn wir versuchen würden, sie zu verhindern. 

Ich werde auf das Thema später in diesem Buch zurückkommen. Am wichtigsten ist aber noch etwas anderes: Die Erkenntnis, daß die Geschichte des Lebens immer von Wandel geprägt war, bietet uns einen Anhaltspunkt, um unsere Rechte und Pflichten als Spezies sowie die Rechte aller anderen Arten, mit denen wir die Erde teilen, richtig einzuschätzen.


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Als ich darüber nachdachte, was für ein Buch ich schreiben wollte, wurde mir klar, daß meine Erfahrungen als Paläoanthropologe und Naturschützer mir einen einzigartigen Blick auf unsere derzeitige mißliche Lage eröffnen. 

Dies ist nicht das erste Buch, in dem behauptet wird, daß der zur dominierenden Spezies gewordene Homo sapiens wahrscheinlich im Begriff steht, eine biologische Katastrophe von gewaltigen Ausmaßen zu verursachen, weil er die Vielfalt des Lebens mit beunruhigender Geschwindigkeit dezimiert. (So führen zum Beispiel allein das Abholzen der Regenwälder und die Vernichtung von Wildnis durch wirtschaftliche Entwicklung zum Aussterben von bis zu 100.000 Arten im Jahr.) 

Aber es beschäftigt sich mit dieser Frage zum erstenmal unter dem Gesichtspunkt, daß der Homo sapiens nur eine Art in einem Strom des Lebens ist, der eine lange Vergangenheit und eine lange Zukunft hat. Um uns selbst als Spezies und unsere Stellung im größeren Zusammenhang zu verstehen, müssen wir räumlichen und zeitlichen Abstand von unseren eigenen Erfahrungen gewinnen. Das fällt nicht leicht, aber es ist notwendig, wenn wir die größere Wirklichkeit erkennen wollen. Es ist eine Sichtweise, die uns demütig macht, insbesondere angesichts der gewaltigen Macht, mit der wir unseren Planeten heute tiefgreifend verändern.

Durch dieses Buch ziehen sich mehrere Themen, aber entscheidend ist die Vorstellung vom Wandel. Aus ihr erkennen wir, daß die Menschen nur ein kurzer Augenblick im ununterbrochenen Ablauf des Lebens sind und nicht sein Endpunkt. Aber aus der Veränderung erfährt man nicht nur etwas über die Stellung des Menschen in der Welt. Am wichtigsten sind die Gesetzmäßigkeiten der Veränderung, die wir im Strom des Lebens finden; sie sind die äußeren Anzeichen jener grundlegenden Vorgänge, die den Ablauf antreiben. Was sind das für Gesetzmäßigkeiten? Ich meine damit die Bilder, die auftauchen, wenn wir die Gesamtheit der Fossilfunde eingehend betrachten. Und ich meine die Bilder, die wir sehen, wenn wir die ökologischen Lebens­gemein­schaften in ihrer Gesamtheit untersuchen. 


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Natürlich setzen sich alle diese Bilder aus Einzelelementen zusammen — solche Elemente sind zum Beispiel die fossilen Überreste einzelner Arten in den geologischen Fundstellen oder die einzelnen lebenden Arten in den Ökosystemen. Aber das wahre Wesen der Welt, in der wir leben, erkennen wir aus den Beziehungen zwischen den Arten in den gegenwärtigen und früheren Lebens­gemeinschaften.

Die Bemühungen, solche Bilder zu sehen, gleichen dem Versuch, in dem scheinbar bedeutungslosen Fleckenmuster eines Magic-Eye-Bildes räumliche Formen zu erkennen. Man kann ein solches Bild lange ansehen, ohne etwas anderes als Flecken zu erkennen. Aber plötzlich, wenn der Geist dazu bereit ist und wenn man nicht mehr nur auf das oberflächliche Muster starrt, blickt man dahinter, und nun erkennt man eine tiefere visuelle Realität. Die Wissenschaftsgebiete der Evolutionsbiologie und Ökologie stehen heute kurz davor, diese tiefere Realität im Strom des Lebens zu verstehen. Die Bilder sind noch unvollständig, aber immerhin schon so deutlich, daß wir in der Welt zum erstenmal eine neue Wirklichkeit wahrnehmen können, und das ist nichts Geringeres als eine geistige Revolution. Unsere Welt ist völlig anders, als es noch vor ein paar Jahren den Anschein hatte.

Wir können heute die Gesetzmäßigkeiten des Massenaussterbens in den Fossilfunden erkennen und stellen dabei fest, daß diese Ereignisse keine einfachen Unterbrechungen im Strom des Lebens waren, sondern eine wichtige kreative Kraft. Das ist etwas Neues. Wir können die grundlegenden Evolutionsvorgänge betrachten und stellen dabei fest, daß das gesamte Leben einschließlich des Homo sapiens so etwas wie eine große Lotterie ist. Das ist ebenfalls etwas Neues. Und wir können uns die Gesetzmäßigkeiten ökologischer Gemeinschaften ansehen und erkennen, wie sie sich zusammenfinden und wie daraus eine unerwartete Dynamik erwächst. Auch das ist etwas Neues. Gemeinsam bahnen solche veränderten biologischen und ökologischen Erkenntnisse einen Weg durch die nur scheinbar einfachen, in Wirklichkeit aber unvorstellbar komplizierten Phänomene, welche die Welt des Lebendigen um uns herum ausmachen.


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Einer verbreiteten falschen Vorstellung zufolge findet man in den Naturwissenschaften die größten intellektuellen Herausforderungen in der Physik: Sie gilt als »harte« Wissenschaft, Biologie dagegen ist etwas »Weiches«. Jedenfalls wird das oft behauptet. In Wirklichkeit sind die Welt des Lebendigen und ihre in den Fossilien überlieferte Vergangenheit unglaublich komplex, und einem umfassenden Verständnis entziehen sie sich bis heute. Ich habe zuvor vom »Gleichgewicht der Natur« gesprochen; in dieser häufig benutzten Formulierung scheinen sich die Einfachheit und Harmonie des Lebendigen widerzuspiegeln. Sie ist aber, wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, falsch. Natur ist nicht einfach, und die angebliche Harmonie ist eine grobe Irreführung.

Der Homo sapiens teilt die Erde mit Millionen anderen Geschöpfen, und alle zusammen bilden die ehrfurcht­gebietende Vielfalt des Lebens. Auf den folgenden Seiten möchte ich mit Hilfe neuer Erkenntnisse aus Evolutionsbiologie und Ökologie zu einer umfassenderen Wertschätzung für diese Vielfalt und ihr zukünftiges Schicksal gelangen. Wir müssen die Ursachen und das Ausmaß der Vielfalt verstehen. Wie kommt es zum Beispiel, daß heute etwa 50 Millionen Arten leben und nicht eine Million oder 500 Millionen? 

Wir müssen die Stellung der Menschheit in dieser Vielfalt verstehen. Sind wir eine unvermeidliche Folge des Lebensstromes oder sein krönender Abschluß? Wir müssen die Auswirkungen der Menschen auf die Vielfalt verstehen. Ist unsere Spezies in der Lage, Millionen von Arten zu vernichten? Und wenn ja, wie kommt es dazu? 

Und wir müssen die Zukunft der Vielfalt verstehen. Was können wir aus den Gesetzmäßig­keiten der Vergangenheit über die Geschehnisse der Zukunft ableiten?

Wenn ich Vorträge über die Wissenschaft vom Ursprung des Menschen halte, lautet die am häufigsten gestellte Frage: »Was wird als nächstes geschehen?« Mir ist klar, welche Sorgen hinter dieser Frage stehen. Was die Zukunft der Menschheit angeht, herrscht eine tiefe Verunsicherung, und die Fragenden suchen in der Regel eine Art Beruhigung. 

Die Antwort, die ich in den folgenden Kapiteln entwickeln werde, wird oft nicht gern gehört, denn sie bietet diese Beruhigung nicht.

Wie bei mehreren früheren Büchern, so habe ich auch diesmal mit Roger Lewin zusammengearbeitet. Aus unseren unterschiedlichen Standpunkten haben wir eine Reise durch die Geschichte des Lebens zusammengestellt, und dabei suchen wir nach Gesetzmäßigkeiten, die ihr Wesen und ihre Zukunft offenbaren: Ich habe meine Erfahrungen als Paläoanthropologe und Naturschützer eingebracht, und Roger nutzte seine Kenntnisse der Evolutionsbiologie und Ökologie. 

Es war eine gemeinsame Reise, aber wie bei allen unseren gemeinsamen Projekten ist der Text aus meiner Sicht geschrieben. In der Entscheidung für eine solche Vorgehensweise spiegelt sich einerseits meine Rolle als Vertreter des Naturschutzes auf der internationalen Bühne wider, zum Teil ist sie aber auch ein bequemes literarisches Hilfsmittel. Außerdem symbolisiert die Tatsache, daß wir mit einer Stimme sprechen, unsere gemeinsame Vision von der Natur und unsere gemeinsame Sorge um die Arten, die mit uns leben. 

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