Teil 1 Zeit und Wandel
Eingeschlossen in die Welt der Gegenwart, stehen wir vor der Herausforderung, den Fluß der Evolutionsvorgänge zu beurteilen, die unsere Welt, unseren Lebensraum geformt haben. Homo sapiens ist nur eine Spezies unter vielen, das Produkt eines verwickelten, unberechenbaren Wechselspiels zwischen den kreativen Vorgängen der Evolution und dem manchmal launischen Wirken des Aussterbens. In dem nun folgenden Abschnitt werden wir einen Blick auf einige grundlegende Merkmale dieser Kreativität — und auf ihre ungelösten Rätsel — werfen und sehen, von welch überragender Bedeutung gelegentliche Krisen für die Geschichte des Lebens sind.
2 Das große Geheimnis des Lebens
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Am Westufer des Turkanasees, nicht weit von der Stelle, wo wir 1984 das Skelett eines vor 1,6 Millionen Jahren verstorbenen Jungen ausgegraben haben, bietet sich ein furchterregender Anblick. Wie versteinerte Flußpferde, die sich in einem See aus trockenen Sedimenten suhlen, verraten Hunderte von regelmäßig angeordneten fossilen Stromatolithen, daß hier in alter Zeit eine flache Lagune war.
Zum erstenmal sah ich diese seltsamen »Geschöpfe« während einer Arbeitspause an einem der ersten Tage, als wir das Skelett ausgruben, das wir bald darauf als Jungen von Turkana bezeichneten. Während unsere Kollegen weiterhin in der tropischen Sonnenhitze arbeiteten, fuhren Frank Brown, Alan Walker und ich etwa eineinhalb Kilometer weit vom See weg. Alan, ein Anthropologe an der Johns Hopkins University, war schon seit Jahren mein enger Freund und Mitarbeiter; wir haben viele uralte menschliche Überreste zusammen ausgegraben.
Frank, Geologe der University of Utah, hat zehn Jahre damit zugebracht, die erdgeschichtliche Vergangenheit des Sees aufzurollen und zu klären, wie die Gegend durch viele verschiedene Kräfte geformt wurde. Kurz zuvor hatte er die Stromatolithen gefunden, und jetzt wollte er sie uns zeigen; das war der Anlaß für unsere kleine Expedition vom Ausgrabungslager aus. Schließlich erreichten wir ein Flußbett; es lag in nördlicher Richtung neben dem Fluß Nariokotome, wo wir das Skelett des Jungen gefunden hatte. Jetzt im August waren beide Flußbetten staubtrocken.
Mittlerweile waren wir fast fünf Kilometer vom Seeufer entfernt, und ich konnte die abgerundeten, erstaunlich regelmäßigen Formen der Stromatolithen erkennen, die sich in langen Reihen bis in große Entfernung erstreckten. Sie liegen auf einer praktisch kahlen Ebene am Fuße einer hohen, trockenen Bergkette, die mit Lavabrocken übersät ist.
Aber wie Frank uns erklärte, befanden sie sich vor einer Million Jahren in seichtem, stillem Wasser. Der See war damals offenbar viel größer. Lebende Stromatolithen sind Kolonien einzelliger Algen und anderer Mikroorganismen, die ein kompliziertes kleines ökologisches System bilden. Eine solche Kolonie entsteht aus dünnen Schichten der Kleinstlebewesen, die sich anfangs vielleicht um ein Sandkorn sammeln. Sie wachsen langsam weiter, wenn sich auf der äußeren, lebenden Schicht feines Sediment ansammelt, so daß die jetzt zugedeckten Organismen sich wieder zur Oberfläche durchkämpfen müssen und dort erneut eine dünne, flache, komplizierte Mikroben-Lebensgemeinschaft bilden. In Stromatolithen spielt sich das Leben immer am Rand ab. Das Ergebnis sind Gebilde mit der Form einer abgeflachten Kugel, die mit einem Durchmesser von einem Meter manchmal die Größe eines kleinen Tisches erreichen können.
Einige der fossilen Stromatolithen am Turkanasee waren in zwei Teile zerbrochen, so daß man Schicht für Schicht die Spuren der aufeinanderfolgenden Kolonien erkennen konnte, Spuren von Leben im mikroskopischen Maßstab. Daß sie in diesem Gelände vorhanden waren, gab uns einen Hinweis auf die Bedingungen, die vor einer Million Jahren im Becken des Turkanasees herrschten: Wo heute trockene Wüste war, stand einstmals das Wasser. Außerdem vermittelten sie uns einen Blick auf das Leben, der viel weiter in die Vergangenheit reichte, so weit, wie man überhaupt sehen und noch Leben erkennen kann. Heute sind lebende Stromatolithen selten — einer der wenigen Orte, wo sie noch gedeihen, ist die Sharky Bay in Westaustralien mit ihrem salzigen, lebensfeindlichen Wasser —, aber in fossiler Form findet man sie häufig, und sie sind eine der ältesten Ausdrucksformen des Lebens auf der Erde.
In der Erdgeschichte ist es eine der erstaunlichsten Tatsachen, daß das Leben so früh entstand. Unser Planet ballte sich vor etwa 4,6 Milliarden Jahren aus den Trümmern des entstehenden Sonnensystems zusammen, ein glühendes Konglomerat aus geschmolzenem, radioaktivem Gestein, höchst unwirtlich für jede Form von Leben.
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Langsam ließ die Hitze ihrer ungestümen Entstehung nach, und vor knapp vier Milliarden Jahren war Leben erstmals theoretisch möglich, das heißt, die empfindlichen organischen Moleküle wurden nicht sofort nach ihrer Entstehung wieder auseinandergerissen, und eine wasserhaltige Umwelt wurde nicht sofort als Dampf hinweggefegt. Beides war notwendig, damit das Leben auftauchen konnte. Der theoretischen Möglichkeit folgte sehr schnell die Realität: Die ersten Lebensformen erschienen auf der Bildfläche, einfache, einzellige Organismen, deren Abbild man im ältesten, vor 3,75 Milliarden Jahren entstandenen Kontinentalgestein gefunden hat. Diese einfachsten Lebewesen, Zellen ohne Zellkern — oder Prokaryonten, wie man sie auch nennt — fingen die Sonnenenergie ein und nutzten die chemischen Bedingungen ihrer Umwelt, um sich zu vermehren und immer vielfältigere Typen hervorzubringen. Gemeinsam bildeten sie die aufeinandergeschichteten Matten der Mikroorganismen, die im Laufe der Zeit die charakteristische Kolonieform der Stromatolithen entstehen ließen.
Nachdem das Leben so frühzeitig begonnen hatte, hätte man eigentlich damit gerechnet, daß es sofort einen Weg der allmählichen, stetigen Weiterentwicklung zu immer komplexeren Formen einschlägt: Zunächst komplizierter gebaute Zellen, die Eukaryonten, deren genetisches Material in einem Zellkern verpackt ist; dann Mitochondrien und Chloroplasten, spezialisierte Organellen, die in den Zellen besondere Aufgaben erfüllen; anschließend die Vielzeller, einfach gebaute zuerst, dann aber auch von den Wirbellosen zu den Wirbeltieren und von Amphibien und Reptilien zu den Säugetieren — und schließlich zu uns, zum Homo sapiens.
Von unserem heutigen Standpunkt aus können wir sehen, daß die gerade aufgezählten Stadien des Lebens tatsächlich eingetreten sind, aber das geschah auf eine Art und Weise, die man nur als zufällig und unberechenbar bezeichnen kann. Wenn wir über das Leben auf der Erde aus seiner Geschichte etwas lernen können, dann dieses: Es hat kaum etwas Allmähliches und Stetiges. (Das gilt, wie ein Fraktal-muster, für alle Ebenen von der globalen bis zur lokalen.)
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Nachdem das Leben zum erstenmal Fuß gefaßt hatte, blieb die Prokaryontenzelle verwirrenderweise volle zwei Milliarden Jahre lang die komplizierteste Lebensform, und ihre komplexeste Organisationsform war das mikroökologische System der Stromatolithen. Das Leben, so schien es, hatte es durchaus nicht eilig, zu irgend etwas anderem zu gelangen. Vor 1,8 Milliarden Jahren tauchten schließlich die ersten Eukaryontenzellen auf, und nun, so könnte man meinen, waren die Voraussetzungen für einen Wettlauf zum nächsten Stadium gegeben, dem der Vielzeller.
Aber nicht doch! Eine weitere Milliarde Jahre oder mehr mußten vergehen, bis sich die ersten derartigen Organismen entwickelten. Und als es sie schließlich gab, lebten sie bestenfalls im verborgenen; keineswegs waren sie die auffälligen Vorboten der komplexen Strukturen und Wechselwirkungen, die wir heute mit vielzelligen Lebensformen verbinden. Die ersten komplexen Vielzeller — damit meine ich recht bescheidene, allerdings bizarr geformte wirbellose Meeresbewohner — mußten noch bis vor etwa 530 Millionen Jahren auf ihre Entstehung warten, als die Erdgeschichte insgesamt schon zu 85 Prozent vorüber war. Als es aber schließlich soweit war, geschah es so auffällig, daß die Paläontologen dieses Ereignis heute als »kambrische Explosion« bezeichnen.
In einer Phase hektischer entwicklungsgeschichtlicher Neuerungen, die nur wenige Millionen Jahre dauerte, entstanden alle wichtigen Körperbaupläne und damit die Stämme der Organismen, die heute das Leben ausmachen. Unter ihnen war eine winzige Art, ähnlich dem heutigen wurmähnlichen Meeresbewohner Amphioxus, die mit dem wissenschaftlichen Namen Pikaia gesegnet ist; sie begründete vermutlich den Stamm der Chordatiere, zu dem alle späteren Wirbeltiere einschließlich des Homo sapiens gehören. Aus heutiger Sicht war es der bescheidene Anfang einer gewaltigen Entwicklung.
Als »beispiellos und unübertroffen« bezeichnet James Valentine, ein Paläontologe der University of California in Berkeley, die kambrische Explosion. Es ist eine zutreffende und sogar noch untertriebene Beschreibung. Und wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, steckt hinter der kambrischen Explosion mehr als nur das Explodieren.
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In der kambrischen Explosion vor 530 Millionen Jahren entwickelte sich sehr rasch eine große biologische Vielfalt. Das Bild zeigt eine Rekonstruktion des Lebens aus dem Burgess-Schiefer. Dazu gehören einige vertraute Formen (beispielsweise Schwämme und Armfüßer), die es auch heute noch gibt. Viele andere aber, so zum Beispiel der riesige Anomalocaris unten rechts, hinterließen keine Nachkommen, so daß diese Stämme heute nicht mehr existieren. (Aus »The Evolution on Earth« von Stephen Jay Gould. © 1994 by Scientific American, Inc.) |
Nachdem — allerdings sehr spät — das vielzellige Leben aufgetaucht war, hätte man wiederum erwarten können, daß nun ein stetiges Fortschreiten durch die urzeitlichen Welten einsetzte, die wir aus den Fossilfunden kennen, und daß diese Entwicklung schließlich unausweichlich zu der Natur führte, die uns heute umgibt. Aber auch diese Erwartung erfüllt sich nicht. Seit der kambrischen Explosion ist das Leben von einem starken Auf und Ab geprägt: Arten entwickelten sich wunderschön auseinander, um kurz darauf in insgesamt fünf großen Phasen des Massenaussterbens wieder zu verschwinden.
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Das Lanzettfischchen Ampilioxus, ein heute lebender Meeresbewohner, ähnelt zumindest im anatomischen Organisationsgrad stark der Gattung Pikaia. |
Eine Formulierung, mit der man in Kurzform den Krieg beschrieben hat, trifft — zwar nicht für die Ausprägungsform, aber für den zeitlichen Ablauf — auch für das Leben auf der Erde zu: Lange Phasen der Langeweile wechseln mit Augenblicken des Entsetzens ab.
Die darwinistische Revolution, die vor über 100 Jahren eine naturwissenschaftliche Sichtweise an die Stelle der überlieferten Erklärung des Lebens als göttlicher Schöpfung setzte, zwang der abendländischen Geisteswelt eine ganz bestimmte Weltanschauung auf. Danach gedeihen Arten, weil sie ihren Konkurrenten in irgendeiner Form überlegen sind; sie siegen im »Kampf ums Dasein«, um Darwins Ausdruck zu gebrauchen. Entsprechend sterben Arten auch aus, weil sie in der Konkurrenz unterlegen sind; sie sind die Versager im Lebenskampf.
Das ist eine stark vereinfachte Lesart für Darwins wichtigste Erkenntnis, die Theorie von der natürlichen Selektion, aber sie paßte sehr bequem zur abendländischen Moral vom Erfolg durch Leistung. Diese Moral findet ihren Ausdruck — mehr oder weniger offen ausgesprochen — in biologischen und vor allem in anthropologischen Lehrbüchern, insbesondere in solchen aus der Zeit vor ein paar Jahrzehnten.
Die biologische Vielfalt — das heißt die Zahl der Arten in ihren verschiedenen Lebensräumen — war in der Erdgeschichte kaum einmal so groß wie heute. Wir Menschen sind eine Art unter vielen Millionen — es ist die üppigste Ausstattung mit Leben, die unser Planet jemals beherbergt hat. Unter dem gerade beschriebenen Gesichtspunkt des »Evolutionserfolges durch Überlegenheit« könnten wir uns im Recht fühlen, wenn wir uns auf die Schulter klopfen und den Homo sapiens als das Endergebnis eines gemeinsamen Erfolges betrachten, bei dem Arten sich immer besser an ihre Umwelt anpaßten.
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Eine der wichtigsten neuen Erkenntnisse der Evolutionsbiologie in den letzten Jahren lautet jedoch: Nicht Überlegenheit, sondern Glück bestimmt entscheidend darüber, welche Arten überleben; das gilt insbesondere für die Phasen des Massenaussterbens. Wir müssen uns also mit dem Gedanken anfreunden, daß die Menschen sich in Gesellschaft der glücklichen Überlebenden katastrophaler erdgeschichtlicher Umwälzungen befinden und nicht der heutige Ausdruck einer früheren Überlegenheit sind.
Die Biologen interessieren sich für die Gesetzmäßigkeiten des Lebens auf der Erde und die dahinterstehenden Triebkräfte. Sie fragen: Wie entstehen neue Arten, und unter welchen Umständen verschwinden sie? Mit anderen Worten: Was ist die Ursache solcher Gesetzmäßigkeiten? Das dynamische Wechselspiel zwischen Entstehung und Aussterben von Arten bestimmt zu jedem Zeitpunkt über die Vielfalt des Lebens auf der Erde; das jeweils vorhandene Formenspektrum ist das Ergebnis der Vergangenheit und schafft die Voraussetzungen für die Zukunft. In diesem Abschnitt mit dem Titel »Zeit und Wandel« werden wir uns mit der biologischen Ursache der derzeitigen üppigen Vielfalt befassen, nämlich mit der kambrischen Explosion; ich werde beschreiben, welches Spießrutenlaufen des Massenaussterbens das Leben auf dem Weg bis zur Gegenwart durchgemacht hat; und ich werde mich auf die Stellung unserer eigenen Spezies, des Homo sapiens, inmitten der heutigen Formenfülle des Lebens konzentrieren.
Charles Darwin war wegen der kambrischen Explosion verwirrt und beunruhigt: Das plötzliche Auftauchen vieler Artengruppen stellte in seinen Augen die entstehende Theorie von der Evolution durch natürliche Selektion ernsthaft in Frage. Das Wesentliche an der natürlichen Selektion, wie Darwin sie sich vorstellte, war die allmähliche Veränderung, die Ansammlung winziger Abwandlungen in Anatomie oder Verhalten als Reaktion auf die jeweiligen Umweltbedingungen.
Zeit und Wandel 26
In sehr langen Zeiträumen konnte das zu erheblichen entwicklungsgeschichtlichen Verschiebungen und manchmal auch zu neuen Arten führen, aber das mußte nach Darwins Überzeugung immer langsam vonstatten gehen. Wie sollte man demnach die offenbar explosive Entwicklung des Lebens im ältesten Teil der belegten Vergangenheit erklären?
Darwin tröstete sich mit der Unvollständigkeit der Fossilfunde — diesem Thema widmete er in der Entstehung der Arten ein ganzes Kapitel. Die kambrische Explosion, so seine Argumentation, sehe nur deshalb so dramatisch aus, weil man die Vorfahren dieser Lebewesen noch nicht entdeckt habe. Zu Darwins Zeit kannte man noch keine fossilen Überreste des Lebens, die älter als das Kambrium waren, eine Tatsache, die er als »unerklärlich« bezeichnete.1) Er vermutete, die Organismen des Präkambriums seien nicht als Fossilien erhalten geblieben oder später durch geologische Vorgänge zerstört worden. Er spekulierte sogar, die fraglichen Fossilien könnten sich auf Kontinenten gesammelt haben, die heute am Meeresboden liegen und deshalb den Paläontologen nicht zugänglich sind. (Die heutige geologische Theorie schließt zwar aus, daß Kontinente auf diese Weise auftauchen und verschwinden, aber vor hundert Jahren hielt man solche Vorgänge durchaus für möglich.)
Jeder Paläontologe kennt das, worüber Darwin klagte: Die Fossilfunde sind oft enttäuschend lückenhaft, und zwar aus den verschiedensten geologischen Ursachen. Diejenigen unter uns, die sich für die Frühgeschichte des Menschen interessieren, würden in Ostafrika liebend gern gute geologische Formationen aus der Zeit vor vier bis acht Millionen Jahren finden, denn wir wissen, daß sich in dieser Phase interessante Entwicklungen abgespielt haben. Aber leider sind sie nach wie vor aufreizend schwer zu fassen. Wenn Darwin die Unvollständigkeit der Belege anführte, war das also keine hilflose Ausflucht, sondern die Anerkennung einer unglücklichen geologischen Realität. Eines Tages, so meinte er, werde man Fundstücke ausgraben, an denen das lange Vorspiel der scheinbar explosiven Veränderungen im Kambrium deutlich würde. Dann werde man den allmählich fortschreitenden Weg des Wandels erkennen, und die (in Darwins Augen) unangenehme Plötzlichkeit, mit der komplexe Lebensformen auftauchten, wäre beseitigt.
Bis Belege für das Leben des Präkambriums ans Licht kamen, sollte noch fast ein Jahrhundert vergehen.
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Abschnitte der Erdgeschichte / Die geologische Zeittafel
Ära
Periode
Epoche
Ungefährer Abstand
zur Gegenwart
(Millionen Jahre)Käno-Zoikum
Quartär
Holozän (Jetztzeit) Pleistozän
65
Tertiär
Pliozän
Miozän
Oligozän
Eozän
PaläozänMeso-Zoikum
Kreide
Jura
Trias
225
Paläo-Zoikum
Perm
Karbon (Ober- und Unterkarbon)
Devon
Silur
Ordovizium
Kambrium
570
Präkambrium
vor 570
Zeit und Wandel 28
Im Jahr 1947 machte der australische Geologe R.C. Sprigg eine historische Entdeckung: In den Ediacara-Hügeln der Flinders-Kette, eines Gebirges in Südaustralien, fand er in sehr alten Sedimenten unbekannte Lebewesen, die Quallen ähnelten. Ihre besondere Bedeutung erhielt diese Entdeckung durch das Alter der Ablagerungen: Sie gingen auf die Zeit vor 670 Millionen Jahren zurück, mehr als 100 Millionen Jahre vor der Explosion des Kambriums. Auf weiteren Expeditionen wuchs die Liste der Lebewesen an; unter ihnen waren Geschöpfe, die anderen Quallen, Gliederwürmern, Gliederfüßern und Korallen ähnelten, Tieren also, die uns heute vertraut sind. Manche sahen aber auch ganz anders aus als alle bekannten lebenden oder ausgestorbenen Arten.
Diese Lebewesen, die man zusammenfassend als Ediacara-Fauna bezeichnet, hatten ausnahmslos einen weichen Körper ohne hartes Gehäuse. Das scheinbare Fehlen von Bewohnern der präkambrischen Welt hatte man unter anderem damit erklärt, daß sie nur aus weichem Gewebe bestanden und deshalb höchstwahrscheinlich nicht versteinert waren. Nur unter höchst ungewöhnlichen geologischen Voraussetzungen war es demnach möglich, einen kurzen Blick auf das empfindliche Leben des Präkambriums zu erhaschen. Die feinkörnigen Sandsteinsedimente der Ediacara-Hügel boten solche Voraussetzungen: Sie hatten die Form der Lebewesen bewahrt, statt sie zu zerquetschen und zu vernichten.
Seit dieser ersten Entdeckung hat man in vielen Teilen der Erde ähnliche Ansammlungen einfach gebauter Lebewesen mit weichem Körper aus der gleichen Zeit des Präkambriums gefunden. Damit war die Möglichkeit, daß es sich bei dem Schatz in den Ediacara-Bergen um eine geologische Laune handelte, ausgeschlossen. Die Tiere der Ediacara-Fauna waren formenreich und weltweit verbreitet, Elemente eines offenbar wichtigen Stadiums in der Entwicklung von einfachen zu komplizierteren Einzellern und schließlich zu den komplexesten Lebensformen, den vielzelligen Organismen. Aber das Fortschreiten von den einfachen zu komplexeren Formen war kein zwangsläufiger, vorhersagbarer Vorgang. Wie wir gesehen haben, erschienen die Vielzeller in der Erdgeschichte erst spät auf der Bildfläche, und den Grund dafür hat man vermutlich erst vor kurzem erkannt.
»Wir haben Anhaltspunkte dafür,..., daß das physische System Erde zu der Zeit, als vielzellige Tiere entstanden, größeren Umwälzungen unterlag... So nahm der Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre deutlich zu«, erklärte Andrew Knoll, ein Geologe an der Harvard University.2
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Solange der Sauerstoffgehalt der Luft nicht von nur einem Prozent auf die knapp 21 Prozent der Jetztzeit angestiegen war, konnten Lebewesen, die größer als eine einzelne Zelle waren, schlicht und einfach nicht existieren. Die Idee, daß Sauerstoffmangel das Auftauchen komplexer Lebensformen verhinderte, hat eine lange Geschichte; sie geht dreißig Jahre weit zurück, aber erst in jüngster Zeit fand man geochemische Belege für einen plötzlichen Anstieg des Sauerstoffgehalts.
Veränderungen der physikalischen Umweltbedingungen können zu einer machtvollen Triebkraft des entwicklungsgeschichtlichen Wandels werden, und oft waren sie der entscheidende Faktor. Nach meiner Überzeugung gilt das auch für die Entstehung der Menschenfamilie vor etwa fünf Millionen Jahren, also in recht junger Vergangenheit; es war vermutlich entscheidend für das Auftauchen von Homo, unserer eigenen Gattung, und ebenso dürfte es auch vor ungefähr 630 Millionen Jahren beim Auftauchen der ersten Vielzeller gewesen sein. Eine solche Erklärung hätte Darwin wahrscheinlich gefallen, denn er war sich immer darüber im klaren, daß der »Kampf ums Dasein« sowohl die Wechselbeziehungen mit anderen Lebewesen als auch die mit der physikalischen Umwelt umfaßte.
Die Entdeckung der Ediacara-Fauna löste in der Geologengemeinde einen allgemeinen Seufzer der Erleichterung aus, denn im allgemeinen teilte man Darwins Ansicht über die allmähliche Entwicklung in langen Zeiträumen. Hier war sie endlich, die Tierwelt, die dem Leben des Kambriums vorausgegangen war. Die kambrische Explosion war also doch kein plötzliches Ereignis gewesen, sondern es handelte sich, wie Darwin vorausgesagt hatte, um eine irreführende Verfälschung durch die unvollständigen Fossilfunde. Die »großen und ganz unbekannten Perioden« vor dem Kambrium waren demnach tatsächlich »von lebenden Geschöpfen erfüllt«, wie Darwin geschrieben hatte.3 An dem langen Vorspiel des einzelligen Lebens war zwar nicht zu zweifeln, aber die Entstehung der Vielzeller erschien jetzt nicht mehr als abruptes Ereignis, sondern als allmähliche Entwicklung.
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Mehrere Jahrzehnte sollten vergehen, bevor sich Zweifel an der wahren Natur der Ediacara-Fauna zusammenbrauten. Manche ihrer Lebewesen waren zwar tatsächlich rätselhaft und ließen sich nicht ohne weiteres mit späteren Lebensformen in Verbindung bringen, aber in den meisten hatte man Vorfahren des einen oder anderen Tiers im Kambrium erkannt. Seit Mitte der achtziger Jahre stellte man jedoch die meisten dieser Verbindungen in Frage, vielleicht mit Ausnahme der Schwämme.
Einer der ersten, die an der herkömmlichen Interpretation zweifelten, und sicher der einflußreichste Vertreter dieser Ansicht war der Paläontologe Adolf Seilacher von der Universität Tübingen. Er räumte zwar oberflächliche Ähnlichkeiten zwischen Ediacara-Tieren und späteren Arten ein, behauptete aber, ihr Grundbauplan sei unterschiedlich. So bedienen sich die heutigen Organismen für die Aufnahme von Nährstoffen und Gasen verschiedener Systeme innerer Röhren. Bei der Ediacara-Fauna gab es solche Organe nicht; statt dessen hatten diese Tiere, so Seilachers Beobachtung, »eine einzigartige Steppdecken-Konstruktion«.4
Da sich die Ediacara-Tiere in ihrem inneren Körperbau so grundlegend von späteren Lebewesen unterschieden, vertrat Seilacher die Ansicht, sie könnten keine Vorfahren der Tierwelt im Kambrium sein. Die Funde aus Australien, so seine Aussage, »sind nicht die Vorfahren der heutigen Tiere und Pflanzen, sondern ein fehlgeschlagenes Experiment der präkambrischen Evolution«.5)
Seilachers Ansicht setzte sich recht schnell durch. Im Oktober 1989 schrieb beispielsweise Simon Conway Morris, ein Geologe der Universität Cambridge in England, in der Fachzeitschrift Science über »ein auffälliges Fehlen von Zusammenhang zwischen der Ediacara-Fauna und der später folgenden kambrischen Fauna«. Zwar merkte er an, welche geologischen Effekte die Uneinheitlichkeit hervorrufen könnten, aber er gelangte zu dem Schluß, in den Unterschieden »könnte sich ein umfangreiches Aussterben der Ediacara-Tierwelt widerspiegeln«.6)
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Die Tiere der Ediacara-Fauna, die man anfangs für Vorläufer aller späteren komplex gebauten Lebewesen hielt, waren in Wirklichkeit vermutlich ein eigenständiges Evolutionsexperiment und hinterließen nur wenige oder gar keine Nachkommen. (Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus Nature, Bd. 361, Seite 219, von Simon Conway Morris. © 1993 Macmillan Magazines Limited.)
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Vier Jahre später verfeinerte er in der Zeitschrift Nature seine Ansicht: Er veröffentlichte eine Graphik über das Leben im Präkambrium und Kambrium, die eine anfangs gedeihende Ediacara-Fauna und dann ihren fast völligen Niedergang zeigte, die Folge eines weltweiten Aussterbens, wie man es seitdem nicht wieder beobachtet hat.
Hundert Millionen Jahre lang waren die Ediacara-Tiere auf der Erde die komplexesten Lebensformen. Ihr Auftauchen hatte für die Lebensgemeinschaften der Mikroorganismen verheerende Folgen. Die Prokaryonten, zu denen später die einzelligen Eukaryonten hinzukamen, hatten über drei Milliarden Jahre lang mit Kolonien als höchster Organisationsform gelebt. Das Auftauchen neuer Arten und das Aussterben anderer waren nicht immer gleich schnell verlaufen: Phasen mit hoher Artenfluktuation hatte es gegeben, aber kein Massensterben.
Das änderte sich erst, als die exotischen Geschöpfe der Ediacara-Zeit auf der Bildfläche erschienen: Jetzt starben etwa 75 Prozent der einzelligen Arten aus, die bis dahin die lebenden Schichten der Stromatolithen gebildet hatten: Sie wurden von den großen Burschen von nebenan einfach abgegrast. Aber dann verschwanden auch die Ediacara-Tiere, als Opfer von etwas, das wir nicht kennen. Heute wissen wir, daß die meisten Arten der Ediacara-Fauna Vorfahren vor gar nichts waren, sondern nur Überreste eines großen, fehlgeschlagenen Evolutionsexperiments.
Nun fiel also die Ediacara-Fauna als der ersehnte Vorgänger der kambrischen Welt aus, der den von Darwin vorhergesagten allmählichen Wandel repräsentiert hätte, und damit war die kambrische Explosion wieder das Rätsel, das nach einer außergewöhnlichen Erklärung verlangte. Zu Recht hat man sie als »das große Geheimnis in der Geschichte des Lebens« bezeichnet.
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