3. Die treibende Kraft der Evolution
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Die kambrische Explosion vor einer halben Milliarde Jahren war ein Evolutionsschub, der in der Geschichte des Lebens bis dahin nicht seinesgleichen hatte und sich auch, wie wir noch sehen werden, seither nicht wiederholt hat. In einem nach geologischen Maßstäben kurzen Zeitraum entstand eine Fülle neuer Lebensformen. Die Biologen wüßten liebend gern, welche Kraft hinter diesem auffälligen Geheimnis des Lebens steckt. David Jablonski und David Bottjer, zwei Paläontologen der University of Chicago, meinen: »Innovation ist die Triebkraft der Makroevolution.«1
Als Makroevolution bezeichnet man die großen Verschiebungen in der Geschichte des Lebens wie zum Beispiel das Auftauchen der Blütenpflanzen oder die Entstehung der Plazenta als Mittel zur Ernährung des Embryos, die einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu echten Säugetieren darstellte. Makroevolution besteht aus den größeren Einschnitten in der Entwicklung des Lebens, und es gibt keinen größeren oder dramatischeren Einschnitt als die kambrische Explosion, die eigentlich den Schauplatz für die gesamte weitere Erdgeschichte vorbereitete. In dieser kurzen Phase entwicklungsgeschichtlicher Neuerungen entstanden alle grundlegenden Körperbaupläne, nach denen die heutigen vielzelligen Lebewesen gestaltet sind.
Bis vor kurzem glaubte man, die kambrische Explosion habe etwa 20 bis 30 Millionen Jahre gedauert — nach den üblichen großen Maßstäben der geologischen Zeitrechnung tatsächlich eine sehr kurze Phase, insbesondere im Vergleich zum Ausmaß der Veränderungen. Ende 1993 strich eine Arbeitsgruppe aus Geologen und Paläontologen der Harvard University die Schätzungen für die Dauer der kambrischen Explosion nochmals um über die Hälfte zusammen: Sie soll nach dieser Argumentation höchstens zehn, vielleicht sogar nur fünf Millionen Jahre gedauert haben. Mein Freund Stephen Jay Gould, der ebenfalls an der Harvard University arbeitet, meinte kurz nach dieser Entdeckung: »Jetzt ist dieser größte aller Evolutionsschübe noch stärker ein echter Schub, als wir geglaubt hatten.«2
Der allmähliche Ablauf der Evolution, den der orthodoxe Darwinismus fordert, reicht allein als Erklärung für einen so umfassenden und schnellen Vorgang ganz eindeutig nicht aus, so daß man nach anderen Begründungen suchen muß. Jablonski und Bottjer warnen die Biologen, es sei eine schwierige Aufgabe, nach Erklärungen für die Triebkraft dieser außergewöhnlichen Entwicklung zu suchen. Sie schreiben: »Die tiefgreifendsten Entwicklungen, größere Neuerungen, gehören zu den am wenigsten geklärten Bestandteilen des Evolutionsprozesses.«3
Mit diesem Kapitel verfolge ich zwei Ziele. Erstens werde ich mich mit dem Wesen der kambrischen Evolution beschäftigen und einige Hypothesen erörtern, die man zu ihrer Erklärung aufgestellt hat. Und zweitens werde ich mich auf die kürzlich entdeckten, ungewöhnlichen Eigenschaften dieses Ereignisses konzentrieren, die alle herkömmlichen Beschreibungen der Erdgeschichte in Frage stellen.
Wenn Touristen nach Kenia kommen und wilde Tiere sehen wollen, stehen die bekanntesten und am stärksten romantisierten Arten der afrikanischen Tierwelt ganz oben auf ihrer Wunschliste: Elefanten, Löwen, Nashörner, Leoparden und Büffel. Wenn sie nach Hause fahren müssen, ohne Geschichten von der Nähe zur Natur und von Begegnungen mit diesen Geschöpfen in freier Wildbahn erzählen zu können, fühlen sie sich betrogen.
Ich kann das verstehen, denn solche majestätischen Lebewesen erzeugen beim Beobachter ein Gefühl der Ehrfurcht. Sie sind auffällige und unersetzliche Bestandteile des üppigen Ökosystems meines Landes, meines Kontinents. Wir Menschen fühlen uns offenbar vom Dramatischen angezogen — und ein matriarchalisch organisiertes Elefantenrudel, reißende Löwen oder eine Büffelherde in Drohhaltung sind zweifellos dramatisch. Aber sie sind nur ein Teil des afrikanischen Ökosystems und aller Ökosysteme weltweit, und zwar nur ein recht geringfügiger.
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Die Zahl der Säugetierarten, die in ihrer großen Mehrheit viel kleiner sind als diese majestätischen Geschöpfe, beläuft sich vielleicht auf viertausend — ein winziger Bruchteil der vielen Millionen Spezies, die heute das Leben auf der Erde ausmachen. Wir lassen uns von ein paar Raritäten des Lebendigen betören, die in einer bunten Vielfalt »kleinerer« Mitspieler im großen Spiel des Lebens existieren und von ihnen abhängig sind.
Die Wirbeltiere gehören zu den Chordatieren, einem der etwa 30 Stämme des heutigen Tierreiches. Bei den übrigen neunundzwanzig handelt es sich meist um Lebensformen, die wir vermutlich »bescheiden« nennen würden: Gliederfüßer (mit Spinnen, Insekten, Krebsen und ihren Verwandten), Ringelwürmer (Regenwürmer und dergleichen), Korallen, Schwämme, Weichtiere (Muscheln, Schnecken und Tintenfische) und Stachelhäuter (Seeigel, Seesterne und Sanddollars). Das Känozoikum, die geologische Ära der Jetztzeit, wird oft auch als Zeitalter der Wirbeltiere bezeichnet, was eine sehr voreingenommene Sichtweise für das Leben erkennen läßt. Nach einer genaueren Beurteilung für den Erfolg im Lebensspiel ist es (zumindest nach Zahlen) das Zeitalter der Gliederfüßer; sie herrschen heute ebenso vor wie in den meisten anderen Phasen der Erdgeschichte und stellen etwa 40 Prozent aller lebenden Arten.
Wie ich bereits erwähnt habe, gibt es heute mehr Arten als jemals zuvor in der Erdgeschichte, und jede davon ist eine einzigartige Variante eines der 30 grundlegenden Körperbaupläne. Diese Zunahme der Artenvielfalt im Laufe der Evolution ist eines der großen Rätsel des Lebens auf der Erde, entstanden durch den unausweichlichen Druck der treibenden Kraft hinter der Evolution, die zu ein paar grundlegenden Themen unzählige Variationen geschaffen hat. Die etwas über 30 Grundbaupläne gehen alle auf die Zeit des Kambriums zurück, auf jene Orgie der Neuentwicklungen, die sich vor 530 bis 525 Millionen Jahren abspielte. Wenn ein potentieller Stamm im Kambrium fehlte, fehlte er für alle Zeiten.
Es war, als sei die Fähigkeit zu entwicklungsgeschichtlichen Sprüngen, die größere Neuerungen der Funktion hervorbrachten und damit die Voraussetzungen für neue Stämme schufen, am Ende des Kambriums irgendwie verlorengegangen und als habe die Triebfeder der Evolution einen Teil ihrer Kraft verloren.
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Man sollte die kambrische Evolution also als etwas Besonderes betrachten, und zwar nicht nur weil sie in so kurzer Zeit so viele Neuerungen hervorbrachte, sondern auch weil diese Fülle nie wieder auch nur annähernd erreicht wurde. Offenbar hatten die Mechanismen der Makroevolution, die vor einer halben Milliarde Jahren wirkten, etwas äußerst Besonderes oder vielleicht sogar Einzigartiges. Jeffrey Levinton, ein Biologe der State University of New York in Stony Brook, formulierte das Dilemma, dem die Biologen in dieser Frage gegenüberstehen, sehr anschaulich: »Warum hat die Evolution während der letzten Hunderte von Jahrmillionen keine grundsätzlich neuen Körperbaupläne hervorgebracht?«4) Auf diese Frage hat man im Laufe der Jahre zwei wichtige Antworten formuliert. Die erste beruft sich auf ökologische Prinzipien, die zweite auf die Genetik, und beide sind sehr theoretisch. Es gab auch andere Erklärungsversuche, die noch spekulativer waren.
Ökologisch gesehen, war die Erde im Kambrium recht einfach strukturiert. Es gab mehrere hunderttausend Arten von Einzellern und Restpopulationen der Ediacara-Fauna; aber die Nischen, die heute von den vielzelligen Lebewesen besetzt sind, waren damals noch nicht ausgefüllt. Deshalb bot die Welt im frühen Kambrium unbegrenzte ökologische Möglichkeiten. »Die Ökosysteme hatten Platz für alles — kriechende, gehende, grabende, saugende und raubende Arten, was man will —, und das Leben machte sich diese Gelegenheit in beispielloser Weise zunutze«, meint Gould. »Nachdem die Möglichkeiten in der kambrischen Explosion ausgeschöpft waren, konnte sich nie wieder eine ähnliche Gelegenheit bieten, denn der verfügbare ökologische Raum war nie wieder so leer.«5
Die Idee von den leeren ökologischen Nischen, die James Valentine aus Berkeley vor 20 Jahren zum erstenmal vertrat, liegt im Rahmen der üblichen darwinistischen Lehre, denn sie geht davon aus, daß äußere Einflüsse das Leben gestaltet haben.
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Nach dieser Vorstellung waren entwicklungsgeschichtliche Neuerungen in der letzten halben Milliarde Jahren immer gleich häufig, aber die Überlebenschancen für ihre Ergebnisse haben sich verändert. Im frühen Kambrium blieben Neuentwicklungen auf der Ebene der Stämme erhalten, weil sie wenig Konkurrenz hatten. Später, als alle vorhandenen Nischen besetzt waren, schlugen größere neue Versuche auf dieser Ebene fehl, einfach weil kein ökologischer Spielraum mehr vorhanden war. Das ist eine reizvolle Hypothese, nicht zuletzt weil sie zu den hergebrachten Prinzipien der Biologie paßt — was immer eine gute Voraussetzung ist. Sie hat etwas erfreulich Einfaches und Vertrautes.
Im Jahr 1987 stellte Valentine diese Vorstellung auf einen zumindest theoretischen Prüfstand. Dazu tat er sich mit Douglas Erwin, der heute an der Smithsonian Institution in Washington arbeitet, und Jack Sepkoski von der University of Chicago zusammen; gemeinsam unterzogen sie die Fossilfunde nochmals einer genauen Prüfung. Wie sie feststellten, löschte ein weiteres bemerkenswertes Ereignis der Erdgeschichte — das größte Massenaussterben aller Zeiten — am Ende der Permzeit vor etwa 225 Millionen Jahren bis zu 96 Prozent aller meeresbewohnenden Arten aus. Diese gewaltige globale Katastrophe ermöglichte als Experiment der Natur einen Vergleich zwischen zwei erdgeschichtlichen Epochen, in denen die Erde ökologisch ausgedünnt war. Wenn in beiden Perioden tatsächlich ökologische Freiräume vorhanden waren, hätte man der Hypothese zufolge auch in beiden eine ähnliche Reaktion erwartet: eine Welle der entwicklungsgeschichtlichen Neuerungen.
»Es ist sehr unwahrscheinlich, daß zu jener Zeit mehr als ein paar hundert oder höchstens tausend [vielzellige] Arten in der marinen Biosphäre lebten«, meinten Valentine und seine Kollegen. »Jedenfalls folgte eine starke Zunahme der Vielfalt.«6 Wie man an den fossilen Überresten erkannte, hatte die Welle der Neuentwicklungen nach dem Massenaussterben im Perm ein ähnliches Ausmaß wie bei der kambrischen Explosion — aber nur in quantitativer, nicht in qualitativer Hinsicht.
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In der Biologie teilt man die Lebewesen nach einer Klassifikationshierarchie ein, in der auf der untersten Ebene die Art und fast auf der obersten der Stamm steht (ganz oben steht das Reich); dazwischen liegen Gattung, Familie, Ordnung und Klasse. Im mittleren Bereich dieser Hierarchie ähnelten die beiden Phasen der Neuentwicklung sich stark. Während des Kambriums tauchten zum Beispiel insgesamt etwa 470 neue Familien auf, vergleichbar der Zeit nach dem Perm mit 450 Familien. Unterhalb der Ebene der Familie brachte die kambrische Explosion relativ wenige neue Arten hervor, während auf das Perm eine gewaltige Zunahme der Artenvielfalt folgte. Auf den Ebenen oberhalb der Familie geschah nach dem Perm jedoch nicht viel: Es entstanden wenige neue Klassen und kein einziger neuer Stamm. Offensichtlich war die Triebkraft der Evolution in beiden Perioden wirksam, aber im Kambrium sorgte sie für mehr und extremere Experimente als nach dem Perm, als eher Variationen der bereits vorhandenen Themen durchgespielt wurden.
Auf den ersten Blick scheint das die Hypothese von den leeren ökologischen Nischen zu entkräften, denn nach der Krise im Perm boten sich mit Sicherheit Gelegenheiten für das Überleben entwicklungsgeschichtlicher Neuerungen, und doch gab es keine. Nein, argumentieren Valentine und seine Kollegen, die Hypothese bleibt gültig. Es stimmt zwar, daß bei dem Massenaussterben im Perm 96 Prozent aller Arten verschwanden, aber der Rest repräsentierte das vollständige Spektrum ökologischer Nischen, obwohl die absolute Artenzahl drastisch gesunken war: Es war, als seien die Lebewesen nach der Krise trotz ihrer spärlichen Verbreitung in ihren Bauplänen immer noch so vielfältig gewesen, daß sie den ökologischen Kuchen unter sich aufteilen konnten. Es gab schlicht keinen Spielraum für wichtige neue Körperformen, keine unbesetzte Nische, in der sich etwas Neues hätte festsetzen können. Variationen der vorhandenen Themen waren möglich, aber keine größeren Abweichungen.
Mir ist klar, warum diese Hypothese ihre Befürworter hat. Sie erscheint sofort sehr sinnvoll. Aber auch die genetische Hypothese muß man in Erwägung ziehen. Sie besagt im Gegensatz zu den ökologischen Überlegungen, daß die Triebkraft der Evolution im Kambrium qualitativ anders war als in späterer Zeit. Insbesondere postuliert sie für die Frühzeit der vielzelligen Lebensformen eine umfangreichere Entstehung entwicklungsgeschichtlicher Neuerungen.
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Der Grund für diesen Unterschied soll eine anfangs »lockerer« organisierte Ausstattung mit genetischem Material sein. Demnach wurden die Elemente des Genoms im Laufe der Zeit immer enger verzahnt, so daß Störungen des Systems immer schwerer zu bewältigen waren. Größere genetische Veränderungen, die zu umfangreichen morphologischen Abwandlungen führen, sind in einem locker organisierten Genom eher möglich als bei stark integrierten Genen. Deshalb konnte die Evolution im Kambrium größere Sprünge machen; später wäre sie demnach stärker eingeschränkt gewesen, so daß nur noch kleinere Schritte auf der Ebene der Klassen möglich waren. Soweit zumindest die Hypothese.
Wie sich solche Annahmen überprüfen lassen, kann man sich nicht ohne weiteres vorstellen, denn die ursprünglichen Genome stehen heute für die Untersuchung im Labor nicht mehr zur Verfügung. Die Hypothese ist aber plausibel, denn die Komplexität der Genome dürfte ebenso eine Evolution durchgemacht haben wie die Organismen als Ganzes. Im frühen Kambrium gab es bei den Arten eine ungewöhnlich starke Fluktuation: Sie entstanden im Vergleich zu anderen erdgeschichtlichen Epochen schnell und starben auch schnell wieder aus. Heißt das, daß die Evolution in jener frühen Zeit wegen der lockerer organisierten Genome weniger Beschränkungen unterlag? Vielleicht.
Aber man könnte auch eine ökologische Erklärung anbieten und davon ausgehen, daß äußere, außergewöhnliche Umweltbedingungen die treibende Kraft des Wandels waren. Gestützt wird diese Ansicht durch die Beobachtung, daß die starke Artenfluktuation nicht nur die vielzelligen Lebewesen, sondern auch die Einzeller betraf. Zwar gibt es mehrere Theorien, die Umweltveränderungen unterstellen, beispielsweise eine veränderte chemische Zusammensetzung des Meerwassers mit der Folge, daß nun kalkhaltige Skelette entstehen konnten, aber überzeugende Indizien für eine physikalische Triebkraft der kambrischen Explosion gibt es bis heute nicht. Valentine führte kürzlich zwanzig solche Hypothesen auf, die im Laufe der Jahre von verschiedenen angesehenen Fachleuten aufgestellt wurden. Eine derart lange Liste von Vermutungen läßt insgesamt bei den Biologen wohl eher die Hoffnung auf eine Lösung schwinden, als daß eine von ihnen wirkliche Erkenntnisse über das Problem liefert.
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Das große Geheimnis des Lebens hält die Biologen also weiterhin in Atem — mit seinem zeitlichen Ablauf, seinem Wesen und seinem Umfang. Aber jetzt muß ich etwas bekennen: Ich habe bisher die Hälfte der Geschichte verschwiegen, und zwar nachweislich die faszinierendere Hälfte. Die Tatsache, daß die Triebkraft der Evolution während des frühen Kambriums in der beschriebenen Weise gewirkt hat — das heißt daß alle heutigen Körperbaupläne in einem winzigen Bruchteil der gesamten Evolutionszeit entstanden sind —, reicht allein schon aus, um unsere Aufmerksamkeit und unseren Respekt zu wecken. In den letzten Jahren hat sich aber gezeigt, daß die Neuerungen noch außergewöhnlicher waren, als man sich bis dahin vorstellen konnte. Und die Geschichte des Lebens nach der Explosion war völlig unglaublich. Aus ihr ergeben sich tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Ansichten über die Erdgeschichte.
Wie ich schon erwähnt habe, entstanden alle heutigen Tierstämme in einem kurzen Zeitraum der Kreativität vor etwa einer halben Milliarde Jahren. In Wirklichkeit gab es sogar neben den heutigen Stämmen vermutlich noch bis zu siebzig weitere, die schon vor langer Zeit ausgestorben sind. Der Biologe Edward Wilson von der Harvard University bezeichnet diese Epoche als »Periode wilden Experimentierens, in der Körperbaupläne, die man nie zuvor und nie danach zu sehen bekam, erfunden und wieder verworfen wurden«.7
Sich in die Fossilfunde zu vertiefen und so auf jene Zeit zurückzublicken ist wie eine Reise in eine fremde Welt, bevölkert von Geschöpfen mit einem Körperbau, wie wir ihn noch nie gesehen haben. Die Dinosaurier mit ihrer gewaltigen Größe und ihrer oft furchterregenden Bewaffnung erscheinen uns schon seltsam genug, aber sie sind dem Blick des Biologen vertraut: Er sieht in ihnen eine interessante Form landlebender Vierfüßer, zu denen auch Krokodile und Elefanten, Spitzhörnchen und Löwen gehören. Damals im frühen Kambrium gab es aber Lebewesen, die trotz ihrer geringen Größe wie Geschöpfe aus einem Science-fiction-Roman aussahen.
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Als man vor neunzig Jahren zum erstenmal die Produkte der kambrischen Explosion sah und untersuchte, hatte man von ihnen ein ganz anderes Bild. Die Geschichte dieser Wahrnehmungsverschiebung ist heute ein Wissenschaftsklassiker, den Gould 1989 in seinem Buch Wonderful Life hervorragend nachgezeichnet hat. Es ist die Geschichte zweier Männer und ihrer Hingabe an das, was sie jeweils für die Wahrheit hielten.
Im November 1909 entdeckte Charles Doolittle Walcott das, was Gould als »heiligen Gral der Paläontologie« bezeichnet hat: den Burgess-Schiefer. Als er an den Westhängen zwischen Wapta Mountain und Mount Field im Süden der kanadischen Provinz British Columbia nach Fossilien suchte, stieß er gewissermaßen auf ein marines Pompeji oder eigentlich sogar auf mehrere Pompejis, die wie die Seiten eines Buches aufeinandergeschichtet waren.
Immer wieder waren Lebensgemeinschaften aus dem Flachwasser durch plötzliche Schlammablagerungen zugeschüttet worden, so daß sie erhalten blieben und uns einen Blick auf die Lebenswelt kurz nach der kambrischen Explosion vor über einer halben Milliarde Jahren ermöglichen.
In einem Brief an einen Kollegen bemerkte Walcott damals, er habe »einige sehr interessante Dinge« gefunden.8 Damit hatte er recht, aber was sie wirklich bedeuteten, erkannte er aus verschiedenen Gründen nicht.
In den nächsten beiden Jahrzehnten seines ausgefüllten Lebens beschäftigte Walcott sich immer wieder eine Zeitlang mit dem umfangreichen Fossilmaterial, das er und seine Mitarbeiter nach Washington, D.C. gebracht hatten. Er fertigte sorgfältige Zeichnungen von allen seinen Beobachtungen an und ordnete jedes Tier einem bekannten Stamm zu. Mit anderen Worten: Walcott sah im Burgess-Schiefer ein primitiveres Abbild der heutigen Tierwelt. Wie Darwin rechnete er voll und ganz damit, daß weitere Fossilfunde die richtigen Vorläufer der kambrischen Fauna in einer langen Evolutionskette aufzeigen würden. Und er stellte sich — ebenfalls wie Darwin — vor, das Leben schreite in einer allmählichen Entwicklung fort, ohne dramatische Schübe oder Verzögerungen.
Die hervorragendend erhaltenen Tiere des Burgess-Schiefers, so Walcott, »bereiteten eigentlich den entwicklungsgeschichtlichen Boden für die ganze weitere Erdgeschichte«, wie ich es im ersten Abschnitt dieses Kapitels beschrieben habe.
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Der zweite Teil der Geschichte beginnt Anfang der sechziger Jahre, als Harry Whittington, ein Paläontologe der Universität von Cambridge, Walcotts Ausgrabungsstätte erneut öffnete. »Wir schlugen auf 2100 Meter unser Lager auf und kletterten dann noch 50 Meter bis auf den Bergkamm«, berichtet er. »Man steht dort hoch über einem glitzernden grünen See und blickt nach Westen auf die schneebedeckten Rocky Mountains. Und was am besten ist: Wenn man die Steine aufschlägt, findet man die schönsten Fossilien.«9
Unter den Versteinerungen waren Schwämme, Quallen, Würmer, Weichtiere und viele Gliederfüßer. Manche waren seßhafte oder bewegliche Bewohner des Meeresbodens, andere schwammen oder ließen sich im Wasser treiben. Zum erstenmal tauchten in der entstehenden Vielfalt des Lebens Tiere mit Kalkskelett auf. Ein solches Knochengerüst besaßen etwa 20 Prozent der ungefähr 140 im Burgess-Schiefer identifizierten Arten, die allerdings nur fünf Prozent der gesamten Invdividuenzahl ausmachten. Alle Geschöpfe der Burgess-Tierwelt waren unabhängig von ihrer Lebensweise als flache, schemenhafte Abbilder in den dünnen Schieferschichten erhalten, und ihre äußere Anatomie war praktisch in allen Einzelheiten zu erkennen.
In den folgenden zehn Jahren heuerte Whittington eine kleine Gruppe intelligenter junger Wissenschaftler an, die mit ihm das reichhaltige Material aus der ersten Expedition und späteren Grabungen auswerten sollten. Schon sehr bald zeigte sich bei den Befunden eine gewisse Regelmäßigkeit: Man konnte nicht nur wie Walcott Geschöpfe identifizieren, die heute noch Nachkommen haben, sondern es stellte sich auch heraus, daß viele Lebewesen aus dem Burgess-Schiefer im Gegensatz zu Walcotts Erkenntnissen keine Nachkommen hatten. So fanden Whittington und seine Mitarbeiter beispielsweise Vertreter aller drei Typen der heutigen Gliederfüßer (Spinnen, Insekten und Krebsartige) sowie Trilobiten, die Lieblingstiere jedes jungen Fossiljägers, die am Ende des Perm vor 250 Millionen Jahren ausstarben.
Außerdem gab es aber auch viele andere Typen von Gliederfüßern, die alle das Kambrium nicht überlebten.
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Je länger sich Whittington und seine Kollegen mit den altertümlichen Tieren beschäftigten, desto seltsamer erschienen ihnen diese Geschöpfe. Schließlich hatten sie eine Liste von etwa zwanzig Arten, die sich »allen Versuchen, eine Verbindung zu bekannten Stämmen herzustellen, entzogen«, so der Bericht von Whittington und Simon Gonway Morris, einem seiner jüngeren Mitarbeiter. Diese bizarren Lebewesen, die sie völlig zu Recht als Problematica bezeichneten, entsprachen keinem bekannten Körperbauplan. Sie waren in der kurzen Phase des »wilden Experimentierens« plötzlich auf der Bildfläche erschienen und ebenso plötzlich wieder verschwunden.
Diesen völlig unerwarteten Ablauf konnten Whittington und seine Kollegen erkennen, weil sie sich im Gegensatz zu Walcott nicht die Scheuklappen einer rein darwinistischen Sichtweise zu eigen gemacht hatten. Walcott war davon ausgegangen, daß die Formen des Kambriums nur Vorstufen zur heutigen Tierwelt waren, und deshalb hatte er auch da Verbindungen zwischen Altem und Modernem hergestellt, wo es keine gab. Wie so oft in der Wissenschaft sah Walcott in den Befunden, die er vor sich hatte, genau das, was er sehen wollte.
Nachdem Whittington und seine Kollegen entdeckt hatten, daß in der kambrischen Explosion eine Fülle neuer Körperbaupläne entstanden und zu einem erheblichen Teil schnell wieder verschwunden war, erhob sich eine große Frage: Was bestimmt darüber, wer die Gewinner und wer die Verlierer sind? Gould meint dazu: »Wir können zwei zusammenhängende Fragen stellen. Erstens: Waren die einzigartigen Stämme der Burgess-Fauna wegen ihrer ungeeigneten Gestaltung dazu verdammt, als fehlgeschlagene Experimente nach dem ersten Aufblühen des tierischen Lebens schnell wieder zu verschwinden?
Und zweitens, was die heute noch existierenden Gruppen mit Vertretern im Burgess-Schiefer angeht: Hätte man von vornherein voraussagen können, welchen von ihnen eine beherrschende Stellung bestimmt war und welche später eine Randexistenz in den Ecken und Winkeln einer unbarmherzigen Welt führen würden?«11
Diese Fragen zielen auf den Kern unserer Sichtweise für die Geschichte des Lebens.
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Nach der herkömmlichen Ansicht, wonach — um Darwins Formulierung zu gebrauchen — »alle Natur sich im Krieg befindet, im Krieg eines Lebewesens gegen das andere«12, ist Konkurrenz das Mittel, mit dem die von der natürlichen Selektion verfeinerte anatomische Gestaltung auf den Prüfstand gestellt wird: Überlegener Körperbau führt zum Sieg im Lebenskampf; unterlegene Gestaltung gerät in Vergessenheit.
Genau so charakterisierten Conway Morris und Whittington 1979, in der Frühphase ihrer Arbeiten, in einem Fachartikel die Ereignisse: »Viele Tiere des Kambriums scheinen erste Experimente verschiedener [vielzelliger] Gruppen zu sein, die dazu bestimmt waren, zu gegebener Zeit von besser angepaßten Formen verdrängt zu werden«, meinten sie. »Nach der Aufspaltung im Kambrium bestand der weitere Trend offenbar darin, daß relativ wenige Gruppen Erfolg hatten und in ihrer Artenzahl immer mehr anwuchsen, während viele andere Gruppen ausstarben.«13
Im ersten Schritt der Umwälzungen, die zur Neuinterpretation des Burgess-Schiefers führten, mußte man also die Vorstellung akzeptieren, daß sich hier eine Welt der flüchtigen Existenz zeigte: Es entstanden viel mehr Körperbaupläne, als letztlich überlebten. Im zweiten Schritt behauptete man dann, die Opfer dieses Massenaussterbens seien in echt Darwinscher Manier wegen ihres unterlegenen Körperbaus zugrunde gegangen. Diese Ansicht wurde erwartungsgemäß zur allgemeinen Lehrmeinung.
Aber es gab noch einen dritten Schritt, und mit ihm hatte man nicht gerechnet.
Je eingehender Whittington und seine Kollegen die Tiere aus dem Kambrium untersuchten, desto deutlicher erkannten sie, daß bei den überlebenden Arten kein eindeutiger Konkurrenzvorteil und bei den ausgestorbenen keine besonderen Schwächen zu erkennen waren. Gould zeichnet in Wonderful Life nach, wie in den Veröffentlichungen von Whittington und seinen Mitarbeitern allmählich die Erkenntnis reifte, daß Konkurrenz vielleicht nicht des Rätsels Lösung war:
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»Sie sprachen immer weniger von >primitivem< Körperbau und gaben sich immer mehr Mühe, die funktionelle Spezialisierung der Burgess-Tiere zu erkennen«, beobachtet Gould. »Sie schrieben weniger über vorhersagbare, schlecht angepaßte Verlierer und sahen allmählich ein, daß wir nicht wissen, warum Sanctacaris Verwandte in einer wichtigen heutigen Gruppe hat, während Opabinia eine versteinerte Erinnerung ist.«14
Wenn Überleben und Aussterben nicht davon abhängen, welche Art besser oder schlechter angepaßt ist, was ist dann die Ursache? »Wir müssen den starken Verdacht hegen, daß die Dezimierung der Burgess-Tierwelt kein Wettrennen in Richtung des Schnellsten und Kräftigsten war, sondern eher eine Art große Lotterie«, meint Gould.15
Conway pflichtet ihm eindeutig bei; er schrieb im Oktober 1989 in einem wichtigen Fachartikel in der Zeitschrift Science: »Die Gesetzmäßigkeiten der Makroevolution, die dem Leben des Phanerozoikums ihren Stempel aufgedrückt haben, lassen sich mit zufälligem Aussterben vereinbaren« (Hervorhebung hinzugefügt)16. Jetzt war es mit der herkömmlichen Vorstellung vom Erfolg durch überlegenen Körperbau vorbei, und zurück blieb eine Welt voller Arten, deren Anpassung und Komplexität stetig zunahmen. Diese Welt war bevölkert von den glücklichen Überlebenden eines großen Glücksspiels.
Wenn ich Vorträge über den Ursprung des Menschen halte und über die komplexen Ökosysteme spreche, um deren Erhaltung viele von uns sich bemühen, höre ich aus den Fragen meiner Zuhörer häufig ein Unbehagen heraus, wenn sie sich vorstellen sollen, daß etwas in der Geschichte des Lebens ausschließlich auf Zufall beruht. Ich bemerke den Wunsch nach der Versicherung, das Universum sei so, wie es sein soll, und unser Platz darin sei vorhersagbar. In einem späteren Kapitel werde ich auf dieses Thema zurückkommen.
Vorerst jedoch, in unserem Überblick über die Anfänge der komplexen Lebensformen, soll es ausreichen, wenn wir »den starken Verdacht hegen«, daß ein Zufallselement über die Geschichte des Lebens mitbestimmt.
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Zwei
Ansichten über die Zunahme der Vielfalt von Körperformen während der
Evolution.
Oben: Nach der herkömmlichen Vorstellung nahm die Vielfalt im Laufe der
Zeit allmählich zu.
Unten: Nach dieser Vorstellung war die Vielfalt in der kambrischen Explosion
größer, und später verschwanden viele Formen.
(Copyright Stephen Jay Gould / W.W. Norton.)
Als ich zuvor sagte, die kambrische Explosion habe eigentlich »den Schauplatz für die gesamte weitere Erdgeschichte vorbereitet«, war das nur die halbe Wahrheit. Es stimmt, daß damals alle heute existierenden Stämme entstanden. Aber wenn der Zufall für den Lauf der Erdgeschichte eine wichtige Rolle spielt und wenn das Überleben nach diesem ersten Aufblühen des Lebens nicht von einem besonders guten Körperbauplan abhing, dann könnte unsere Welt heute auch von ganz anderen Geschöpfen bevölkert sein.
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Oder, wie Gould es formuliert: »Auf dem göttlichen Tonbandgerät sind Millionen Szenarien gespeichert.«17 Würde man das Tonband noch einmal abspielen, so seine Vermutung, käme etwas ganz anderes heraus.
Conway Morris drückte diese Vorstellung von der historischen Zufälligkeit in seinem Science-Artikel von 1989 auf folgende anschauliche Weise aus: »Was würde geschehen, wenn die kambrische Explosion noch einmal abliefe?« fragt er. »Aus größerer Entfernung sähe die Welt der Vielzeller vermutlich kaum anders aus; selbst die bizarrsten Tiere aus dem Burgess-Schiefer hatten eine nachvollziehbare Lebensweise, und deshalb würden die Mitwirkenden des ökologischen Theaters vermutlich die gleichen Rollen spielen. Die Schauspieler selbst wären aber bei näherem Hinsehen vermutlich unbekannt.« Das Ergebnis, so meint er, wäre vielleicht eine Lebenswelt »wie in der besten Science-fiction-Geschichte«.18
Ich habe meine Beschreibung der kambrischen Explosion mit den Stromatolithen am Westufer des Turkanasees begonnen und ende mit potentieller Science-fiction. Es war eine schwindelerregende Reise, aber sie war unumgänglich, wenn wir unseren Platz im Gesamtzusammenhang aller Dinge und unsere Rolle in der Zukunft verstehen wollen. Ich stimme Goulds Ansicht zu, wonach historische Zufälligkeiten bei der Entfaltung des Lebens auf der Erde an entscheidenden Stellen mitgewirkt haben, so daß unsere Welt nur eine von vielen möglichen biologischen Welten ist.
Gould leugnet nicht, daß die natürliche Selektion für die Anpassung der Arten an ihre Umwelt wichtig ist, aber er sieht darin nur einen räumlich begrenzten Einfluß und keine Kraft, welche die umfassendere Geschichte des Lebens gestaltet. Das paßt zu meinen eigenen Erfahrungen mit den Fossilien, aber wie viele Evolutionsbiologen glaube ich, daß Gould zu weit geht. So stimme ich zum Beispiel der Antwort zu, die Jeffrey Levinton auf die Frage Gestaltung oder Zufall? gab: »Nach allem, was man heute weiß, steckt wohl in beiden Annahmen ein Teil Wahrheit.«19
Die Erdgeschichte wird sicher bis zu einem gewissen Grade von zufälligen Kräften gestaltet, insbesondere was die Auswahl von Opfern des Massenaussterbens angeht. Aber intuitiv erscheint es auch offenkundig, daß das Leben sich in Anatomie und Verhalten vom Einfachen zum Komplizierten entwickelt hat.
Während die Welt früher nur von Lebewesen bevölkert war, die nicht größer waren als eine einzelne Zelle, gibt es heute unzählige Arten, die sich aus vielen verschiedenen Zelltypen zusammensetzen.
Während die Welt früher von Lebewesen bevölkert war, die auf ihre Umwelt wie einfache Automaten reagierten, gibt es heute unzählige Arten, die erst nachdenken und dann handeln.
Während es früher auf der Welt keine einzige Art gab, die über Selbstwahrnehmung verfügte, gibt es heute mindestens eine, die damit gesegnet ist.
Die Triebkraft der Evolution war tatsächlich höchst produktiv.
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