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4. Die Großen Fünf   

 

 

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Ich werde oft gefragt, wie meine Kollegen und ich Fossilien finden. Die Antwort ist einfacher, als man meist glaubt: Wir laufen herum und suchen danach. Natürlich muß man an der richtigen Stelle sein, das heißt, man muß sich Gestein aussuchen, das vor mehreren Millionen Jahren entstanden ist und vor kurzem durch Erosion freigelegt wurde. Und die Sedimente, aus denen das Gestein besteht, müssen unter Bedingungen abgelagert worden sein, die für die Erhaltung von Knochen günstig waren, wie es beispielsweise im Umfeld von Flüssen und Seen der Fall ist.

In der Gegend des Turkanasees im Norden Kenias, wo ich seit 1969 menschliche Fossilien gefunden habe, lagerten sich die Sedimente in der Zeit vor vier Millionen bis einer Million Jahren ab. Wind, Regen und jahreszeitliche Wasserläufe blättern im Buch der Erdgeschichte sehr wirksam zurück: Sie führen zur Erosion der alten Sedimente und legen die Knochen unserer Vorfahren frei, die dort vor langer Zeit lebten.

Neben den Überresten der Vorzeitmenschen finden wir am Turkanasee auch versteinerte Knochen von Schweinen, Krokodilen, Elefanten, Affen, Antilopen verschiedener Arten und zahlreichen anderen Tieren. Mit ein wenig Phantasie kann man sich leicht ausmalen, wie die Lebenswelt jener Zeit aussah — das Bild hätte große Ähnlichkeit mit dem heutigen Leben in dieser Gegend. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Alle Arten in dem Phantasiebild aus alter Zeit würden sich in irgendeiner Form von denen der heutigen Lebensgemeinschaft unterscheiden, manche nur geringfügig, andere höchst auffällig. So gab es zum Beispiel Krokodile mit besonders langem Maul, Elefanten, deren Stoßzähne nicht wie bei den heutigen Arten nach oben gebogen waren, sondern aus dem Unterkiefer nach unten ragten, und eine Spezies sehr kleiner Flußpferde. 

Außerdem lebten viele weitere Tiere, so zum Beispiel drei Elefanten-, drei Flußpferd- und mehrere Schweinearten. Wenn ich über die Sandsteinfelsen am Turkanasee gehe und die Überreste der Lebewesen sehe, die dort vor zwei, drei oder vier Millionen Jahren zu Hause waren, erkenne ich darin nicht nur die Spuren früherer ökologischer Systeme; sie sind für mich ein Hinweis auf Lebensgemeinschaften, die es heute nicht mehr gibt, weil es die Arten nicht mehr gibt. Sie sind ausgestorben.

Für den Paläontologen gehört der Tod zum Leben, und das Aussterben gehört zur Evolution. Seit sich in der kambrischen Explosion zum erstenmal vielzellige Lebewesen entwickelten, haben den Schätzungen zufolge etwa 30 Milliarden Arten gelebt. Heute ist die Erde nach manchen Schätzungen von 30 Millionen Arten bevölkert, das heißt, von allen Arten, die jemals gelebt haben, sind 99,9 Prozent ausgestorben. Oder, wie ein Spaßvogel unter den Statistikern es einmal formulierte: »In erster Näherung sind alle Arten ausgestorben.« Ganz offensichtlich sind es nicht alle; sonst könnten wir uns keine Gedanken über die Wunder der Natur machen. Aber die Herrschaft des Lebens auf der Erde ist empfindlicher, als wir uns gerne eingestehen.

In den 530 Millionen Jahren seit der kambrischen Explosion hat die Evolution 30 Milliarden Arten hervor­gebracht, manche davon geringfügige Abwandlungen vorhandener Formen, andere die Vorboten wichtiger entwicklungsgeschichtlicher Neuerungen wie des Kiefers, der umhüllten Eizelle oder der Fähigkeit zum Fliegen. Die Biologen waren völlig zu Recht gefesselt von den Mechanismen, die solche neuen Eigenschaften entstehen lassen, und insbesondere von den Prozessen, durch die sich neue Arten entwickeln. Die Wissenschaftsgebiete der Evolutionsbiologie und Ökologie beschäftigen sich im wesentlichen mit der Artbildung und den Wechselbeziehungen zwischen den Arten in Lebens­gemeinschaften. Die durchschnittliche Lebensdauer einer Tierart liegt bei vier Millionen Jahren, das heißt, in den 530 Millionen Jahren hätte eigentlich nur ein winziger Bruchteil der 30 Milliarden Arten aussterben dürfen. 


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Aus der Intuition heraus erscheint es naheliegend, daß das Gleichgewicht zwischen Artbildung und Aussterben für die Geschichte des Lebens auf der Erde von großer Bedeutung ist, aber das Thema Aussterben wurde von den Evolutionforschern bis vor kurzem fast überhaupt nicht beachtet.

Für dieses Desinteresse gab es mehrere Gründe, aber durch zwei zusammenwirkende Faktoren trat eine Änderung ein. Der erste war eine Vermutung, die vor etwas über zehn Jahren zum erstenmal geäußert wurde: Danach ging es mit den Dinosauriern zu Ende, weil vor 65 Millionen Jahren ein riesiger Asteroid mit der Erde kollidierte. Und zweitens wurde immer deutlicher, daß wir heute Zeugen eines Aussterbens von katastrophalen Ausmaßen werden, ausgelöst durch die Eingriffe des Menschen in die Ökosysteme. Der erste Grund regte die Phantasie durch seine unausweichliche Dramatik an, der zweite durch die wachsende Sorge um unsere Zukunft hier auf der Erde. Die jüngste Welle von Forschungsarbeiten zu diesem ältesten aller Lebensvorgänge hat die früheren Annahmen der Biologen über das Aussterben — seine Ursachen und, noch wichtiger, seine Auswirkungen — über den Haufen geworfen.

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit zwei Gesichtspunkten des Aussterbens, oder besser gesagt des Massenaussterbens, jener Phasen der Erdgeschichte, in denen ein bedeutender Teil der jeweils vorhandenen Arten ausgelöscht wurde. Erstens geht es um die Tatsache solcher Ereignisse, die von Darwin und anderen heftig geleugnet wurde. Und zweitens wird von den Ursachen dieses Massensterbens die Rede sein, einem Thema, über das es viele Diskussionen und wenig einhellige Meinungen gibt.

Im folgenden Kapitel werden noch zwei weitere Aspekte des Massenaussterbens erörtert: erstens seine Auswirkungen auf die Geschichte des Lebens und vor allem die Frage, wovon es abhängt, welche Arten zugrunde gehen und welche überleben, und zweitens das Nachspiel, das heißt die Reaktion der Lebensräume auf die Verminderung der Artenzahl. Bei aller Unsicherheit im Umfeld solcher Themen ist eines in den letzten Jahren sehr deutlich geworden: Das Massenaussterben, das früher als passiver Teil der Evolution galt, bestimmt in Wirklichkeit erheblich über ihren Ablauf mit.


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Wie in so vielen Fragen der Evolutionsbiologie, so hatten Darwins Gedanken auch beim Thema des Aussterbens tiefgreifenden Einfluß. In der Entstehung der Arten stellt er fest, daß es das Aussterben gibt, und meint dazu: »Niemand mochte sich mehr als ich über das Erlöschen der Arten wundern.«1 Er erkannte an dem Vorgang vier entscheidende Merkmale. 

Erstens hielt er es für einen stetigen, allmählichen Vorgang: »... haben wir genügend Grund zu glauben, daß Arten und Gruppenarten allmählich, eine nach der andern, verschwinden, erst von einem Ort, dann vom andern, und schließlich von der Erde.«2) Zweitens, so meinte er, verlaufe das Aussterben im wesentlichen immer mit der gleichen Geschwindigkeit. Im Gegensatz zu vielen Paläontologen seiner Zeit glaubte Darwin nicht, daß es Wellen des Massenaussterbens gibt: »Die alte Meinung, daß alle Bewohner der Erde durch Katastrophen in aufeinanderfolgenden Perioden fortgefegt worden wären, ist jetzt allgemein aufgegeben worden...«3)

Drittens sterben Arten nach seiner Ansicht aus, weil sie in irgendeiner Form ihren Konkurrenten unterlegen sind: »Die Theorie der natürlichen Zuchtwahl ist auf die Meinung begründet, daß jede neue Varietät und schließlich jede neue Art hervorgebracht und erhalten werde, indem sie einige Vorteile über andere, mit welchen sie in Mitbewerb tritt, erlangt; und daß folglich die minder begünstigten Formen unvermeidlich erlöschen müssen.«4) Und viertens sei das Aussterben ein untrennbarer Bestandteil der natürlichen Selektion, was auch aus dem vorausgehenden Zitat zu entnehmen ist. Er schrieb: »Das Erscheinen neuer Formen und das Verschwinden alter Formen ist daher... eng verbunden.«5)

Für die heutige wissenschaftliche Diskussion sind hier zwei Themen von zentraler Bedeutung: erstens die Vorstellung, daß Arten aussterben, weil sie im Wettbewerb versagen, und zweitens die Frage nach der Geschwindigkeit des Aussterbens über lange Zeiträume hinweg.

Darwins Gleichsetzung von Aussterben und schlechterer Anpassung entspringt eindeutig seiner Theorie der natürlichen Selektion und hat bis vor kurzem die Denkweise der Biologen tiefgreifend geprägt.


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Zu Darwins Zeit vertraten viele Paläontologen die Ansicht, es gebe in den Fossilfunden Anzeichen für plötzliche Wellen des Aussterbens, Krisen in der Geschichte des Lebens. Darwin meinte, solche Indizien für das Massenaussterben beruhten auf unvollständigen Fossilfunden — sie seien also eine Folge der Untersuchungen und spiegelten nicht die Wirklichkeit wider. Daß er darauf beharrte, das Aussterben müsse stetig und ohne starke Schwankungen ablaufen, hatte zwei Ursachen. 

Erstens ist die natürliche Selektion ein allmählicher Vorgang, und deshalb muß auch das Aussterben allmählich verlaufen, denn beide Prozesse sind gekoppelt. In dem zweiten Argument spiegelt sich der Uniformitarianismus wider, die damals gerade entstehende neue Lehrmeinung der Geologie. Es lohnt sich, dieses Thema ein wenig zu vertiefen, denn darin zeigt sich sowohl Darwins Voreingenommenheit in dieser Frage als auch die Voreingenommenheit vieler heutiger Paläontologen, wie sie sich in der Reaktion auf die Vermutung zeigte, ein Asteroideneinschlag könne das Verschwinden der Dinosaurier ausgelöst haben.

Daß es das Aussterben gibt, wies der französische Anatom Baron Georges Cuvier Ende des 18. Jahr­hunderts nach: Er zeigte, daß Mammutknochen sich von den Knochen der heutigen Elefanten unterscheiden. Daraus ergab sich zwangsläufig die Folgerung, daß die Spezies der Mammuts heute nicht mehr existiert. In eingehenden Untersuchungen der Fossilfunde aus dem Pariser Becken konnte Cuvier im weiteren Verlauf Perioden identifizieren, die er für Krisen oder Katastrophen der Erdgeschichte hielt, weil zahlreiche Arten in sehr kurzer Zeit ausgestorben waren. Seine Beobachtungen waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Anlaß für umfangreiche geologische Untersuchungen. Dabei fand man Phasen mit offenbar größeren Veränderungen, die verschiedene geologische Epochen gegeneinander abgrenzten. Den Epochen gab man die Namen Kambrium, Ordivizium, Silur, Karbon, Perm, Trias, Jura, Kreide, Paläozän, Eozän, Oligozän, Miozän, Pliozän, Pleistozän und Holozän. 

Diese Namen — die Geologiestudenten fluchen darüber und haben höchst phantasievolle Eselsbrücken erfunden, um sie zu lernen — sind bis heute ein Teil der geologischen Zeittafel.


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Cuvier wies auf zwei Ereignisse hin, die er für besonders verheerende Katastrophen hielt, sie unterteilen die Geschichte des vielzelligen Lebens, auch Phanerozoikum genannt, in drei Abschnitte das Paläozoikum (»altes Leben«) vor 530 bis 225 Millionen Jahren, das Mesozoikum (»mittleres Leben«) vor 225 bis 65 Millionen Jahren, und das Känozoikum (»modernes Leben«) von der Zeit vor 65 Millionen Jahren bis zur Gegenwart In Gesprächen mit Geologen hört man häufig einen sinnesverwirrenden Schwall von Bezeichnungen für Epochen und Perioden, denn in diesem Fachgebiet gelten sie wie für Cuvier als echte Anzeichen für die Geschichte des Lebens Zu Cuviers Zeit gab es natürlich noch keine Evolutionstheorie, und deshalb sah er in den Katastrophen Einzelereignisse, die das bestehende Leben auslöschten und Platz für eine neue Welle der Schöpfung schufen Für ein solches Ereignis hielt man auch die biblische Sintflut, insgesamt schätzte man die Zahl der Krisen auf etwa 30 Cuviers Prinzip wurde unter dem Namen Katastrophentheorie bekannt

Aber schon bevor es Darwins Theorie gab, geriet die Katastrophentheorie unter Beschuß. Der Vorreiter dieser Denkschule war der schottische Geologe Charles Lyell, er folgte einem Weg, den zuvor bereits sein Landsmann James Hutton gebahnt hatte. Anfang der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts veröffentlichte Lyell seine dreibändigen Principles of Geology, dann vertrat er die Ansicht, die heute zu beobachtenden geologischen Vorgange — Erosion durch Wind und Regen, Erdbeben, Vulkanausbrüche und so weiter — seien für alle geologischen Veränderungen der Erdgeschichte verantwortlich. 

Er leugnete auch das Massenaussterben der Arten: »Es steht uns nicht zu uns auf außergewöhnliche Ursachen zu berufen«, um scheinbar tiefgreifende Veränderungen in der Erdgeschichte zu erklären, meinte er. In langen Zeiträumen, so seine Argumentation, komme es durch Ansammlung kleiner Veränderungen zu großen Wirkungen. Lyells Lehre verkörperte sich in dem Satz »Die Gegenwart ist der Schlüssel zu Vergangenheit«. Danach können wir aufgrund unserer eigenen Erfahrungen auch die Ereignisse und Entwicklungen früherer Zeiten verstehen.


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Diese Behauptung enthält aber einen logischen Fehler. Die menschlichen Erfahrungen mit dem geologisch Möglichen sind sehr eingeschränkt, denn es gibt uns erst seit kurzer Zeit, und es ist höchst unwahrscheinlich, daß wir bereits Zeugen aller geologischen Vorgänge geworden sind, die unsere Erde formen können

Lyells Prinzip wurde unter dem Namen Uniformitarianismus bekannt, zwischen ihm und der Katastrophen­theorie tobte eine Zeitlang eine heftige intellektuelle Auseinandersetzung Daraus ging der Uniformitarianismus eindeutig als Sieger hervor, und die Katastrophentheorie wurde aus der geistigen Arena verbannt Sie galt jetzt als Überbleibsel einer veralteten Denkweise, die, so die unausgesprochene Annahme, eher von Religion als von wissenschaftlichen Erwägungen bestimmt wurde.

Für Darwin lieferte der Aufstieg des Uniformitarianismus die Grundlagen für seine eigene gradualistische Theorie in der Biologie. Auch bei der natürlichen Selektion sammeln sich kleine Veränderungen über lange Zeit hinweg an, und das führt zu großen entwicklungsgeschichtlichen Verschiebungen. Und wie Lyell, der die Vorstellung von erdgeschichtlichen Katastrophen als Berufung auf »außergewöhnliche Ursachen« abgelehnt hatte, so wies auch Darwin die Idee von Krisen in der Geschichte des Lebens als Berufung auf übernatürliche Kräfte nach Art der Katastrophentheorie zurück. Er hatte sich lange damit herumgeschlagen, die hervorragende Anpassung der Lebensformen an ihre Umwelt nicht mehr mit übernatürlichen Kräften, sondern mit natürlichen Vorgängen zu erklären. Deshalb lehnte er alles ab, was so nach Übernatürlichem roch wie das plötzliche Verschwinden von Millionen Arten, gefolgt von einer Welle der Neuschöpfung.

Damit war die Katastrophentheorie in akademischen Kreisen vom Tisch, aber die Vorstellung von den entsprechenden Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte des Lebens hielt sich hartnäckig. Je mehr die Geologen und Paläontologen in alten Lagerstätten herumkletterten und Überreste des Massenaussterbens fanden, desto mehr wuchs ihre Überzeugung, daß von Zeit zu Zeit Katastrophen stattgefunden hatten.


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Alle Kulturkreise haben Mythen über die Entstehung der Erde. Hier sieht man den chinesischen Schöpfer Pan-Kou-Ché, einen schmächtigen alten Mann, dem seine Arbeit viel Muhe macht. Schwitzend modelliert er die Erdkruste aus einer formlosen Felsmasse.


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Als die Fossilfunde vollständiger wurden und die von Darwin beklagten Lücken sich nach und nach füllten, wurden die Indizien für gelegentliche Krisen immer überzeugender. Die Erdgeschichte ist offenbar keine Geschichte des allmählichen Fortschreitens, wie Lyell und Darwin es sich so glühend gewünscht hatten, sondern ein Ablauf mit vereinzelten heftigen Umwälzungen. Manche davon waren von eher mäßigem Umfang und führten zum Verschwinden von 15 bis 40 Prozent der meeresbewohnenden Tierarten; einige andere aber waren viel großer.

Die Ereignisse dieser letzten Gruppe, die sogenannten »Großen Fünf«, waren biologische Krisen, in denen mindestens 65 Prozent aller Arten in einem Augenblick der geologischen Zeitrechnung ausstarben. Bei einem davon, am Ende der Permzeit und des Paläozoikums, verschwanden nach den Berechnungen über 95 Prozent der meeresbewohnenden Arten. Der Geologe David Raup von der Universität Chicago meint über das Aussterben am Ende des Perm: »Wenn diese Schätzungen auch nur einigermaßen genau sind, entkam das Leben auf der Erde, zumindest was die höheren Organismen betrifft, damals gerade noch seiner totalen Vernichtung.«6

Viele der großen Veränderungen in der Erdgeschichte leitet man aus den Fossilfunden von Meerestieren ab, und das hat einen guten Grund: Diese Versteinerungen sind viel vollständiger als die von Landbewohnern. (Knochen werden im Schlick schneller zugedeckt, und damit ist der erste Schritt zum Fossil getan. An Land werden die Kadaver von Aasverwertern auseinandergerissen und von Tierherden zertrampelt, oder sie liegen jahrhundertelang in der heißen, trockenen Luft, so daß sie zu Staub zerfallen und nicht unversehrt in den Sedimenten begraben werden.) 

Zwar lebten früher wahrscheinlich genau wie heute zehn- bis hundertmal mehr Arten an Land als im Meer, aber bei 95 Prozent der etwa 250.000 Arten, die man aus Fossilfunden kennt, handelt es sich um Meeresbewohner. Daran wird deutlich, was wir für ein schlechtes Bild von den landbewohnenden Arten früherer Zeiten haben. Als Massenaussterben bezeichnen die Paläontologen eine Welle des Artensterbens aber nur dann, wenn sich die Katastrophe an den Fossilien der Meeres- und Landbewohner nachweisen läßt, denn das deutet auf ein Ereignis von globalen Ausmaßen hin.


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Betrachtet man alle erkennbaren Hinweise auf die Vielfalt des Lebens auf der Erde, das heißt die Zahl der Arten, die es zu dem jeweiligen Zeitpunkt gab, so findet man anfangs im Kambrium einen sehr niedrigen Wert, der später ansteigt und in der Gegenwart seinen Höhepunkt hat Darwin glaubte, dieser Anstieg sei stetig verlaufen, aber das stimmt nicht. Die Großen Fünf waren tiefgreifende Einschnitte, die zu einem gefährlich starken Ruckgang der Artenvielfalt führten. Die Kurve der Artenzahl ist also keine gerade Linie, die (der üblichen Darstellung der Zeitskala folgend) von links nach rechts ansteigt, sondern sie ist gezackt wie ein Sageblatt In der zeitlichen Reihenfolge spielten sich diese wenigen größeren Ereignisse in folgenden Phasen ab am Ende des Ordoviziums (vor 440 Millionen Jahren), im späten Devon (vor 365 Millionen Jahren), am Ende des Perm (vor 225 Millionen Jahren), am Ende des Trias (vor 210 Millionen Jahren) und am Ende der Kreidezeit (vor 65 Millionen Jahren).

 

Den Paläontologen war von vornherein klar, daß es sich bei diesen Krisen des Lebens nicht nur um Unterbrechungen im Strom der Entwicklung handelte, bei jedem dieser Ereignisse änderte sich der Charakter der ökologischen Gemeinschaften, und zwar manchmal sogar sehr tiefgreifend. (Deshalb glaubte Cuvier, er habe die Ergebnisse neuer Wellen der Schöpfung vor sich.) Die bekannteste derartige Verschiebung war natürlich die am Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren, die an Land der 140 Millionen Jahre währenden Vorherrschaft der Dinosaurier ein Ende machte. 

In der dann folgenden Zeit des Kanozoikums wurden die Saugetiere an Land zur dominierenden Wirbeltier­gruppe Ganz ähnlich versetzte das Aussterben am Ende des Perm den säugetierähnlichen Reptilien, die das Leben an Land 80 Millionen Jahre lang beherrscht hatten, beinahe den Todesstoß. Davon erholten sie sich nie, und bald darauf nahmen die Dinosaurier ihren Platz ein. Das Massenaussterben verlief immer nach dem gleichen Muster, aber hier ist nicht der Ort, um die Veränderungen der Tierwelt an Land und im Meer im einzelnen zu betrachten.

Zu diesem Zweck sollte man Bücher über Paläontologie befragen. Für unser Thema ist nur die Regelmäßig­keit der Aussterbeereignisse von Bedeutung.


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Geologische Zeitabschnitte (Millionen Jahre)

In der Geschichte des Lebens ging die vorhandene biologische Vielfalt fünfmal durch Massenaussterben drastisch zurück. Trotz dieser vorübergehenden Krisen nahm die Vielfalt insgesamt immer mehr zu, bis sie kurz vor der Jetztzeit einen Höhepunkt erreichte (Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von David Raup und Jack Sepkoski.)

 

Wenn man die Geschichte des Lebens als Schauspiel betrachtet, dessen Bühne der Planet Erde ist, erkennt man immer wieder Pausen, in denen neue Mitwirkende die Szene betreten. Manche Rollen, die zuvor wichtig waren, verschwinden ganz oder treten in den Hintergrund, andere werden von Neben- zu Hauptrollen, und gleichzeitig treten ganz neue Personen auf, so daß sich ein Effekt der ständigen Veränderung wie bei Alice im Wunderland ergibt.


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Grundsätzliche Besetzungsänderungen führen im Theater zwangsläufig zu grundlegenden Veränderungen der Handlung, und genauso verhält es sich auch in der Erdgeschichte. Der Homo sapiens gehört zu einer Besetzung, die durch die Umwälzungen des letzten Massenaussterbens am Ende der Kreidezeit beeinflußt wurde.

Eine Frage, auf die sich das Interesse in den letzten Jahren konzentrierte, lautet: Inwieweit laßt sich die Besetzungsänderung vorhersagen? Oder mit anderen Worten: Was bestimmt darüber, welche Arten überleben und welche im Zuge des Massenaussterbens zugrunde gehen? Mit diesem Thema werde ich mich im nächsten Kapitel auseinandersetzen. Hier möchte ich mich zunächst der Frage zuwenden, wie es überhaupt zu solchen Krisen kommt. Was sind die Ursachen des Massenaussterbens?

 

Der Satiriker Will Cuppy hatte darauf eine Antwort, zumindest für die Dinosaurier. In seinem 1941 erschienen Buch How to Become Extinct (»Wie man ausstirbt«) schrieb er: »Das Zeitalter der Reptilien ging zu Ende, weil es lange genug gedauert hatte und weil es ohnehin von vornherein ein Fehler gewesen war.« Möglicherweise hat er damit den springenden Punkt getroffen; jedenfalls schreckten Evolutions­forscher und Paläontologen lange davor zurück, eine Erklärung für die Ursachen des Massenaus­sterbens zu suchen, einfach weil man das Thema für zu kompliziert hielt.

An Vermutungen über die Ursachen des Massenaussterbens gab es im Laufe der Jahrzehnte keinen Mangel; manche davon, so eine angeblich tödliche Wirkung von Supernovae, die in der Nähe explodierten, waren höchst unwahrscheinlich. Es gab jedoch auch ernstzunehmende Hypothesen, so zum Beispiel die von globaler Abkühlung, sinkendem Meeresspiegel, natürlichen Feinden und Konkurrenz unter den Arten. Für jede dieser Vermutungen kann man Argumente anführen, und jede hatte ihre überzeugten Fürsprecher. Sie alle haben jedoch eine gemeinsame Eigenschaft, die nach Ansicht von David Raup jenseits der wissenschaftlichen Plausibilität liegt.


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Die Geschichte des Lebens reicht insgesamt bis zum Auftauchen der ersten Einzeller vor über 3,5 Milliarden Jahren zurück. Die wichtigen Phasen der Evolution lassen sich in die geologischen Einteilungen der Eonen, Aren, Perioden und Epochen fassen. 

Während der großen Ereignisse des Massenaussterbens (hier durch Blitze symbolisiert) ging die biologische Vielfalt stark zurück.

(Nachdruck mit Genehmigung der Verleger von The Diversity of Life von Edward O Wilson; Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, © 1992 by Edward O. Wilson.)62 Zeit und Wandel

 


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In seinem 1992 erschienenen Buch Ausgestorben: Zufall oder Vorsehung? schreibt er: »Ich sehe hier mehrere Hinweise auf Anthropomorphismen... Könnte es sein, daß die Liste möglicher Gründe für das Aussterben nichts anderes ist als eine Auflistung der Dinge, die uns als Einzelpersonen bedrohen?«7 Es stimmt sicher, daß das Aussterben für uns etwas Gruselig-Faszinierendes hat, denn wenn Arten oder Artengruppen wie die Dinosaurier, die über Jahrmillionen hinweg erfolgreich waren, in entwicklungs­geschichtliche Vergessenheit geraten können, wie steht es dann mit dem Homo sapiens?  

Sind wir ebenfalls bedroht? Viele Ansichten, die in der Diskussion über das Aussterben eine wichtige Rolle spielen, spiegeln nicht nur wissenschaftliche, sondern auch emotionale Standpunkte wider.

Beim Vergleich der globalen Umweltbedingungen während der fünf großen Aussterbeereignisse fiel auf, daß in allen Fällen der Meeresspiegel sank oder die Ozeane kleiner wurden. Ein solcher Rückgang kann mehrere Gründe haben, beispielsweise eine starke Vereisung der Polgebiete oder Veränderungen in der Gestalt der Kontinente, die sich mit den tektonischen Platten der Erdkruste verschieben. Auf die Lebewesen in flachen Meeresteilen hat so etwas tiefgreifende Auswirkungen. Wenn der Meeresspiegel sinkt, werden die Kontinentalschelfe freigelegt, so daß den im Flachwasser lebenden Arten weniger Lebensraum zur Verfügung steht. Der Zusammenhang zwischen verfügbarem Lebensraum und Artenzahl ist den Biologen gut bekannt, und er ist einfach: Je weniger Fläche vorhanden ist, desto weniger Arten können darauf leben. 

Das Schrumpfen der Meere wäre also ein plausibler Auslöser für das Massenaussterben, nur muß ein solches Ereignis definitionsgemäß nicht nur die Lebensformen im flachen Wasser in Mitleidenschaft ziehen, sondern auch die Arten in der Tiefsee und an Land. Wie der Paläontologe Paul Wignall von der Universität Leeds in England allerdings im Zusammenhang mit dem Aussterben am Ende des Perm deutlich gemacht hat, besteht möglicherweise auch eine Verbindung zwischen dem Absinken der Meere und dem Massensterben an Land.

Wie bereits erwähnt, verschwanden am Ende des Perm über 95 Prozent der meeresbewohnenden Tierarten und fast ebenso viele an Land. Was auch zu jener Zeit vorgegangen sein mag, es muß äußerst wirksam gewesen sein. 


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Das Ende des Perm fällt in eine Zeit, als alle Kontinente der Erde durch die Kontinental­verschiebung aufeinander zutrieben und einen einzigen, von Pol zu Pol reichenden Superkontinent namens Pangäa bildeten. Schon das allein führte zu einer Schrumpfung des Lebensraumes für Flachwasserbewohner. Man stelle sich vier Quadrate mit jeweils einem Zentimeter Kantenlänge vor; die Gesamtlänge der Kanten beträgt vier Zentimeter für jedes Quadrat und 16 Zentimeter für alle vier Quadrate. Legt man nun die Quadrate zu einem größeren Quadrat mit zwei Zentimetern Kantenlänge zusammen, stehen insgesamt nur noch Kanten von acht Zentimetern zur Verfügung, die Hälfte des ersten Wertes. Das gleiche geschieht mit Kontinenten und Lebensräumen im flachen Wasser. Die Entstehung von Pangäa allein muß also, wie Stephen Jay Gould vor einigen Jahren argumentierte, für die Arten in diesen Lebensräumen verheerend gewesen sein.

Nimmt man dann noch das Absinken des Meeresspiegels hinzu, müssen die Arten in diesen empfindlichen Lebensräumen tatsächlich eine Katastrophe erlebt haben. Nach Wignalls Vorstellung waren die freigelegten, trockenen Kontinentalschelfe außerdem der Erosion ausgesetzt, und organisches Material, das zuvor am Meeresboden lag, konnte oxidieren. Die umfangreiche Oxidation entzog der Atmosphäre Sauerstoff und reicherte sie statt dessen mit Kohlendioxid an. Dabei könnte der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre auf die Hälfte des heutigen Wertes abgesunken sein. Auf eine solche Veränderung der Luftzusammensetzung reagierten die Landtiere und vor allem die sehr aktiven Wirbeltiere empfindlich. Am Ende des Perm stieg der Meeresspiegel dann plötzlich wieder an, was nicht nur die Lebensräume an Land schrumpfen ließ, sondern auch durch einen ungeklärten Mechanismus zu einem Rückgang des Sauerstoffgehalts im Meerwasser führte. Infolgedessen, so Wignall, »ist das Massenaussterben zwischen Perm und Trias offenbar eine Geschichte über den Erstickungstod von Land- und Meeresbewohnern«.8


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Douglas Erwin von der Smithsonian Institution ist ebenfalls der Ansicht, daß an diesem größten Massen­aus­sterben mehrere Ursachen beteiligt waren: Es sei »kein einzelner Mechanismus, sondern ein Ursachengeflecht« gewesen.9 Neben dem Rückgang und der Verschiebung der Meere nennt er Klimaschwankungen, ausgelöst sowohl durch die Entstehung des Superkontinents als auch durch das Kohlendioxid aus einer riesigen Lavaexplosion, die in Sibirien in der Nähe des Baikalsees eine Fläche aus Vulkangestein mit einem Durchmesser von 1300 Kilometern entstehen ließ. 

Ich erwähne diese Erklärungen nicht, weil ihr Wahrheitsgehalt erwiesen wäre, sondern um deutlich zu machen, wie kompliziert die Ereignisse sind, die Arten in großem Umfang aussterben lassen. Noch eine letzte Bemerkung zum Rückgang der Meere und seine mögliche Rolle als Ursache des Massenaussterbens: Umfangreiches Aussterben war oft, aber nicht immer mit einem Absinken des Meeresspiegels verbunden, und nicht immer, wenn der Meeresspiegel sinkt, kommt es zum Massenaussterben. Es müssen eindeutig auch andere Faktoren beteiligt sein.

Der zweite beliebte Kandidat als Vorbote des Massensterbens ist eine weltweite Klimaveränderung, insbesondere eine globale Abkühlung. Nach Ansicht des Paläontologen Steven Stanley von der Johns Hopkins University sind Klimaschwankungen die wichtigste Ursache von Krisen in der Geschichte des Lebens. Stanley, der das Artensterben bei den Flachwasserbewohnern Nordamerikas eingehend untersucht hat, hält eine Abkühlung des Klimas für die Hauptursache. Sie wirkt nach einem einfachen, unmittelbaren Mechanismus und hat als Erklärung den Vorteil, daß sie land- und meeresbewohnende Arten gleichermaßen in Mitleidenschaft zieht. Stanley schreibt: »Es gibt eine einfache Tatsache, die Klimawechsel als allgemeine Auslöser von Massenuntergängen wahrscheinlich macht: die Leichtigkeit, mit der eine weltweite Temperatur­veränderung Myriaden von Arten ausrotten kann.«

Arten sind an die Lebensbedingungen ihrer Umgebung angepaßt, so an die verfügbaren Nahrungsquellen und an die Temperatur, ob sie nun polar, gemäßigt oder tropisch ist. Kühlt die Erde ab, schrumpfen die Lebensräume (soweit sie durch den Temperaturbereich bestimmt werden) in Richtung der Tropen zusammen. 


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Die globale Temperatur war in der Erdgeschichte immer wieder plötzlichen, umfangreichen Schwankungen unterworfen, und die Lebewesen reagieren auf solche Veränderungen in der Regel mit Wanderungen: Sie folgen dem wechselnden Klima und bewegen sich in Phasen der Abkühlung auf den Äquator zu, bei Erwärmung dagegen von ihm weg. Diesen Effekt erkennt man ausgezeichnet an Landkarten, welche die Waldbedeckung Nord- und Südamerikas während der letzten 20.000 Jahre zeigen — in dieser Zeit wechselte das Klima von einer Eiszeit zur derzeitigen Zwischeneiszeit. Die Wälder am Amazonas waren anfangs nur verstreute Waldflecken, und die Laub- und Nadelwälder Nordamerikas waren nach Süden gewandert. Als das Eis sich zurückzog, erweiterten sich die Waldgebiete am Amazonas, bis sie zusammenwuchsen, und in Nordamerika begannen Eiche und Lärche ihren Siegeszug nach Norden, auf den Spuren von Nadelbäumen.

Solche Wanderungsbewegungen, bei denen sich zahlreiche Lebensräume verschieben, sind niemals einfach; die Arten zerstreuen sich in verschiedene Richtungen und bilden später neue, anders zusammengesetzte Lebens­gemeinschaften. Dennoch zeigt sich an diesem Phänomen deutlich, daß Arten bei Klimaveränderungen wandern müssen. Wenn sie können. Manchmal wandelt sich das Klima so schnell oder so stark, daß die Arten sich nicht darauf einstellen können; und manchmal versperren auch Flüsse, Gebirge oder andere geographische Hindernisse den einzigen Weg. In solchen Fällen ist das Aussterben die wahrscheinlichste Folge. Zu umfangreicher Vereisung kam es in der Erdgeschichte immer wieder, und sie war manchmal, aber nicht immer, von Massenaussterben begleitet. Die globale Abkühlung war also zweifellos bei vielen Krisen des Lebens ein wichtiger Faktor, aber sie kann nicht, wie Stanley meint, stets die wichtigste Ursache gewesen sein.

Rückgang der Meere und globale Klimaveränderungen sind nur zwei von vielen möglichen direkten Ursachen des Aussterbens, aber sie dürften die wichtigsten sein. In beiden Fällen kann der direkte Auslöser aber die Folge unterschiedlicher indirekter Ursachen sein, beispielsweise einer Veränderung in der Konvektion im Erdmantel, in der Lage der tektonischen Platten in der Erdkruste, in der Umlaufbahn der Erde um die Sonne und so weiter.


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Alle diese direkten und indirekten Mechanismen liegen im Erfahrungsbereich der Menschen oder in der jüngeren Erdgeschichte und werden deshalb von denjenigen Paläontologen bevorzugt, die sich die Mühe gemacht haben, überhaupt über das Aussterben nachzudenken. Die uniformitarische Lehrmeinung herrschte unangefochten. Deshalb war es mehr als nur eine kleine Überraschung, als ein Physiker, ein Geologe und zwei Chemiker 1979 eine neue Vermutung äußerten: Danach ging das Massenaussterben mindesten in einem Fall, nämlich am Ende der Kreidezeit, auf einen Asteroiden oder Kometen zurück, der auf die Erde gestürzt war. Die hoch in die Atmosphäre geschleuderten Staub- und Trümmerteile, so diese Theorie, verdunkelten die Erde praktisch völlig, so daß das pflanzliche Leben, auf das die Tiere angewiesen waren, zugrunde ging. Erwartungsgemäß reichten die Reaktionen der Paläontologen, wie Gould später berichtete, »anfangs von Skepsis bis zu Hohn und Spott«.11)

 

Die Geschichte wurde schon oft erzählt, deshalb möchte ich mich kurz fassen und neben den wissenschaftlichen auch die gesellschaftlichen Kernpunkte nennen.

Ende der siebziger Jahren untersuchte ein Geologenteam der University of California in Berkeley unter Leitung des Physikers Luis Alvarez mit chemischen Methoden die Ablagerungs­geschwindigkeit in verschiedenen Sedimentgesteinen. Als sie in den Apenninen Umbriens in Italien sowie in Dänemark arbeiteten, fanden sie zu ihrer Überraschung in einer dünnen Tonschicht, die das Massenaussterben am Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren kennzeichnet, ungewöhnlich große Mengen des reaktionsträgen Schwermetalls Iridium. Dieses Element war in der Frühgeschichte der Erde, als das Gestein zum größten Teil geschmolzen war, wegen seiner hohen Masse ins Erdinnere gesunken; in der Erdkruste und im Kontinentalgestein kommt es deshalb nur in sehr geringen Mengen vor. Iridium ist aber ein wichtiger Bestandteil von Meteoriten.


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Alvarez und seine Kollegen zählten zwei und zwei zusammen und verblüfften die Paläontologengemeinde: Das Ereignis am Ende der Kreidezeit, so ihre Aussage, wurde durch den Einschlag eines Asteroiden auf der Erde ausgelöst.

Aus der gemessenen Iridiummenge berechneten die Wissenschaftler aus Berkeley den Durchmesser des Asteroiden mit etwa elf Kilometern. Eine solche Kollision hätte eine gewaltige Energiemenge freigesetzt — sie wäre einige Milliarden Male größer gewesen als die der Hiroshimabombe. Der Einschlag hätte einen Krater von etwa 150 Kilometern Durchmesser entstehen lassen, und dabei wären so viele Trümmer in die Atmosphäre geschleudert worden, daß sie die Sonne verdunkelt und die Erde in ewige Nacht getaucht hätten. Die Dauer der Dunkelheit berechneten Alvarez und seine Kollegen anfangs auf mehrere Jahre, aber später korrigierten sie die Schätzung auf einige Monate. Aber auch das hätte noch ausgereicht, um das pflanzliche Leben an Land und im Meer weitgehend zu zerstören; und die Tiere, die nun einmal letztlich von den Pflanzen abhängig sind, hätten das gleiche Schicksal erlitten.

 

Alvarez' Veröffentlichung, die im Juni 1980 in der Fachzeitschrift Science erschien, war der Anlaß für eine ganze Welle von Tagungen und wissenschaftlichen Artikeln über den Asteroideneinschlag. Die Diskussion verlief nicht immer ruhig, und das hatte einen guten Grund: »Ein Stein, der vom Himmel fällt, ist der Masse der Geologen ein Greuel«, sagt David Raup, der für die Vertiefung und Erweiterung der Geschichte eine wichtige Rolle spielen sollte. Diesen Geologen, so meint er, »hat man beigebracht, daß man eine solche Erklärung von Naturereignissen mit einem deus ex machina vermeiden sollte, weil sie eine Rückkehr zum Mystizismus der wissenschaftlichen Frühzeit darstellt«.12)

Um zu sehen, daß es im Sonnensystem Asteroideneinschläge gibt, braucht man nur ein Fernglas zu nehmen und den Mond zu betrachten. Sein pocken­narbiges Gesicht legt von dieser Tatsache beredtes Zeugnis ab. Und wenn der Mond bombardiert wurde, muß es der Erde genauso ergangen sein. 

Allerdings sind die Indizien für solche Einschläge hier viel schwerer zu erkennen; das liegt zum einen daran, daß zwei Drittel unseres Planeten von Meeren bedeckt sind, so daß Krater, die dort entstehen, kaum zu finden sind und durch die Ausdehnung des Meeresbodens irgendwann im Erdinneren verschwinden.

 

* OD, 2010:  deus ex machina --  


Zeit und Wandel   68

Und zum anderen sind Krater, die an Land entstehen, der Erosion ausgesetzt, so daß sich ihre anfangs kraß ausgeprägte Form allmählich verwischt. Dennoch kennt man etwa ein Dutzend große Einschlagkrater, beispielsweise den Manicouga-Krater in Quebec (Durchmesser 130 Kilometer), den Siljan-Krater in Schweden (65 Kilometer) und den Popigai-Krater in der früheren Sowjetunion. An der Tatsache, daß Einschläge stattgefunden haben, gibt es nichts zu deuteln.

Dennoch mußte man mehrere eindeutige Indizien sammeln, bevor selbst die aufgeschlossensten Fachleute den Gedanken ernst nahmen, ein solcher Einschlag könne das Massenaussterben ausgelöst haben. Erstens mußte man dazu an allen Stellen, an denen Sedimente vom Ende der Kreidezeit freilagen, erhöhte Iridium­konzentrationen finden. Man fand sie; bis heute hat man über 100 solche Stellen aufgespürt. Zweitens sollten auch andere Hinweise auf einen großen Einschlag nachzuweisen sein. Auch das gelang: Man fand winzige glasartige Kügelchen, die sich bei sehr hohen Druck- und Temperaturwerten aus den Mineralien im Gestein bilden; solche Gebilde kennt man von 71 Stellen auf der ganzen Welt. Ein weiterer Hinweis auf einen Einschlag ist der sogenannte geschockte Quarz, dessen Kristalle durch plötzlichen Druck entstandene Bruchlinien zeigen. Geschockten Quarz hat man bisher an etwa 30 Stellen auf der Erde entdeckt.

Der unmittelbarste Beweis wären natürlich Spuren eines Asteroideneinschlags am Übergang von der Kreide- zur Tertiärzeit. Wie ich bereits angedeutet habe, liegt die Einschlagstelle mit großer Wahrscheinlichkeit im Meer, so daß wir nur geringe Aussichten haben, sie zu finden. An Land ist die Manson-Struktur im US-Bundesstaat Iowa ein Kandidat. Sie hat das richtige Alter, ist aber mit einem Durchmesser von nur 30 Kilometern wahrscheinlich zu klein. Paläontologen und Geologen haben mehrere mittelgroße Krater identifiziert, die das richtige Alter hätten, einige davon in Nordamerika, andere in Asien. 


Die Großen Fünf   69

Dann, im Juni 1990, genau zehn Jahre nach Alvarez' erster Veröffentlichung, verbreitete sich in der Geologen­gemeinde eine wichtige Neuigkeit: Man hatte nahe der Nordwestspitze der mexikanischen Halbinsel Yucatán einen gewaltigen Krater entdeckt. Er wurde auf den Namen Chicxulub-Krater getauft und zwei Jahre später von einem Geochronologenteam aus Berkeley datiert; geleitet wurden diese Arbeiten von Garniss Curtiss, der Anfang der sechziger Jahre zusammen mit Louis Leakey, meinem Vater, neue Datierungsmethoden für alte menschliche Fossilien entwickelt hatte. Danach war der Chicxulub-Krater vor 65 Millionen Jahren entstanden, genau zur Zeit des Massenaussterbens am Ende der Kreidezeit. Das ließ zusammen mit der Entdeckung mehrerer weiterer, kleiner Krater gleichen Alters darauf schließen, daß damals vielleicht ein Hagel von Asteroiden oder Asteroidenbruchstücken auf der Erde niedergegangen war.

 

Der Bericht in Science über die Datierung des Chicxulub-Kraters führte dazu, daß auch einige frühere Skeptiker nun die These vom Asteroideneinschlag unterstützten. So schrieb beispielsweise William Clemens, ebenfalls aus Berkeley, in einem Kommentar, der zusammen mit dem Artikel erschien: »Wir haben die Häufigkeit der Kraterentstehung eindeutig unterschätzt... Solche Einschläge sind ein Teil der Umweltbedingungen in [den letzten 600 Millionen Jahren].«13 Aber obwohl Clemens wie viele frühere Skeptiker nun die Vorstellung von einem Asteroideneinschlag am Ende der Kreidezeit anerkannte, war er nicht unbedingt der Ansicht, dies sei die alleinige Ursache des Aussterbens gewesen. In demselben Kommentar zitierte er Anthony Hallam, einen Paläontologen der University of Birmingham in England, mit den Worten: »Ich akzeptiere vielleicht die Geschichte vom Einschlag, aber ich glaube, es war vor allem der Gnadenstoß. Ein Massenaussterben hätte es nach meiner Überzeugung im marinen Bereich auch ohne den Einschlag gegeben.«14

Daß der Gedanke vom Asteroideneinschlag sich auch bei denen durchsetzte, die ihn anfangs abgelehnt hatten, war ein gewisser Fortschritt, denn er schlug eine Bresche in den strengen Lyellschen Uniformitarianismus. 


Zeit und Wandel  70

Für die Geologen war es ein großer theoretischer Durchbruch, Katastrophen als normalen Bestandteil der Erdgeschichte anzuerkennen. Seit den ersten Anfängen der Diskussion argumentierte allerdings eine Gruppe von Paläontologen und Geologen recht lautstark, alle sogenannten Hinweise auf einen Asteroideneinschlag — hohe Iridiumkonzentrationen, Glaskügelchen und geschockter Quarz — könnten auch auf umfangreiche Vulkanaktivität zurückgehen. An der Grenze am Ende der Kreidezeit findet man manchmal Vulkanasche, und es gibt auch Belege, daß vor 65 Millionen Jahren gewaltige Mengen an flüssiger Basaltlava aus dem Erdinneren nach außen gequollen sind. Ein Beispiel sind die Deccan-Stufen in Indien, eine Reihe gewaltiger Ebenen, die wie eine Treppe angeordnet sind. In jüngster Zeit wurde auch vermutet, Asteroideneinschlag und Vulkanaktivität könnten zusammenhängen: Die Energie des Einschlags könnte sich ins Erdinnere fortgepflanzt und so auf der anderen Seite der Erdkugel Vulkanausbrüche ausgelöst haben. Eine solche ursächliche Verbindung würde sowohl den Chicxulub-Krater als auch die Vulkanformationen von Deccan erklären.

Zwar dauert die Debatte immer noch an, aber es sieht stark danach aus, als habe ein Asteroiden- oder Kometeneinschlag das Massensterben am Ende der Kreidezeit verursacht oder zumindest erheblich dazu beigetragen. Die Vorstellung, der Einschlag sei nur ein »Todesstoß« gewesen, gründet sich auf die Annahme, daß das Leben schon vorher in Schwierigkeiten war. Die Behauptung von Alvarez und seinen Kollegen stieß auf die Gegenbehauptung, die Dinosaurier und Ammonoideen — die bekanntesten Opfer der Tragödie an Land und im Meer — seien ohnehin stark im Rückgang begriffen gewesen. Wie man jedoch in jüngster Zeit nachweisen konnte, ist das eine Verfälschung durch die Fossilfunde. Den Dinosauriern und Ammonoideen ging es bis zu dem Einschlag gut. Anzeichen für eine Abnahme gibt es allerdings bei einigen anderen Gruppen, insbesondere bei manchen Meeresbewohnern. Und da die Meere damals ohnehin schrumpften, ist das vielleicht nicht verwunderlich. Die Behauptung, größere Krisen des Lebens entstünden durch das Zusammentreffen mehrerer schädlicher Wirkungen, zu denen auch der Einschlag von Kometen und Asteroiden gehören kann, erscheint völlig vernünftig. Das Massenaussterben ist mit Sicherheit ein komplexer Vorgang.


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Ein etwa 65 Millionen Jahre alter Krater auf der Halbinsel Yucatán ist ein deutlicher Hinweis auf den Asteroiden­einschlag, der das Aussterben am Ende der Kreidezeit verursachte.


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Während Geologen und Paläontologen sich noch schwertaten, die Vorstellung vom Asteroiden- oder Kometeneinschlag als Auslöser des Massensterbens am Ende der Kreidezeit zu akzeptieren, bot man ihnen eine weitere Pille an, die noch schwerer zu schlucken war. Auf der Grundlage von Berechnungen, für die sie eine neu zusammengestellte Datenbank über fossile Meerestiere verwendet hatten, äußerten die Geologen David Raup und Jack Sepkoski 1984 die Vermutung, die etwa 20 Aussterbeereignisse des Phanerozoikums, darunter auch die Großen Fünf, seien in regelmäßigen Abständen von ungefähr 26 Millionen Jahren eingetreten. Für eine solche Regelmäßigkeit, so ihre Ansicht, konnte nur eine außerirdische Ursache verantwortlich sein: ein regelmäßiger Asteroiden- oder Kometenhagel. Dabei kommen Kometen aus verschiedenen Gründen eher in Frage. Nachdem schon der Vorschlag von Alvarez skeptisch bis spöttisch aufgenommen worden war, kann man sich vorstellen, welche Reaktion auf diese neue Idee folgte: schlichter Unglaube. Die Katastrophentheorie feierte fröhliche Urständ.

Raups und Sepkoskis Überzeugung ergab sich aus der statistischen Analyse des Aussterbens im Laufe langer Zeiträume; dabei zeigte sich, daß solche Ereignisse sich alle 26 Millionen Jahre häufen, manchmal in erheblichem Maße. (Das nächste Mal steht so etwas nach diesen Berechnungen in 13 Millionen Jahren bevor; wir können also ein wenig aufatmen.) Die Kritiker, insbesondere der polnische Paläontologe Anthony Hallam, halten dagegen, die Regelmäßigkeit sei ein Kunstprodukt, das sich aus der Konstruktion der geologischen Zeittafel ergebe. Die Diskussion ging wie ein Ping-pongspiel hin und her, ohne daß sich eine Lösung abgezeichnet hätte. Wenn Raup und Sepkoski recht haben, müßte jedes große Aussterbeereignis von Anzeichen für einen Einschlag begleitet sein. Erhöhte Iridiumwerte hat man bisher bei sieben der 20 Häufungen des Artensterbens gefunden, unter anderem am Ende der Kreidezeit.


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Nach Ansicht mancher Fachleute ereignen sich größere Aussterbe-Ereignisse einschließlich der Großen Fünf in regelmäßigen Abständen von 26 Millionen Jahren. 

Als Ursache vermutet man auf der Erde einschlagende Asteroiden. 

(Nachdruck mit Genehmigung von David Raup und Jack Sepkoski.)  

Am Ende des Perm, beim größten aller Aussterbeereignisse, konnte man solche Spuren aber nicht nachweisen. Auch ein halbes Dutzend Krater wurde, was das Alter angeht, mit größeren Aussterbeepisoden in Übereinstimmung gebracht.

Raup und Sepkoski sind nach wie vor davon überzeugt, daß ihre statistische Analyse hieb- und stichfest ist. Wenn sie recht haben, wurden volle 60 Prozent aller Arten während des Phanerozoikums durch Asteroiden- oder Kometeneinschläge ausgelöscht (fünf Prozent während der Großen Fünf, der Rest bei den zahlreichen kleineren Aussterbeereignissen). Raup behauptet nicht, der Einschlag sei die alleinige Ursache des Aussterbens; er hält ihn vielmehr für einen »ersten Schlag«, der die Welt des Lebendigen schwächt und anfälliger für andere schädliche Umwelteinflüsse macht. 

Die Vorstellung, daß die Erde in regelmäßigen Abständen von Kometen oder Asteroiden getroffen wird, hört sich nach Science-fiction an, aber die US-Raumfahrt­behörde NASA will nichts riskieren: Sie möchte ein System zur Weltraumüberwachung einrichten, das aus mehreren erdgebundenen Teleskopen besteht und nach näher kommenden Körpern sucht; zur Sicherheit sollen Nuklearraketen bereitgehalten werden, mit denen man ein auf Kollisionskurs befindliches Objekt gegebenenfalls ablenken kann.

In jüngerer Zeit haben uns zwei Beinahezusammenstöße — im März 1989 und im Januar 1991 — daran erinnert, daß der große Knall durchaus möglich ist. In beiden Fällen handelte es sich um kleinere Objekte mit einem Durchmesser von wenigen hundert Metern, aber sie passierten die Erde in einer Entfernung, die mit der des Mondes vergleichbar ist. Und im Juli 1994 beobachteten die Astronomen, wie ein Hagel von etwa 21 Kometenbruchstücken in die Oberfläche des Jupiter eintauchte und in der dichten Atmosphäre dieses Planeten eine Reihe gewaltiger Löcher riß, eines davon so groß wie die Erde. Es war ein zeitlich günstiger Beweis, daß solche Einschläge im Sonnensystem tatsächlich vorkommen. In diesem Fall kann die Gegenwart durchaus zum Schlüssel für die Vergangenheit werden, auch wenn wir Zeugen der Gegenwart auf einem anderen Planeten sind.

Über die Frage, wie plausibel Asteroideneinschläge und Vulkanausbrüche als Ursachen des Massenaussterbens sind, werden Geologen und Paläontologen weiterhin debattieren, und die NASA wird weiterhin versuchen, protzige und wahrscheinlich nutzlose Systeme zu installieren. Zumindest haben aber die Erfahrungen in den anderthalb Jahrzehnten seit Alvarez' Veröffentlichung eine neue Katastrophentheorie entstehen lassen, die Kräfte jenseits unseres normalen Erfahrungsbereichs einbezieht: gelegentlich auftretende, verheerende Einschläge von Himmelskörpern. 

Das ist die zweite große Revolution in der geologischen Wissenschaft unseres Jahrhunderts. Die erste war die Erkenntnis, daß die Erdkruste ein Stückwerk aus verschiedenen Platten ist, deren allmähliche Bewegung die Kontinente über die Erdzeitalter hinweg um den Globus schiebt.

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     Richard Leakey 1995