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7  Eine endlose Zahl der schönsten Formen    

 Anmerk

 

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Der letzte Satz von Darwins <Entstehung der Arten> ist so berühmt wie lyrisch:

»Es liegt etwas Großartiges in dieser Ansicht vom Leben, wonach es mit allen seinen verschiedenen Kräften aus wenig Formen, oder vielleicht nur einer, ursprünglich erschaffen wurde; und daß, während dieser Planet gemäß den bestimmten Gesetzen der Schwerkraft im Kreise sich bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine endlose Zahl der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt wurden.«1

Als vor etwa fünf Millionen Jahren die erste Menschenspezies entstand, war sie eine jener »schönsten Formen«, und das gleiche gilt heute für uns, den Homo sapiens. Als Produkte der Wechselfälle des Lebens, entstanden durch das Wechselspiel der Evolutionsprozesse und der manchmal launischen Hand des Aussterbens, bilden wir und die anderen Arten, mit denen wir die Erde teilen, eine Lebensgemeinschaft von fast beispielloser Vielfalt. 

Wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, hat der Motor der Evolution in den letzten 100 Millionen Jahren insgesamt für eine Zunahme der Arten­vielfalt gesorgt, die in der Geschichte der vielzelligen Lebensformen nicht ihresgleichen hat, abgesehen von ihren explosionsartigen Anfangen. Kurz und auffällig unterbrochen durch das Aussterben am Ende der Kreidezeit, führte diese Zunahme der Vielfalt bis heute zu einer Welt, in der mehr Arten leben als in jeder anderen Phase der Erdgeschichte.

Für den Paläontologen wird die Reichhaltigkeit des Lebendigen in den Fossilfunden auf augenfällige Weise deutlich. 

Im Mittelpunkt meines Berufslebens stand zwar über viele Jahre hinweg die Geschichte der Menschen­familie, aber ich war mir immer sehr deutlich des größeren Zusammenhanges bewußt, in dem sie sich entfaltete. Die Lebensräume Ostafrikas, die mir am vertrautesten sind, haben in den letzten 15 Millionen Jahren starke Wandlungen durchgemacht, die in erheblichem Ausmaß auf geologische Veränderungen zurückgingen.

Betrachtet man diese 15 Millionen Jahre als großes Schauspiel, dann gab es in wechselnden Szenen komplexer Lebensgemeinschaften eine ständige Veränderung der Rollenbesetzung. Jede dieser Lebens­gemein­schaften war für sich gesehen vollständig, aber wie man an den Fossilfunden erkennt, hatte sie auch immer eine Vergangenheit und natürlich eine Zukunft. Jede war ein vorübergehender Ausdruck des Lebensflusses. Wie ich in Kürze erläutern werde, ist die paläontologische Sichtweise für die derzeitige biologische Vielfalt nach meiner Überzeugung von großer Bedeutung; es ist eine Sichtweise, die erst seit kurzem ins Blickfeld der Ökologen rückt.

Als ich die Leitung der Naturschutzbehörde übernahm, wurde ich aus der Vergangenheit sehr plötzlich in die Gegenwart versetzt, von dem vorrangigen Interesse für ausgestorbene Arten zu der Sorge um Arten, die vom Aussterben bedroht waren. Die natürliche Tierwelt Kenias ist äußerst vielfältig und steht dem Artenreichtum in fast allen anderen Gebieten der Welt in nichts nach. Als Direktor hatte ich anfangs die Aufgabe, Notfallmaßnahmen zu ergreifen und der verheerenden Wilderei insbesondere bei Elefanten und Nashörnern ein Ende zu machen. Dabei blieb die umfassendere Artenvielfalt meines Landes zwangsläufig außen vor — jedenfalls eine Zeitlang. 

Aber in den ruhigen Augenblicken des Nachdenkens, in denen ich den drängenden Erfordernissen des Amtes entkam und beispielsweise in einem kleinen Flugzeug von Nairobi südwärts zum Tsavo-Nationalpark und weiter nach Westen nach Masai Mara an der Küste reiste, oder bei den allzu seltenen Gelegenheiten, wenn ich nach Norden zum Turkanasee flog, wurde ich an den Reichtum des Lebens unter mir erinnert.


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In der Ökologie kennt man für die Artenvielfalt oder Biodiversität dreierlei Maßstäbe. Der erste, Alpha-Diversität genannt, ist ein Maß für die Artenzahl in einer ökologischen Lebensgemeinschaft. Die Beta-Diversität ergibt sich aus dem Vergleich der Artenzusammensetzung in benachbarten Lebensgemeinschaften, die sich in bestimmten physikalischen Eigenschaften (beispielsweise der Höhenlage) unterscheiden. Und die Gamma-Diversität, der dritte Maßstab, sagt etwas über die Lebensgemeinschaften eines größeren geographischen Gebietes aus und umfaßt unter Umständen Gegenden mit ähnlichen Lebensräumen, die viele Kilometer voneinander getrennt sind. Der Flug von Nairobi zum Turkanasee bietet Anschauungsunterricht für alle drei Maßstäbe.

Nairobi liegt etwa 1500 Meter hoch auf dem geologischen Dom, der die kontinentale Kruste vor 15 Millionen Jahren von einer Höhe knapp über dem Meeresspiegel bis fast auf 3000 Meter an der höchsten Stelle anhob. Wenn ich von Nairobi aus nach Norden fliege, muß ich die Böschung des Rift-Tals überwinden, die von der Stadt aus etwa 1200 Meter ansteigt. Es ist eine äußerst fruchtbare Gegend: Auf dem nährstoffreichen, roten Vulkanboden breitet sich ein Flickenteppich aus Tee- und Kaffeeplantagen aus, in den kleine Städte eingestreut sind. Die Bewältigung des Talabhanges ist immer ein dramatisches Ereignis: In alle Richtungen erstreckt sich interessantes Gelände, und man hat gigantische Wolkenformationen über und unter sich. Ich bin jedesmal erleichtert, wenn ich die gefährliche Kante hinter mir habe.

Im Westen fallen die Talflanken jäh ab und schaffen so einen Kontrast zwischen der grünen Hochebene und der ausgedörrten Talsohle. Die Aberdare-Berge im Osten der Flugroute werden reichlich mit Feuchtigkeit versorgt und beherbergen eine wunderbar vielfältige Tierwelt mit den eleganten schwarzweißen Stummelaffen und sogar mit Leoparden. Früher lebten hier auch Zehntausende von Elefanten, aber so viele sind es heute nicht mehr, denn ihre Zahl wurde von Wilderern und durch die Ausweitung der Landwirtschaft dezimiert; derzeit leben hier noch etwa fünftausend von ihnen. Im Osten jenseits der Aberdare-Berge liegt der Mount Kenya, dessen schneebedeckter Gipfel sich bis über 5000 Meter erhebt.


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Ein einziger Ausblick bietet gewaltige Gegensätze: vergletscherte Gipfel, Bergwiesen und dichte, kühlere Wälder am Mount Kenya; üppige Feuchtwälder an den unteren Abhängen der Aberdares; trockene Wüste an der Talsohle; und dazwischen ein kompliziertes, abgestuftes Vegetationsmosaik. Ich wußte, daß es in jedem dieser Lebensräume mit Ausnahme der kalten Gletscher ein höchst vielfältiges Tier- und Pflanzenleben gab, das heißt eine hohe Alpha-Diversität. Und wenn man von den unteren zu den höheren Abhängen des Mount Kenya aufstieg, traf man auf völlig unterschiedliche biologische Welten vom Subtropischen bis zum Alpinen; die Beta-Diversität war also ebenfalls hoch.

Auf dem fast dreistündigen Flug von Nairobi zum Ostufer des Turkanasees zieht unter mir eine atem­beraubende ökologische Vielfalt vorüber, die alle gerade beschriebenen Lebensgemeinschaften und noch vieles andere umfaßt. Ich überquere die Kante der Laikipia-Hochebene, und danach, während der letzten eineinhalb Flugstunden, eröffnet sich die Aussicht auf Lavaströme und Krater, ausgetrocknete Seen, die Schatten versiegter Wasserläufe in der trockenen Erde und schließlich die Sandsteinformationen, die das Ostufer des riesigen Sees bilden. Wo wir landen, ist die Alpha-Diversität natürlich geringer, bestimmt durch geringe Niederschlagsmengen und hohe Temperaturen.

Dennoch gibt es in dieser Gegend mehr Leben, als die meisten Besucher auf den ersten Blick bemerken; es reicht aus, damit hier Herden von Weißschwanzgnus und Leierantilopen, Löwenrudel und sogar Leoparden leben können. Der Flug vermittelt einen kleinen Eindruck von Kenias Gamma-Diversität, denn man kann die Lebensgemeinschaften in einem recht großen geographischen Bereich vergleichen; sie ist ebenfalls hoch, und man erkennt sofort, wie wichtig die unterschiedliche Geländegestalt für die Entstehung dieser Vielfalt ist. Das reichhaltige Mosaik der verschiedenen Höhenlagen mit seinen unzähligen Lebensräumen, in denen die täglichen Temperaturschwankungen, die Feuchtigkeit und viele Bedingungen des Mikroklimas immer wieder anders sind, läßt ein ebenso reichhaltiges Mosaik ökologischer Gemeinschaften nicht nur gedeihen, sondern bringt sie sogar hervor.


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Würde ich von Nairobi aus nicht nach Norden, sondern nach Westen fliegen, über das Rift-Tal nach Uganda und noch weiter, so würde sich vor meinen Augen schon bald ein undurchdringliches Grün ausbreiten, ein Teppich aus tropischem Regenwald von Horizont zu Horizont. Er ist die Heimat der afrikanischen Menschenaffen. Tropische Regenwälder beherbergen eine gewaltige biologische Vielfalt, das stimmt, aber ohne die Geländeunterschiede des Rift-Tales fehlen ihnen die Gegensätze, die ein wichtiges Element der Gamma-Diversität sind; hier gibt es keine Herden von Steppentieren, keine Eidechsen, die an das Leben in trockenen Wüsten angepaßt sind, keine Bergblumen. 

Das reich gegliederte Gelände im Osten des Rift-Tales mit seinem Mosaik der Lebensräume lieferte neben vielem anderen auch den Impuls für die erste Evolution der Menschenfamilie.

Ich habe über meine Erfahrungen mit der Paläontologie und mit dem Naturschutz in Kenia gesprochen, weil ich damit das Thema dieses Kapitels einführen will: den Begriff der biologischen Vielfalt in der heutigen Welt. Jetzt möchte ich den Blick über Kenia und über Afrika hinaus auf die ganze Welt lenken, und dabei werde ich mich mit zwei Fragen beschäftigen, die beide für die moderne, ökologisch orientierte Evolutionsforschung von zentraler Bedeutung sind. Die erste betrifft die Form der biologischen Vielfalt und die Vorgänge, durch die sie im lokalen und globalen Maßstab entsteht. Wie wir sehen werden, kann man die Form mit einer gewissen Zuverlässigkeit beschreiben, denn sie ist einfach so, wie man es deutlich vor Augen hat, aber die Vorgänge, die ihrer Entstehung zugrunde liegen, sind nicht so offensichtlich. Die zweite Frage lautet: Wie viele Arten bilden weltweit die biologische Vielfalt, zu der auch wir gehören? 

Sie zu beantworten mag einfach erscheinen, aber das stimmt nicht. Ich werde erklären, warum.

 

Die Gesamtform der biologischen Vielfalt wird von zahlreichen Faktoren bestimmt, aber ich möchte mich auf die beiden wichtigsten konzentrieren. Der erste ist die weltweite Verteilung der Lebensformen: Wo findet man die größte Zahl von Arten? Der zweite hat mit dem Vergleich der biologischen Vielfalt in den Meeren und an Land zu tun. Beide sind durch die Triebkraft der Evolution und die Dynamik der Ökosysteme innig miteinander verknüpft.


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Das auffälligste Merkmal der biologischen Vielfalt auf der Erde ist die ungleichmäßige Verteilung. Vereinfacht gesagt, ist die Artenvielfalt beiderseits des Äquators am größten; mit höherer geographischer Breite, das heißt in Richtung des Nord- und Südpols, wird sie immer geringer. Wer beispielsweise in Nordamerika oder Europa zu Hause ist und dann einmal nach Kenia kommt, bemerkt den Unterschied sofort. Er zeigt sich im ganzen Spektrum der Tierwelt, nicht nur bei dem gewaltigen Anblick der wandernden Tierherden und an den Löwen, Leoparden und Geparden, die den Besucher so stark beeindrucken, sondern auch an dem phantastischen Reichtum der Vogelwelt und natürlich am Gewimmel der Insekten. Ebenso deutlich wird das Prinzip an den Pflanzen, insbesondere in den Regenwäldern mit ihrer reichhaltigen Mischung der Baumarten und der auf ihnen wachsenden Epiphyten, die ihrerseits wieder von Mikroepiphyten besiedelt sind. Auch wenn man sich auf die mikroskopische Ebene begibt, zu den Bakterien und einzelligen Pilzen, trifft man auf den gleichen Überreichtum der kenianischen Lebensformen, der den Artenreichtum in den Heimatländern der meisten Besucher bei weitem übertrifft.

Diese energische Handschrift der Natur, »breitengradabhängiger Gradient der Artenvielfalt« genannt, ist den Biologen schon seit langem bekannt. Mit zahllosen Hypothesen versuchte man ihn zu erklären, und das führte letztlich zur Entstehung der theoretischen Ökologie. Er ist auch für den Artenschutz von beträchtlicher Bedeutung: Wenn man in den Tropen einen Quadratkilometer Lebensraum zerstört, gefährdet man damit mindestens zehnmal so viele Arten wie beim Verlust der gleichen Fläche in gemäßigten Klimazonen. Besonders reichhaltig ist die biologische Vielfalt in den tropischen Regenwäldern: Sie bedecken ein Sechzehntel aller Landflächen der Erde, beherbergen aber über die Hälfte aller Arten. Deshalb ist die erbarmungslose Zerstörung dieser Wälder zutiefst beunruhigend.


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Die Konzentration auf die Regenwälder sollte aber, wie eine Studie kürzlich gezeigt hat, nicht auf Kosten anderer Lebensräume gehen. Wie der Biologe Michael Mares von der University of Oklahoma in einer Übersichtsuntersuchung an fast 1000 südamerikanischen Arten feststellte, findet man die größte Vielfalt zumindest bei manchen Artengruppen überraschenderweise in trockenen Gegenden, beispielsweise in den Steppen (Llanos) Venezuelas und Kolumbiens, den Gras- und Buschlandschaften (Cerrados und Caatingas) Brasiliens und den argentinischen Pampas. »Trockengebiete gelten oft als Regionen mit geringer biologischer Vielfalt«, stellt Mares in der Fachzeitschrift Science fest, »aber was die Säugetiere angeht, sind sie die artenreichsten Gegenden des Kontinents.«2) 

Mares' Entdeckung mindert den Wert der Regenwälder als Regionen großer biologischer Vielfalt nicht, aber sie erweitert unsere Kenntnisse darüber, wo man Vielfalt antreffen kann. In einem Kommentar zu dem Aufsatz von Mares schrieben die Ökologen Stuart Pimm und John Gittleman von der University of Tennessee: »Wir wissen zu wenig darüber, wo die Artenvielfalt ist, warum sie dort ist und was aus ihr werden wird.«3)

Bevor ich mich mit ein paar mutmaßlichen Gründen für den tropischen Artenreichtum beschäftige, möchte ich einige kurze Beispiele für das Ausmaß der Unterschiede anführen. Ein Ameisenspezialist, der von Alaska nach Brasilien wandern und unterwegs in jeder Region die Arten zählen würde, träfe am Ausgangs­punkt der Reise auf drei und am Ziel auf 222 Ameisenarten. Das ist ein Unterschied von fast zwei Zehnerpotenzen. Der beste Ameisenfachmann ist natürlich der Biologe Edward Wilson von der Harvard University; er erklärte 1987 in Washington auf einer wissenschaftlichen Tagung über die Artenvielfalt: »Ich habe an einem einzigen Baum in Peru 43 Ameisenarten identifiziert, ungefähr ebenso viele wie auf den gesamten Britischen Inseln.«

Das gleiche würden Vogel- oder Baumliebhaber erleben. Peter Ashton zum Beispiel, ein weiterer Biologe der Harvard University, zählte in Borneo die Baumarten auf 100.000 Quadratmetern des tropischen Regenwaldes. Er kam auf 700 — ebenso viele wie in ganz Nordamerika.


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Dramatisch ist die Zunahme der Artenzahl von Alaska bis zum tropischen Amerika auch bei den Landvögeln: Sie steigt von 20 auf 600. George Stevens, der in beiden Regionen lange gearbeitet hat, faßt den ersten Eindruck von diesen Unterschieden so zusammen: »Wenn man durch Alaska fährt, ist man verblüfft über die biologische Eintönigkeit. Ja, die geologischen Verhältnisse sind faszinierend, aber Fauna und Flora sind immer gleich, wo man sich auch befindet. In Costa Rica dagegen erkennt man schon bei den kleinsten Geländeveränderungen große Unterschiede in den Lebensräumen.«4)

An Land ist das Prinzip der zunehmenden Artenzahlen immer und immer wieder zu erkennen. Über die Verhältnisse in den Meeren gab es bis vor kurzem nur wenige Anhaltspunkte, denn dieser Lebensraum ist der Forschung natürlich viel weniger zugänglich, insbesondere was das Leben in der Tiefsee angeht. Die Tiefen der Ozeane, die früher als eine Art biologische Wüste galten, beherbergen, wie wir heute wissen, ein gewaltiges Spektrum von Lebensformen. Und seit man in den siebziger Jahren erstmals Lebensformen entdeckte, die ihre Energie aus den durch vulkanisch-tektonische Aktivität entstandenen heißen unterseeischen Quellen beziehen, weiß man auch, daß es dort höchst bizarre Lebewesen gibt.

Das neu entstandene Bild vom Leben in den Fluten ähnelt also verblüffend dem vom Leben an Land; das bestätigte auch eine Gruppe von Wissenschaftlern aus den Vereinigten Staaten, Schottland und Australien Ende 1993 in einer großen Studie. Am größten ist die Artenvielfalt in der Nähe des Äquators, und wenn man die Unterwassergebiete in höheren Breiten betrachtet, nimmt sie immer weiter ab. »Der Rückgang der Artenvielfalt mit dem Breitengrad kam unerwartet«, schrieben die Wissenschaftler, »denn man hatte angenommen, daß die großflächige Verteilung der Umweltbedingungen an der Oberfläche die Lebensgemeinschaften in größeren Tiefen nicht beeinflußt.«5 Die Tiefsee galt unter ökologischen Gesichtspunkten unabhängig von der geographischen Breite immer als entsetzlich öde, und deshalb hatte man auch angenommen, daß es keine großen Unterschiede in der Artenvielfalt gibt. 


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Zu Recht wiesen die Wissenschaftler daraufhin, daß der Artenschutz ihren Befunden zufolge in den Meeren von ganz ähnlicher Bedeutung ist wie bei der Zerstörung der Lebensräume an Land. So werden sich zum Beispiel die Suche nach Rohstoffen, Ölförderung und Abfallbeseitigung in tropischen Gewässern in ganz anderem Umfang auf die Artenvielfalt auswirken als in polnahen Meeren.

Mit der Aussage, die Unterschiede der Artenzahl in der Tiefsee seien »unerwartet« gewesen, sind wir bei der Frage nach den Ursachen dieses weltweit gültigen Prinzips, und sie legt mindestens eine offenbar vernünftige Annahme nahe: Die Abstufungen im Artenreichtum hängen an Land unmittelbar mit Abstufungen wichtiger physikalischer Faktoren wie Temperatur und Licht zusammen. Wir nehmen intuitiv an, daß die Lebensräume an Land und in der Tiefsee sehr unterschiedlich aussehen müssen, und das stimmt auch. In den Tiefen der Meere herrscht meist undurchdringliches Dunkel, und Temperatur­schwankungen werden abgemildert. An Land gilt das nicht. 

Offenbar ist irgendein grundlegender Mechanismus am Werk, der sich unter sehr unterschiedlichen Umwelt­bedingungen auswirkt. Herauszufinden, was das für ein Mechanismus ist, gestaltet sich nicht etwa deshalb schwierig, weil es keine Hypothesen gäbe, sondern weil wir zu viele von ihnen haben. Man hat im Laufe der Jahre zahlreiche Erklärungen angeboten, die einander häufig unmittelbar widersprachen - ein heilsames Anzeichen, daß wir von einer verläßlichen Antwort noch weit entfernt sind. Ich möchte einige dieser Hypothesen genauer beschreiben.

Besonders beliebt ist seit langem die sogenannte Zeittheorie. Danach herrschen in den Tropen schon länger die gleichen Bedingungen wie in den gemäßigten Klimazonen, und zwar wegen der immer wieder auftretenden Eiszeiten, die gemäßigte Zonen wesentlich stärker beeinflussen. Deshalb, so die Vermutung, stand in den Tropen mehr Zeit für die Ansammlung biologischer Vielfalt zur Verfügung. Es gibt aber auf der Welt Gegenden, die von den Eiszeiten relativ wenig betroffen waren; unter ihnen sind auch einige weiter nördlich gelegene Geländeabschnitte, aber dort findet man nicht die höhere Artenvielfalt, die man nach dieser Theorie erwarten würde.


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Die Zeittheorie ist offensichtlich nicht zu halten. Das gleiche gilt für die »Produktivitäts­hypothese«, die ebenfalls lange Zeit im Schwange war.

Tatsächlich sieht es so aus, als seien die Tropen von der Natur besonders gesegnet: Hier herrschen angenehme Temperaturen, es gibt reichlich Licht und in vielen Gegenden eine üppige Wasserversorgung. Aus unseren alltäglichen Erfahrungen wissen wir, wie gut Pflanzen unter solchen Bedingungen gedeihen, und da Tiere auf die Pflanzen angewiesen sind, ist eine große Vielfalt von Tieren und Pflanzen möglich. Das stimmt, aber die Annahme, daß hohe Produktivität — das heißt große Biomasse — auch notwendiger­weise zu hoher Artenvielfalt führt, stellt einen logischen Bruch dar. Warum sollten sich zahlreiche Arten diese üppige Umwelt teilen und nicht nur wenige, die es sich in ihrem eigenen Überfluß Wohlergehen lassen? (Die Nadelwälder des Nordens stellen eine gewaltige Biomasse dar, bieten aber nur wenigen Arten Lebensraum; in Graslandschaften dagegen ist die Biomasse unter Umständen gering, aber es gibt zahlreiche Arten.) Die Schwäche dieser Theorie ist das Fehlen einer erkennbaren Verbindung zwischen hoher Produktivität und der Entstehung vieler Arten.

Interessant ist dabei, daß die Zeithypothese den Tropen im Zusammenhang mit der Evolution keine besonderen Eigenschaften zuschreibt, sondern nur mehr Zeit für die Ansammlung von Arten postuliert. Die Produktivitätshypothese unterstellt dagegen eine solche Besonderheit: Sie geht davon aus, daß die Tropen etwas an sich haben, das häufiger zur Entstehung neuer Arten führt als in gemäßigten Breiten. Wenn man durch Buschsavannen oder dichten, feuchten Regenwald geht, fühlt man sich wie in einem Artenkaleidoskop, umgeben von einer Fülle des Lebens auf allen Ebenen, wie in einem Fraktalmuster, das die Kreativität der Evolution auszudrücken scheint. Die Annahme, daß die Tropen den Strom des Lebens nähren und besonders häufig »eine endlose Zahl der schönsten Formen« hervorbringen, scheint zu stimmen. Aber es gibt auch eine andere Erklärung: Vielleicht sind die Tropen eine nachsichtigere Umwelt, die Arten nicht so oft aussterben läßt wie die höheren Breiten.


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Rein gefühlsmäßig ist auch das eine reizvolle Annahme; in kühleren Gegenden müssen Tiere und Pflanzen harte Winter überleben, und dabei können viele von ihnen umkommen. Und Populationen, die lokal dezimiert werden, sind in besonders harten Jahren eher vom Aussterben gefährdet. Der Kampf ums Dasein scheint in den höheren Breiten mit ihren starken jahreszeitlichen Schwankungen heftiger zu sein.

Bis vor einiger Zeit konnte man nichts darüber sagen, ob die biologische Vielfalt der Tropen durch besonders häufige entwicklungsgeschichtliche Neuerungen oder durch eine geringere Aussterbehäufigkeit verursacht wird. Vor einigen Jahren ging David Jablonski dieser ökologischen Frage jedoch nach, indem er auf die Fossilfunde zurückgriff. Dabei ging er von folgender Überlegung aus: Wenn sich an den Fossilien ablesen läßt, daß das erste Auftauchen neuer Arten in den Tropen häufiger vorkommt als in gemäßigten Zonen, ist die Frage beantwortet. Er untersuchte die Fossilien wirbelloser Meeresbewohner seit dem Mesozoikum vor etwa 225 Millionen Jahren und erkannte dabei eindeutige Anzeichen, daß Arten in den Tropen in größerer Zahl zum erstenmal auftauchen. Im Juli 1993 schrieb er in Nature: »Dies ist ein unmittelbarer Beleg, daß tropische Gebiete eine wichtige Quelle entwicklungsgeschichtlicher Neuerungen waren und nicht nur ein Rückzugsgebiet, in dem sich die Artenvielfalt wegen geringer Aussterbehäufigkeit ansammelte.«6 Durch diesen wichtigen Befund war die biologische Frage nun klarer umrissen: Was auch Besonderes an den Tropen sein mag, es fordert tatsächlich die Evolution von Neuerungen.

Die Biologen sind sich heute darüber einig, daß einer der wichtigsten Vorgänge, durch den neue Arten entstehen, die sogenannte allopatrische Speziation ist. Das heißt ganz einfach, daß Populationen einer vorhandenen Art aus irgendeinem Grund voneinander getrennt werden, und in relativ kurzer Zeit (einige tausend Jahre) sammeln sich dann so viele genetische Unterschiede und Anpassungen an, daß daraus zwei selbständige Tochterarten werden. (Das war die Kernaussage der im vorigen Kapitel beschriebenen Puls-Fluktuationshypothese von Elisabeth Vrba.) 


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Wie könnten die Umweltbedingungen der Tropen die allopatrische Speziation fördern? Zu dieser Frage wurden zwei Vermutungen geäußert, die ich beide beschreiben möchte.

Zuvor möchte ich aber noch auf etwas anderes hinweisen: Es wäre naiv, sich die Tropen als Gürtel einheitlich-üppiger Lebensräume vorzustellen, die jeweils mit größerer Häufigkeit entwicklungs­geschichtliche Neuerungen ausspucken als die gemäßigten Breiten. Wie die Biologen mittlerweile wissen, können verschiedene Lebensräume die Populationen derselben Art in sehr unterschiedlichem Ausmaß unterstützen, so daß diese Art in einer Gegend vielleicht gut gedeiht, während sie woanders allmählich verschwindet. 

Da Tiere und (über das Ausstreuen der Samen) auch Pflanzen beweglich sind, wandern aber Individuen aus dem ersten Lebensraum unter Umständen ständig in den zweiten ein, so daß die Population in beiden recht einheitlich ist. Derart unterschiedliche Lebensräume gibt es wahrscheinlich auch bei der Artbildung; ein scheinbar einheitliches Stück Regenwald kann also in Wirklichkeit ein Mosaik aus Lebensräumen sein, die unterschiedlich stark die Bildung neuer Arten unterstützen.

Die Ursache des Artbildungspotentials ist nach Ansicht vieler Biologen die Stabilität der tropischen Lebens­räume. »Wenn das Klima stabiler ist, kann man auch mit stabileren Ressourcen rechnen«, erklärt Wallace Arthur, ein Ökologe des Sunderland Polytechnic in England. »Deshalb können die Arten es sich leisten, bei der Ernährung wählerischer zu sein — die Nahrungsnischen sind kleiner, und sie überleben dennoch.«7 Wegen ihrer engen Nahrungsnischen bleiben solche spezialisierten Arten eher auf kleine geographische Gebiete beschränkt, in denen die erforderlichen Nahrungsquellen zur Verfügung stehen. Das bedeutet nicht nur, daß ein bestimmtes Gebiet von viel mehr Arten besiedelt ist, sondern es begünstigt auch die Neuentstehung von Arten. In dem gleichmäßigen tropischen Klima können nach Arthurs Vermutung auch kleine Populationen überleben, und das sogar am Rand ihres Verbreitungsgebietes; in den unwirtlichen nördlichen Breiten dagegen werden solche Populationen eher verschwinden, und deshalb entstehen dort auch seltener neue Arten.


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Nach dieser Vorstellung ist Stabilität die Triebfeder der Evolution, und gleichzeitig bietet sie auch eine Umwelt, in der viele Arten nebeneinander existieren können. Ist diese Vorstellung richtig?

Eine in noch jüngerer Zeit entwickelte Hypothese sagt nein. Danach ist Instabilität der Motor der Evolution. Während der siebziger und Anfang der achtziger Jahre gab es unter den ökologisch orientierten Evolutionsforschern eine heftige Debatte darüber, welche Kräfte die Struktur von Lebensgemeinschaften beeinflussen. Zu Beginn der Diskussion herrschte die Lehrmeinung, daß die Konkurrenz unter den Arten die Zusammensetzung der Lebensgemeinschaften bestimmt, insbesondere wenn es darum geht, welche Arten mit anderen zusammenleben können. Während der folgenden zehn Jahre wurde die Konkurrenz als Faktor für die Struktur der Gemeinschaften zwar nicht völlig verworfen, aber sie verlor stark an Bedeutung.

Großen Einfluß auf diese Verschiebung der Ansichten hatte Joseph Connell, ein Ökologe der University of California in Santa Cruz. Er berichtet, wie er als überzeugter Anhänger des Konkurrenzgedankens nach Australien reiste, um die Lebensgemeinschaften an Korallenriffen zu studieren, und wie ihn dort die Natur eines Besseren belehrte: Ein Hurrikan wirbelte seine Untersuchungsstelle durcheinander und fegte große Teile des Ökosystems hinweg. Für Connell war es ein heilsamer Beweis, daß in der Natur neben der Konkurrenz auch andere Kräfte wichtig sind. Zwar ist ein Hurrikan vielleicht eine besonders dramatische und ungewöhnliche Umweltstörung, aber kleinere Unregelmäßigkeiten sind häufiger. Und sie sind kreativer, wenn auch auf indirekten Wegen.

In Lebensgemeinschaften, die gegenüber Störungen unempfindlich sind, übernehmen unter Umständen irgendwann wenige Arten die Vorherrschaft; bei Belastungen jedoch, beispielsweise wenn Schneisen in ein Waldgebiet geschlagen werden, haben andere Arten die Gelegenheit, zu einem Teil der Gemeinschaft zu werden. Demnach, so kann man schließen, begünstigen wiederholte Belastungen dieser Art die Evolution neuer Arten. Das dürfte der Intuition widersprechen. 


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Eine gutmütige, stabile Umwelt kann man sich eher als Wiege der Evolution vorstellen, die neu entstehende Arten während ihres empfindlichsten Stadiums erhält. In Wirklichkeit sieht es aber immer mehr danach aus, als seien Belastung und Instabilität die Geburtshelfer neuer Arten.

Die artenreichen Regenwälder des Amazonasbeckens waren zum Beispiel gewaltigen Störungen ausgesetzt, insbesondere vor etwa 10.000 Jahren, als die letzte Eiszeit zu Ende ging und die eher gleichförmige Jetztzeit begann. Zuvor, in der kälteren Phase, gab es keinen Waldteppich, der den ganzen Kontinent bedeckte, sondern in begünstigten Gebieten gediehen kleine Waldstücke, weil dort das Mikroklima die an warmes Klima angepaßten Arten schützte. In der Frage, wie eine solche Zerstückelung von Lebensräumen die Artbildung begünstigt, bestehen schon seit langem Meinungsverschiedenheiten, die bis heute nicht ausgeräumt sind. Nach einer Vorstellung waren die Artenpopulationen in den einzelnen Waldstücken (auch Rückzugsgebiete genannt) isoliert, so daß sie sich genetisch auseinanderentwickelten, ganz ähnlich wie Populationen in anderen geographisch getrennten Regionen. Das paßt gut zur Hypothese der allopatrischen Speziation, aber überzeugende Hinweise, daß es solche Rückzugsgebiete gab, sind kaum zu finden. Vielleicht waren schlicht Umweltstörungen der Motor der Evolution, eine kreative Umwelt im Gleichgewicht zwischen völliger Stabilität und völliger Instabilität — oder Chaos. (Im Amazonas-Regenwald trug die Maya-Hochkultur zur Störung bei, weil ihre Angehörigen in manchen Gegenden große Waldflächen abholzten.)

Die Kreativität der Natur im Bereich zwischen Stabilität und Chaos erkennt man auch in den Ozeanen. Hier herrschen seltsame Gesetzmäßigkeiten: Die größte biologische Vielfalt der Meeresbewohner findet man in der Tiefsee. Dagegen sind die Lebensgemeinschaften in der Nähe der Küsten relativ eintönig. Neue Arten tauchen in beiden Bereichen auf, in größerer Zahl aber entstehen sie in tieferen Gewässern. Die größten Neuerungen der Evolution — neue Arten, die nicht nur Variationen vorhandener Themen darstellen, sondern ganz neue Anpassungen besitzen — bilden sich jedoch häufiger in den küstennahen Lebens­gemein­schaften. 


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Es scheint sich hier um einen realen Vorgang zu handeln, das heißt um die Folgen größerer Neuerungen und nicht nur um das bevorzugte Überleben entwicklungsgeschichtlicher Kuriositäten. Die Ursachen sind bisher jedoch rätselhaft. Eines kann man allerdings feststellen: Die küstennahen Gemeinschaften sind durch die Wellen stärkeren Störungen ausgesetzt als die in der Tiefsee. Wieder sieht es so aus, als begünstigten Belastungen die Entwicklung von neuem.

Wenn Störungen die Geburtshelfer der Evolution sind, warum gibt es dann einen Unterschied zwischen tropischen und gemäßigten Klimazonen? Einen möglichen Grund nannte George Stevens vor kurzem: Tropische Arten sind häufig Spezialisten, die sich an ein enges Spektrum von Umweltbedingungen angepaßt haben; in gemäßigten Breiten müssen die Arten dagegen allgemeinere Anpassungen besitzen, damit sie die jahreszeitlichen Temperatur- und Lichtschwankungen überstehen können. Deshalb reagieren tropische Arten empfindlicher auf Störungen, und das liefert der Evolution die Gelegenheit zur Artbildung; die Arten der gemäßigten Regionen vertragen mehr und werden deshalb weniger häufig in die entwicklungsgeschichtlich kreativeren Randbereiche gedrängt.

Wie steht es mit der Tiefsee, wo die Artenzahl sich mit den Breitengraden genauso ändert wie an Land? Nach einer verbreiteten Vorstellung sind die Tiefen der Meere ein Bereich des Endlos-Gleichen, in dem es kaum Veränderungen gibt und der von den Wechselfällen der Umweltbedingungen abgeschnitten ist. Wenn das stimmt, kann die Hypothese von den Störungen nicht zutreffen. Die Ökologen John Gage und Robert May meinen jedoch in ihrem Kommentar zur Entdeckung der abgestuften Artenzahl in der Tiefsee: »Vielleicht sind die Böden der Ozeane weltweit doch nicht so einheitlich.«8 Möglicherweise stimmt das. Immerhin galt die Tiefsee noch vor nicht allzu langer Zeit als biologische Wüste, und heute wissen wir, daß sie in Wirklichkeit eine biologische Vielfalt hervorbringt, die an manchen Stellen den tropischen Regenwäldern nahekommt.

Die Verteilung der biologischen Vielfalt auf der Erde ist also höchst auffällig und offenkundig. Und wie wir gesehen haben, schafft die Evolution »eine endlose Zahl der schönsten Formen« auf Wegen, die sich auch heute noch dem Verständnis der Biologen entziehen.


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Die zweitwichtigste Gesetzmäßigkeit in der biologischen Vielfalt auf der Erde ergibt sich aus dem Vergleich der Lebensräume an Land und im Meer. Noch nicht einmal 15 Prozent aller heute bekannten Arten leben in den Ozeanen, und von diesen sind die meisten am Boden der Tiefsee oder kurz darüber zu Hause. Alle anderen leben an Land. Besonders auffällig ist dieses Ungleichgewicht, weil die Ozeane ja fast drei Viertel der Erdoberfläche bedecken. Offensichtlich kann das Land also eine weitaus größere Vielfalt am Leben erhalten als das Meer. Hier tut sich allerdings ein Widerspruch auf; er hat mit der Ebene in der Hierarchie des Lebendigen zu tun, auf der man die beiden Bereiche vergleicht.

Ich habe bisher von den Arten gesprochen, also von der untersten Stufe der biologischen Hierarchie. Vergleicht man die Lebensräume an Land und im Meer auf der Ebene der Stämme, ergibt sich ein ganz anderes Bild als beim Vergleich der Artenzahlen. In 32 der 33 Stämme des Tierreiches gibt es Arten, die im Meer leben; an Land sind dagegen nur zwölf Stämme vertreten. Demnach kommen 64 Prozent der Stämme ausschließlich im Meer vor, aber nur drei Prozent sind ausschließlich an Land zu Hause. (Die übrigen haben Vertreter an Land und in den Meeren.) An diesem Maßstab gemessen, bieten die Meere einer weitaus größeren Vielfalt die notwendigen Lebensgrundlagen als die trockenen Lebensräume. Mit anderen Worten: Im Meer findet man mehr Themen, die jeweils nur wenige Variationen haben, an Land dagegen gibt es mehr Variationen von weniger Themen.

Wie für die mit dem Breitengrad abnehmende Artenzahl, so gibt es auch für die auf Stamm- und Artenebene unterschiedliche Vielfalt an Land und im Meer zahlreiche Erklärungsversuche — ein deutliches Anzeichen der Ungewißheit. Selbst in einem sehr grundlegenden Sinn sind einfache Fragen manchmal schwer zu beantworten, so zum Beispiel die, warum das Leben an Land so stark von den Insekten beherrscht wird, während nur sehr wenige Arten dieser Gruppe im Meer vorkommen.


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Der naheliegendste Grund, warum es in den Ozeanen mehr Stämme gibt, ist die Tatsache, daß das vielzellige Leben dort in der kambrischen Explosion seinen Anfang nahm. In dieser Phase oder kurz danach entwickelten sich alle heute vorhandenen Stämme, und erst viel später wagten sich die ersten Lebewesen auf das trockene Land. Alle heutigen Stämme hatten also die Gelegenheit, in den Meeren Nachkommen zu hinterlassen; an Land bestanden ähnliche Möglichkeiten nur für diejenigen, die sich an das Leben auf dem Trockenen anpassen konnten. Das beantwortet aber nicht die Frage, warum es in den Ozeanen weniger Abwandlungen der einzelnen Körperbaupläne gibt — immerhin hatte das Leben dort gegenüber den landlebenden Formen einen Vorsprung von 100 Millionen Jahren. Es muß zwischen den beiden Lebensräumen einen Unterschied geben, der den Motor der Evolution in einem davon schneller laufen läßt.

Bestünde die Tiefsee aus weiten, gleichförmigen Gebieten, wie man bis vor kurzem angenommen hatte, wäre die geringere Artenvielfalt zu erklären. Eine in Geländeform und Klima uneinheitliche Umwelt, die sich in relativ kurzen Zeitabständen verändert, fordert die Evolution neuer Arten. Aber auch wenn die Umwelt der Tiefsee sicher in mehrfacher Hinsicht ganz anders ist als die an Land, dürfte sie doch viel weniger gleichförmig sein, als man früher angenommen hatte.

In den Tropen und bis vor nicht allzu langer Zeit auch in den gemäßigten Zonen bieten die großen Wälder eine räumliche Komplexität, wie man sie im Meer in der Regel nicht antrifft (außer an den Korallenriffen, die ebenfalls die Heimat einer großen Artenvielfalt sind). Robert May, der sich eingehend mit dieser Frage beschäftigt hat, räumt zwar ein, daß solche Paktoren eine Rolle spielen könnten, aber er bleibt skeptisch: »Ich kann mir nur schwer vorstellen, ... daß man damit das Verhältnis der Artenzahlen von 85 zu 15 an Land und im Meer erklären kann.«


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Er weist auch auf einen seltsamen Unterschied zwischen tropischen Wäldern und Korallenriffen hin, von denen man oft sagt, sie entsprächen einander in ihren jeweiligen Bereichen. »Das Korallenriff strotzt von auffälligen Tieren ... im tropischen Regenwald dagegen bekommt man die Wirbeltiere kaum einmal zu Gesicht, und selbst die Wirbellosen sind nicht so leicht zu erkennen.«10 Den Grund für diesen Unterschied kennt niemand.

Man hat noch mit vielen anderen Hypothesen versucht, den unterschiedlichen Artenreichtum an Land und im Meer zu erklären; die vielleicht vielversprechendste hat mit der Größe und dem Verbreitungsgebiet der Arten zu tun. Meeresbewohner sind im Durchschnitt kleiner als landlebende Arten, aber ihr Verbreitungs­gebiet ist größer. Und eine größere geographische Verbreitung bedeutet — jedenfalls in der Regel — eine insgesamt geringere Artenzahl. Vor dem Hintergrund der Evolutionsökologie hört sich diese Erklärung plausibel an, aber sie ist zugegebenermaßen Spekulation.

Von der weltweiten Verteilung der Artenvielfalt möchte ich jetzt zu ihrer Zusammensetzung zurückkehren und die Frage stellen: Wie viele Arten gibt es heute auf der Erde?

Auf diese einfache Frage hat Robert May eine einfache Antwort: »Wir sind uns in der Größenordnung einer Zehnerpotenz unsicher, mit wie vielen Arten wir den Globus teilen.«11 Die meisten Schätzungen bewegen sich zwischen fünf und 50 Millionen, ja manche gehen sogar bis 100 Millionen. Der Grund für diese gewaltige Unsicherheit? Kaum ein Biologe hat jemals versucht, eine Antwort zu finden, und wer es wagte, war entmutigt von den Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben.

Es ist schon bemerkenswert, daß wir in unserer modernen Welt und mit unserer Besessenheit, alles zu messen, nur so ungenaue Vorstellungen über den Stoff der Natur haben, mit dem wir so eng verflochten sind und von dem wir letztlich abhängen. Für die Zahl der Sterne in unserer Galaxis, der Milchstraße, haben wir eine gute Schätzung: Es sind ein paar hundert Milliarden. Wir wissen, wie viele Nukleotide den genetischen Bauplan des Menschen bilden: drei Milliarden. 


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Und wir können auf wenige Stunden genau berechnen, wann ein Komet auf den Jupiter stürzen wird, wie es am 16. Juli 1994 um 22 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit geschah. Und doch können wir die heutige Artenvielfalt nicht mit einer gesicherten Zahl benennen. Es liegt nicht daran, daß man nicht wüßte, wie man sie ermittelt, sondern es fehlt schlicht der Wille. Die Regierungen haben viele hundert Millionen Dollar in die systematische Untersuchung der Sterne gesteckt, aber nur ein winziger Bruchteil dieser Summe floß in die systematische Untersuchung der Natur hier bei uns auf der Erde.

Die Suche nach Ordnung in der Natur begann eigentlich mit Aristoteles, aber bis die Naturgeschichte zu einer angesehenen Disziplin der abendländischen Wissenschaft wurde, sollten noch fast zwei Jahrtausende vergehen. Zum wichtigsten Anliegen der neuen Wissenschaft wurde die Einteilung der Pflanzen und Tiere, anfangs im Zusammenhang mit der Absicht, die Ergebnisse von Gottes Schöpferkraft vorzuführen. Das heutige Klassifikationssystem begründete Carl von Linnc im 18. Jahrhundert mit seinem Systema naturae. Er listete etwa 9000 Tier- und Pflanzenarten auf und bediente sich dabei eines Systems, in dem ihre Verwandtschaftsbeziehungen deutlich wurden (natürlich im Sinne der Schöpfung und nicht der geschichtlichen Entwicklung). Dieser bahnbrechende, aber noch bescheidene Versuch einer systematischen Erforschung der Natur kam erst ein volles Jahrhundert, nachdem Isaac Newton die Gravitationsgesetze formuliert hatte, auf die sich die Berechnungen der jüngsten Kollision zwischen Komet und Jupiter gründeten.

Seit Linnes Zeit ist die Zahl der beschriebenen Arten natürlich beträchtlich angewachsen; derzeit liegt sie bei ungefähr 1,4 Millionen. Ich sage »ungefähr«, weil es keine zentrale Sammelstelle für alle Beschreibungen von Arten gibt, so daß die Zahl immer nur eine Schätzung sein kann. Das ist besonders verwunderlich: Für die DNA-Sequenzen, die in den Labors auf der ganzen Welt analysiert werden, gibt es eine zentrale Sammelstelle, aber nicht für die Lebewesen, aus denen man das genetische Material gewinnt.


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Etwa 85 Prozent der bekannten Arten leben an Land, und die Mehrzahl von ihnen, insgesamt ungefähr 850.000, sind Gliederfüßer (Insekten, Spinnen und Krebstiere). Die meisten Gliederfüßerarten sind Insekten, und von diesen sind etwa die Hälfte Käfer, eine Tatsache, die den britischen Biologen J.B.S. Haidane zu einem berühmten Ausspruch angeregt haben soll. Als ihn einige geistliche Herren einmal fragten, was er bei seiner Naturforschung über Gott erfahren habe, soll Haidane geantwortet haben, es deute alles darauf hin, daß Er »eine außerordentliche Vorliebe für Käfer« habe. Die Geschichte ist zwar nicht belegt, aber sehr treffend, und wenn Studien aus jüngerer Zeit recht haben, hat man die Wirklichkeit bisher sogar noch unterschätzt.

 

Bei den 300.000 bekannten Pflanzenarten handelt es sich in der Mehrzahl um Blütenpflanzen. (Daß gerade Insekten und Blütenpflanzen so artenreich sind, ist sicher kein Zufall, denn beide Gruppen haben sich in den letzten paar hundert Millionen Jahren gemeinsam entwickelt.) Außerdem kennt man etwa 69.000 Pilzarten und ungefähr ebenso viele Arten einzelliger Lebewesen. Zu der letztgenannten Gruppe gehören nur ungefähr 5000 beschriebene Bakterienarten. Die Kategorie der Wirbeltiere, die unsere Aufmerksamkeit am stärksten erregen, vereinigt etwa 40.000 Arten auf sich, darunter 4000 Säugetiere und 9000 Vögel; der Rest verteilt sich auf Reptilien, Amphibien und Fische.

Wer nun aber meint, die 4000 Säugetierarten stünden gegenüber der Zahl der verschiedenen Bakterien doch gar nicht so schlecht da, sollte seinen Stolz einen Augenblick lang zügeln. Vor kurzem analysierte eine norwegische Wissenschaftlergruppe die Bakterienwelt in einem Gramm Erde aus einem Buchenwald und in einer ähnlichen Sedimentmenge von der norwegischen Küste. In beiden Fällen fanden die Wissenschaftler ungefähr 5000 Arten, und zwar ohne Überschneidungen zwischen den beiden Bodenproben. Die bisher beschriebenen 5000 Bakterienspezies sind also offenbar nur ein winziger Bruchteil der wirklichen Zahl.

Aber die Liste der bisher bekannten Arten führt nicht nur zu einer gewaltigen Unterschätzung der tatsächlichen Artenzahl, sondern sie ist auch in mehrfacher Hinsicht unausgewogen. Erstens spiegelt sich in ihr das durchaus nicht unnatürliche Interesse der Menschen an behaarten und gefiederten Geschöpfen wider.


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Die beherrschenden Gruppen in der Vielfalt der heute bekannten Lebensformen sind Insekten und Pflanzen, aber bei den Bakterien, Pilzen und anderen kaum untersuchten Gruppen ist eine Riesenzahl von Arten noch nicht entdeckt. 

Die Gesamtzahl aller Arten liegt irgendwo zwischen zehn und 100 Millionen.

(Nachgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Verleger von The Diversity of Life von Edward O. Wilson; Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, © 1992 by Edward O. Wilson.)


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Mit Vögeln und Säugetieren beschäftigen sich weitaus mehr Systematiker als beispielsweise mit Insekten, Fadenwürmern oder Bakterien. Deshalb werden zwar immer noch jedes Jahr neue Vogel- und Säugetierarten entdeckt, aber es sind nur wenige, und die Gesamtzahl dürfte letztlich nicht wesentlich über der heute bekannten liegen. Für die übrige Natur — das heißt für ihren größten Teil — gilt das nicht, wie man an dem Beispiel mit den Bakterien deutlich erkennt. Eine zweite Verzerrung ergibt sich, weil man sich vorwiegend auf die gemäßigten Klimazonen des Nordens konzentrierte, in denen die meisten Systematiker (Spezialisten für die Einteilung der Lebewesen) arbeiten. Die überwiegende Mehrheit aller Arten lebt in den Tropen, und dennoch kommen auf jede Art, die man dort kennt, zwei andere aus höheren nördlichen Breiten.

Einen der ersten Versuche, eine wissenschaftlich begründete Schätzung für die Zahl der Insektenarten abzugeben, unternahm der britische Ökologe Carrington Williams. Er veröffentlichte 1964 ein Buch mit dem Titel Patterns in the Balance of Nature (»Muster im Gleichgewicht der Natur«). Darin gelangte er mit einer Kombination aus lokalen Beobachtungen und Hochrechnungen zu einer Zahl von drei Millionen. In den darauffolgenden 20 Jahren sammelten die Freilandbiologen — meist in unabhängigen Untersuchungen — weitere Erkenntnisse über die unterschiedlichsten Lebensräume, darunter auch zuvor völlig unbekannte wie den Boden der Tiefsee. Daraufhin stiegen die Schätzungen für die Gesamtzahl der Arten auf mindestens zehn Millionen.

Dann folgte eines der dramatischsten Ereignisse in der biologischen Systematik: Terry Erwin von der Smithsonian Institution gab 1982 bekannt, es gebe wahrscheinlich allein 30 Millionen Insektenarten, die meisten davon im Kronendach der tropischen Regenwälder. Zu dieser Schätzung gelangte er, nachdem er die Insektenpopulation an einer großen Baumgruppe im Regenwald Panamas untersucht hatte. Er hatte zu diesem Zweck Insektengifte in den Baumkronen versprüht und dann die toten Tiere gezählt, die auf den Boden fielen. 


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Bei den Tieren, die der Wissenschaft bekannt sind, handelt es sich in der überwältigenden Mehrheit um Insekten. Wegen dieses Übergewichts sind die meisten Tierarten Landbewohner; die meisten Stämme dagegen (Stachelhäuter usw.), welche die höchsten Klassifikationseinheiten darstellen, leben im Meer.

(Nachgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Verleger von The Diversity of Life von Edward O. Wilson; Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, © 1992 by Edward O. Wilson.)

 


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Es war ein kühnes Unternehmen, aber obwohl es wissenschaftlich von großer Bedeutung war, blieb es weitgehend unbemerkt. Edward Wilson meinte dazu einige Jahre später: »Wenn die Astronomen jenseits des Pluto einen neuen Planeten entdecken würden, stünde die Nachricht auf der ganzen Welt in den Schlagzeilen. Bei der Entdeckung, daß die Welt des Lebendigen reichhaltiger ist als vermutet, ist das nicht der Fall, obwohl sie für die Menschheit viel wichtiger ist.«12

Seit Erwin seine Entdeckung bekanntgab, wächst das Interesse an der nicht beantwortbaren Frage. Auch diesmal war es kein koordiniertes Unternehmen, sondern es kam von Biologen, die unabhängig voneinander auf ihren eigenen Forschungsgebieten arbeiteten. So behauptet beispielsweise David Hawksworth vom International Mycologieal Institute im englischen Kew, die derzeitige Schätzung von 69.000 Pilzarten liege um mindestens das Zwanzigfache zu niedrig. Wie er zeigen konnte, kommen in den Lebensräumen Europas auf jede Art von Gefäßpflanzen etwa sechs Pilzarten; und da man ungefähr 300.000 solche Pflanzenspezies kennt, gibt es demnach vermutlich 1,8 Millionen Pilzarten. Und wenn noch mehr Pflanzenarten entdeckt werden, dürfte auch diese ohnehin hohe Zahl weiter steigen. Ähnliches gilt für die Nematoden, so Peter Hammond vom Museum of Natural History in London. Heute kennt man etwa 15.000 Arten der winzigen Fadenwürmer. Die Gesamtzahl der Arten dieser allgegenwärtigen Parasiten, die auf Tieren und Pflanzen sowie selbständig in Salz- und Süßwasser leben, dürfte sich nach Hammonds Berechnungen auf ungefähr 300.000 belaufen.

Solchen und anderen Schätzungen zufolge liegt die Gesamtzahl der Arten bei fast 50 Millionen, und selbst diese Zahl ist vielleicht noch zu niedrig. Robert May kommt in einer Berechnung, die er »kühn, aber nicht unbegründet« nennt, sogar auf 100 Millionen Arten. Er stützt sich dabei auf die Vorstellung, daß »auf jede Spezies von den beiden artenreichsten Organismengruppen, den Gliedertieren und den Gefäßpflanzen, zumindest ein Fadenwurm, ein Protozoon, ein Bakterium und ein Virus kommen, die allein bei ihr schmarotzen«.13)


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Ein Nest des Bleßhuhns Fulica chloropus (Linnaeus). Aus dem Museum Rouen.

 


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Ameisen kehren vom Kampf heim.


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Die Vogelspinne Mygale avicularia tötet einen Kolobri. (Maria Sibylla Merian)


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Der Laufkäfer Calosoma Inquisitor verfolgt einen Bombardierkäfer (Brachinus crepi-tans), der sich beim Rückzug verteidigt.

 

In jedem Fall dürfte heute klar sein, daß die meisten Arten, seien es nun insgesamt 30, 50 oder 100 Millionen, in den Tropen leben und sehr unauffällig sind. Die Welt der großen Wirbeltiere und Pflanzen, die wir täglich erleben, stellt nur einen Bruchteil der Vielfalt des Lebendigen dar. Wir erkennen die Gestalt der Vielfalt mit relativ wenigen großen und vielen kleinen Organismen, und wir wissen, daß dies unter anderem mit dem Energiefluß in den ökologischen Gemeinschaften zu tun hat. Aber das Ausmaß der Vielfalt können wir aus solchen Grundregeln nicht ableiten; es gibt in Ökologie und Evolutionsbiologie keine theoretische Grundlage für die Behauptung, die Erde könne bei der derzeitigen Verteilung der Kontinente eine, zehn, 30, 50 oder 100 Millionen Arten am Leben erhalten.

Alle diese Angaben über die Artenzahl sind mit großen Unsicherheiten behaftet, denn sie gründen sich immer auf eine Art Hochrechnung aufgrund von Freilandmessungen. Manche Berechnungen werden sich zwangsläufig als falsch erweisen, wenn sich herausstellt, daß die Verhältnisse zwischen den Artenzahlen (beispielsweise zwischen Pilzen und Pflanzen) in verschiedenen Gegenden der Erde unterschiedlich sind.


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Dennoch ist es der vernünftigste Weg, um zu Angaben über Artenzahlen zu gelangen. Die Biologen haben ungefähr 230 Jahre gebraucht, um drei Viertel von einer Million Insektenarten zu identifizieren und zu beschreiben; wenn es tatsächlich, wie Erwin schätzt, 30 Millionen gibt, hätten die Insektenspezialisten bei Beibehaltung der bisherigen Arbeitsweise noch Beschäftigung für etwa 10.000 Jahre. Die vollständige Erfassung aller Pflanzen Nord- und Südamerikas würde die Systematiker — ebenfalls bei der bisherigen Arbeitsgeschwindigkeit — etwa 400 Jahre lang mit Beschlag belegen, so eine Schätzung des Leiters der botanischen Gärten in Kew, Ghilean Prance.

Die Insekten- und Pflanzenspezialisten zählten nicht einfach nur Arten, sondern sie beschrieben sie auch. Hinter jedem Katalogeintrag verbirgt sich eine einzigartige Lebensform, ein Erbe aus Hunderten von Jahrmillionen der Evolution, in der wir nur ein kleiner Teil sind. Aber die Zahl der Einträge ist jämmerlich klein, und sie zu steigern, ist eine gewaltige Ausgabe, gemessen an den Mitteln, welche die abendländische Wissenschaft ihr bisher gewidmet hat. Es wirft schon ein betrübliches Licht auf den Wert, den wir der gewaltigen Vielfalt hier auf Erden beimessen, wenn May sagen muß: »Wir sind uns in der Größenordnung einer Zehnerpotenz unsicher, mit wie vielen Arten wir den Globus teilen.«

Sollen wir, wie Edward Wilson fordert, »nichts Geringeres anstreben als eine vollständige Zählung, einen kompletten Katalog des Lebens auf der Erde«?14) Ein solches Unternehmen wäre kostspielig, sicher, aber der Aufwand wäre geringer als der für die Sequenzierung des menschlichen Genoms, die 150 Millionen Dollar im Jahr verschlingt, oder für den Bau einer Weltraumstation, die insgesamt auf etwa 30 Milliarden Dollar kommt. 

Als Direktor der kenianischen Naturschutzbehörde, die ein knappes Jahr nach meiner Amtsübernahme in »Naturschutzdienst« umgetauft wurde, erlebte ich Tag für Tag, was es kostet, auch nur die auffälligsten Arten zu schützen. Und ich kann deutlich erkennen, daß eine Summe von beispielsweise 100 Millionen Dollar vielen Ländern helfen würde, die sich angesichts einer wachsenden Bevölkerung mit dem Schutz der natürlichen Tierwelt herumschlagen. 

Aber Wilsons ehrgeiziges Ziel ist lohnend: lohnend für die Wissenschaft und lohnend für die Menschheit. Als krönender Abschluß der Evolution, als vernunftbegabte Spezies haben wir die moralische Verpflichtung, soviel wie möglich über die »endlose Zahl der schönsten Formen« zu wissen, mit denen wir unsere Erde teilen.

 

Der Goliathkäfer Golianthus giganteus

150-151

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Richard Leakey 1995