Teil 3 Gleichgewicht der Natur ? Leakey 1995
Ökologische Lebensgemeinschaften sind nichts Freundlich-Harmonisches. Sie werden von vielerlei Kräften geformt, manche davon dem Chaos, andere dem Zufall entsprungen. Vor allem sind sie in ständigem, dynamischem Wandel begriffen. Die Menschen hatten in der historisch belegten Vergangenheit großen Einfluß auf solche Lebensgemeinschaften; daran wird deutlich, wie leicht Ökosysteme durch neu hinzukommende Arten gestört werden. Die heutige Misere der Elefanten zeigt nicht nur, welche Auswirkungen wir auf die Natur haben können, sondern sie offenbart auch, welche Herausforderung es bedeutet, komplexe ökologische Systeme zu schützen.
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Auf einer Reise quer über den Globus vom Pol zum Äquator würde man das erkennen, was zusammenfassend als »die unendliche Vielfalt der Natur« bezeichnet wurde. Von der eisigen Tundra zu den Almwiesen der Gebirge, von Wäldern und Feldern der gemäßigten Breiten zu den tropischen Regenwäldern und Savannen würde man ein riesiges Spektrum der verschiedensten ökologischen Gemeinschaften erleben. Diese Unterschiede sind für Nordamerikaner und Europäer ein wichtiger Beweggrund, jedes Jahr in großer Zahl zu uns nach Kenia zu kommen.
Der Kontrast zwischen den Lebensgemeinschaften von Pflanzen, Insekten, Vögeln und anderen Tieren in der Heimat und in den bereisten Gebieten ist gewaltig. Das liegt nicht nur daran, daß die Zahl der Arten von den hohen zu den niederen Breiten zunimmt; auch das Wesen der Arten in den Lebensgemeinschaften ändert sich. (In tropischen Ökosystemen findet man keine Eisbären, und große Primaten — vom Menschen einmal abgesehen — gelten nicht als natürlicher Bestandteil der Tierwelt in gemäßigten und polaren Gebieten.)
Diese großräumige Verteilung ergibt sich natürlich zum Teil aus der Anpassung der Arten an die örtlichen Umweltbedingungen, insbesondere an Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Eine lokale ökologische Lebensgemeinschaft ist also eine Ansammlung von Arten, denen bei allen individuellen Unterschieden eine Anpassung gemeinsam ist: die Anpassung an die Gegebenheiten der örtlichen Umwelt.
Um eine — zwar nicht unendliche, aber doch großartige — Vielfalt zu erleben, muß man aber kein Globetrotter sein. Wo man sich auch auf der Erde befindet, immer ist man von ökologischen Gemeinschaften umgeben, die sich voneinander unterscheiden, und zwar manchmal sehr grundlegend.
Ich habe bereits die dramatischen Gegensätze zwischen den Ökosystemen des Rift-Tals in Kenia beschrieben. Auch dort erkennt man ohne weiteres die Ursachen der Vielfalt: Von der Sohle des Tals bis zu den höchsten Punkten seiner Flanken herrschen unzählige Mikroklimata, die den verschiedensten Arten höchst gegensätzliche Lebensbedingungen bieten. Evolution und Anpassung wirken in allen Größenordnungen und schaffen Verteilungsmuster aller Größenordnungen.
Die Ökologie hat unter anderem das Ziel, »die Muster der natürlichen Ökosysteme aufzuspüren und die Kausalprozesse zu erklären, die ihnen zugrunde liegen«, so eine Formulierung des Ökologen John Wiens von der University of New Mexico. Der wichtigste Prozeß bei dem, was ich bisher beschrieben habe, ist die Anpassung an örtliche Gegebenheiten — das jedenfalls habe ich nahegelegt. Aber wer schon einmal aufmerksam durch einen Wald oder über eine Wiese gestreift ist, der weiß, daß Natur nichts Gleichförmiges, sondern ein Flickenteppich ist.
Eine Zeitlang sieht man auf dem Spaziergang immer wieder eine Baumart, die später völlig fehlt; eine Blumenart kommt am südlichen Ende der Wiese nur selten vor, im Norden ist sie häufig. Dieser Flickenteppich der Natur ist ein Flickenteppich ähnlicher, aber doch unterschiedlicher ökologischer Gemeinschaften. Welche Vorgänge haben diese Verteilung geprägt? In den Umweltbedingungen an den beiden Enden der Wiese gibt es keine erkennbaren Unterschiede, warum also sind die Ökosysteme nicht gleich?
Vielleicht übersieht auch der aufmerksamste Beobachter, daß es doch entscheidende Unterschiede gibt, beispielsweise in der chemischen Zusammensetzung des Bodens oder im Grundwasserspiegel. Solche Erklärungen sind bei manchen Ökologen sehr beliebt; so schrieb Seth Rice, Biologe an der University of North Carolina, in einem wichtigen Übersichtsartikel: »Alle Umweltbedingungen in allen Ökosystemen sind räumlich und zeitlich wandelbar. Das mosaikartige Bild der Umwelt ist die Folge allgegenwärtiger physikalischer und chemischer Abstufungen.«1 Mit anderen Worten: Die biologischen Verteilungsmuster werden auf dem Wege der lokalen Anpassung von den Verteilungsmustern der physikalischen Umwelt bestimmt und spiegeln diese wider.
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Stimmt das wirklich? Intuitiv erscheint es plausibel und sogar offenkundig, daß Ökosysteme auf diese Weise geformt werden, aber in den letzten Jahren hat sich gezeigt, daß hier auch andere Kräfte mitwirken, Kräfte, die weniger leicht zu erkennen sind und auf den ersten Blick sogar unplausibel erscheinen.
Das Gebiet, auf dem wir uns hier bewegen — die Ökologie der Lebensgemeinschaften —, stellt vermutlich einige der wichtigsten und am wenigsten lösbaren wissenschaftlichen Probleme. Im Kern geht es um eine einzige einfache Frage: Wie wird eine ökologische Gemeinschaft zu dem, was sie ist? Eine Antwort, die sich lange Zeit großer Beliebtheit erfreute, lautet: Die Gemeinschaft ist so, weil sie so sein muß, weil die örtlichen Gegebenheiten es so vorschreiben. Und, was noch wichtiger ist: Die Mitglieder der Gemeinschaft sind dieser Annahme zufolge gemeinsam so eng an die Gegebenheiten angepaßt — und damit auch so abhängig voneinander —, daß eine Gemeinschaft mit anderer Artenzusammensetzung nicht überleben könnte.
In dieser Form ist die Aussage vielleicht ein wenig streng formuliert, aber sie gibt das Wesentliche eines großen Teils der derzeitigen ökologischen Denkweise wieder. Im Zusammenhang mit dieser Ansicht über den grundlegenden Aufbau ökologischer Gemeinschaften steht auch die Vorstellung vom »Gleichgewicht der Natur«.
Auch dieser Begriff und seine Folgerungen erscheinen intuitiv vernünftig und sogar beruhigend. Wenn die Ökosysteme so sind, wie sie sein müssen, dann folgt daraus, daß die Natur sie schnell wiederherstellt, wenn sie aus irgendeinem Grund gestört werden.
Vor einigen Jahren faßte Fairfield Osborn, der Sohn von Henry Fairfield Osborn, diese Einstellung in seinem Buch Our Plundered Planet so zusammen: »Natur mag etwas Schönes sein und ist sogar eine Symphonie, aber über und unter und in ihrem unwandelbaren Wesen, ihren Abständen, ihrer scheinbaren Ruhe und Unveränderlichkeit arbeitet eine aktive, zielgerichtete, koordinierte Maschine.«
Die Maschine hält die Gemeinschaften in ihrem Gleichgewichtszustand. Der Ausdruck »Gleichgewicht der Natur« wurde in Ökologen- und Laienkreisen zu einer eindringlichen Metapher für die beobachtete grundlegende natürliche Harmonie, die das Gefühl erweckt, die Welt, die wir erleben, sei richtig.
*detopia: Osborn bei detopia
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Die Folge war, daß der Ökologie eine Zeitlang der Geruch des Mystischen anhaftete. Aber selbst als die Mystik vor ein paar Jahrzehnten verschwand, blieb der Ausdruck erhalten. Nachdem man ihn aller Vorstellungen von Absicht entkleidet hatte, bezeichnete er die Fähigkeit einer ökologischen Gemeinschaft, sich einer Störung zu widersetzen oder sich von ihr zu erholen, eine Eigenschaft, die man nun auch in den objektiveren Begriff Stabilität faßte. Aber ob man nun »natürliches Gleichgewicht« oder »Stabilität« sagt: Wie Stuart Pimm anmerkt, »haben beide Begriffe unverkennbar etwas Verwaschenes«.2
Wie sich eine ökologische Gemeinschaft zusammenfindet, ist ebenso eine immer noch unbeantwortete Frage wie die nach dem Verhalten und den Eigenschaften der bestehenden Gemeinschaften. Das sind unglaublich komplizierte Themen, denn sie enthalten viele Variablen (das heißt einzelne Arten), die auf vielerlei Weise in Wechselwirkung treten können — und das Ganze spielt sich unter häufig recht turbulenten physikalischen Umweltbedingungen ab. Deshalb gibt es ein riesiges, eigentlich sogar unendliches Spektrum möglicher Verteilungsmuster, und herauszufinden, warum manche davon sich ausbilden und andere nicht, ist eine entmutigende Aufgabe.
Das alles mag sehr theoretisch klingen, und einerseits besteht auch der starke Drang zu verstehen, wie die Natur funktioniert und woher die biologische Vielfalt stammt, zu der auch wir gehören. Aber diese Kenntnisse sind auch unentbehrlich für unsere Bestrebungen, die biologische Vielfalt zu schützen und den unendlichen Reichtum der Natur zu erhalten. So sollten wir zum Beispiel nicht nur in der Lage sein, die Artenzusammensetzung der Lebensgemeinschaften zu erklären, sondern wir müssen auch verstehen, warum die Populationsgröße der einzelnen Arten innerhalb der Gemeinschaften schwankt. Wir müssen in Erfahrung bringen, warum manche Gemeinschaften für Störungen — besonders für solche, die vom Menschen verursacht werden — anfällig sind, während andere ihnen widerstehen.
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Wir müssen wissen, warum manche Gemeinschaften sich schnell von Zerstörungen erholen, während das bei anderen sehr lange dauert. Wir müssen herausfinden, warum fremde Arten in manche Gemeinschaften leicht einwandern können, in andere dagegen nicht, und wir müssen die Folgen solcher Verschiebungen einschätzen. Wir müssen verstehen, welche Arten vom Aussterben bedroht sind und welche in ihren jeweiligen Lebensgemeinschaften eine so große Bedeutung haben, daß ihr Verschwinden zu einer Lawine weiterer Aussterbeereignisse führt. Alle diese Fragen nehmen in den Lehrbüchern der Ökologen und den Handbüchern der Naturschützer einen gleichermaßen wichtigen Platz ein.
Am Anfang des vorliegenden Kapitels steht eine genauere Untersuchung einer in jüngster Zeit gewonnenen Erkenntnis, die der Intuition zu widersprechen scheint. Sie betrifft die Gründe, warum die Populationen der Arten in der Weise schwanken, wie man es beobachtet: manchmal regelmäßig, manchmal heftig und unberechenbar. Das führt uns unmittelbar zu der Einsicht, daß die Natur meist keineswegs im Gleichgewicht ist, sondern sich chaotisch verhält. Der eine oder andere mag ein derart beunruhigendes Bild von der Natur vielleicht nicht akzeptieren, denn es scheint aller grundlegenden Harmonie zu entbehren.
Anschließend werde ich erörtern, wie man in der Ökologie einige Vorgänge, durch die sich Lebensgemeinschaften bilden, kennengelernt hat; zu diesem Zweck waren die Wissenschaftler meist gezwungen, umfangreiche Computermodelle zu entwickeln. Wir werden sehen, daß ökologische Gemeinschaften einen eigenen Geist zu haben scheinen, denn sie verbessern sich im Laufe der Zeit und werden gegenüber dem Eindringen fremder Arten immer widerstandsfähiger. Ich werde auf die Dynamik dieses Eindringens zu sprechen kommen — auf die Frage, was einen erfolgreichen Eindringling ausmacht und wovon die Auswirkungen solcher Ereignisse abhängen. Das ist ein wichtiges Thema für den Naturschutz. Und schließlich werde ich einen warnenden Vorschlag machen, wie man als Naturschützer für die Stabilität der Ökosysteme sorgen sollte — nämlich indem man ihnen gestattet, sich zu wandeln.
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Auch das widerspricht wie so vieles, das man über die Ökologie der Lebensgemeinschaften erfahren hat, der Intuition. Die Natur ist nicht immer so, wie sie zu sein scheint.
Im National Museum of Natural History der Smithsonian Institution in Washington gibt es eine Vitrine, die jedem Besucher einen kalten Schauer über den Rücken laufen läßt: Sie zeigt eine verschmutzte Küche, die über und über mit Küchenschaben bedeckt ist — es sind Hunderttausende, vielleicht Millionen. Wer es schafft, den unmittelbaren Ekel zu überwinden und die daneben angebrachte Beschriftung zu lesen, der erfährt, daß dieses Insektenheer ausschließlich aus den Nachkommen besteht, die ein einziges Weibchen während seines Lebens hervorbringen kann — zumindest theoretisch. Glücklicherweise wird diese potentielle Fruchtbarkeit nur selten in vollem Umfang Wirklichkeit. Wie Darwin schon in der Entstehung der Arten feststellt, könnten die meisten Lebewesen so viele Nachkommen hinterlassen, daß nicht alle tatsächlich überleben können.
Irgend etwas wirkt diesem Potential entgegen. (Wer keine Küchenschaben mag, wird dafür dankbar sein.) Zu diesem Etwas gehören begrenztes Nährstoffangebot, Konkurrenten, natürliche Feinde, widrige Klimabedingungen, Krankheiten und andere Einflüsse. Aber auch wenn die durchschnittliche Individuenzahl über längere Zeit hinweg relativ stabil bleibt, pendelt sie kurzfristig um den Mittelwert. Manchmal handelt es sich dabei um geringe, manchmal aber auch um dramatische Schwankungen: Die Population explodiert und bricht dann zusammen.
Wenn man die Dynamik ökologischer Gemeinschaften in kurzen Zeiträumen — das heißt über einige Jahrzehnte hinweg — verstehen will, ist es entscheidend, daß man genau herausfindet, welche Kräfte für die Populationsschwankungen der einzelnen Arten sorgen. Robert May betont: »Solche Kenntnisse sind nicht nur von grundsätzlicher Bedeutung, sondern sie lassen sich auch praktisch anwenden: Man kann versuchen, die Auswirkungen natürlicher oder vom Menschen verursachter Veränderungen vorauszusagen, wie sie zum Beispiel eintreten, wenn man eine Population dezimiert oder wenn sich die Klimabedingungen ändern.«3
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Unter der Überschrift »Gleichgewicht der Natur« sind die Populationsschwankungen einfach zu erklären — zwar nicht im Detail, aber zumindest im Prinzip. Man nimmt an, daß die Populationen der einzelnen Arten und die Gemeinschaften, zu denen sie gehören, sich im Gleichgewicht oder in seiner Nähe befinden. Ohne Störungen durch äußere Einflüsse erreichen die Wechselwirkungen zwischen Pflanzen, Pflanzen- und Fleischfressern ein Fließgleichgewicht, in dem die Populationen genau ausbalanciert sind. Das ist Fairfield Osborns gleichmäßig brummende »koordinierte Maschine«.
Das begrenzte Nahrungsangebot, die wechselseitige Konkurrenz, die Beute der Räuber und sogar Krankheiten — all das gehört dazu, damit die Maschine funktioniert. Hat eine Artengemeinschaft das Gleichgewicht erreicht, ist das Klima der wichtigste störende Einfluß, entweder in Form langfristiger Verschiebungen oder aber als plötzliche, heftige Episoden wie Stürme oder Temperaturschwankungen. Klimaveränderungen begünstigen manche Arten und sind für andere verheerend. Dezimiert beispielsweise ein Sturm die Population einer bestimmten Pflanzenart, leiden auch die Pflanzenfresser, die von ihr abhängig sind, und das wiederum vermindert das Nahrungsangebot für die Raubtiere, die sich von den Pflanzenfressern ernähren, so daß die Population zusammenbricht. Gleichzeitig haben andere Arten, die den Räubern ebenfalls als Beute dienen, bessere Überlebenschancen, so daß deren Population wächst. Ein einziger Sturm kann also dazu führen, daß die Populationen einiger Arten explodieren, während andere zusammenbrechen.
Bei solchen Populationsschwankungen geht das Gleichgewicht für einige Zeit verloren. Die Individuenzahlen pendeln eine Zeitlang um den Mittelwert, aber schließlich stellt sich die Balance wieder ein — bis zur nächsten Störung. Da ökologische Gemeinschaften nur selten mit längeren Phasen ohne äußere Erschütterungen gesegnet sind, schwanken Populationen die meiste Zeit. Das klassische Beispiel in der ökologischen Fachliteratur ist die Geschichte des kanadischen Luchses. Über 200 Jahre lang, von 1735 bis 1940, fing man die Luchse wegen ihres Fells, und die Zahlen der von den Handels-
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firmen aufgekauften Pelze waren für die Ökologen ein beispiellos gutes Datenmaterial, um die Populationsentwicklung bei dieser Art nachzuvollziehen. In den Befunden erkennt man eine deutliche Gesetzmäßigkeit: Die Luchspopulation erlebte dramatische Phasen der Zu- und Abnahme. Sie zeigte zum Beispiel zwischen 1830 und 1910 alle neun oder zehn Jahre einen Höhepunkt, um dann schnell zusammenzubrechen. Das Muster wiederholte sich ziemlich regelmäßig, aber die Zahl der Tiere an den Höhepunkten schwankte beträchtlich, nämlich etwa zwischen 10.000 und 60.000.
Als die Ökologen zum erstenmal diese Entwicklung analysierten, nahmen sie an, das Muster sei die Folge der Räuber-Beute-Beziehung zwischen Luchsen und Schneeschuhhasen, ihren wichtigsten Beutetieren. Wenn ein Räuber die Population seiner Beutetiere stark dezimiert hat, nimmt sein Nahrungsangebot drastisch ab, und dann wird auch die Population der Räuber kleiner. Wenn auf diese Weise der Druck durch die Räuber nachläßt, kann sich die Population der Beuteart erholen, und daraufhin vermehren sich auch die Räuber wieder. Nach einer solchen einfachen Oszillation sah es auch bei kanadischen Luchsen und Schneeschuhhasen aus.
Aber wie sich herausstellte, war die Sache nicht so einfach. Die Hasenpopulation ging wegen Unterschieden in ihrer Nahrungsversorgung auf und ab, und die Luchspopulation machte offenbar die Schwankungen mit. Diese Vorstellung erscheint durchaus logisch und verlängerte die Kette der Wechselwirkungen. Aber der Verlauf war nicht vollkommen regelmäßig und sah an manchen Stellen sogar völlig ungeordnet aus. Eine solche Kombination aus einer gewissen Regelmäßigkeit und etwas scheinbar Zufälligem ist für die Populationsschwankungen vieler Arten sogar geradezu typisch. Insektenplagen folgen dieser Gesetzmäßigkeit ebenso wie die Populationsexplosionen bei den Seeigeln im Nordatlantik und bei den Pazifischen Taschenkrebsen im Nordwestpazifik. Wohin man in den ökologischen Gemeinschaften auch blickt, erkennt man nicht nur Populationsschwankungen, sondern es sieht auch so aus, als erfolgten die Veränderungen zufällig. Vom Meeresplankton bis zu den Elefanten und von den Motten zu den Mäusen bietet sich das gleiche Bild.
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Das klassische Beispiel für eine Art mit regelmäßig schwankender Individuenzahl ist der Luchs. Früher glaubte man, die Ursache sei die ungleichmäßige Wechselbeziehung zu den Schneeschuhhasen, den wichtigsten Beutetieren der Luchse. Wie man jedoch in jüngster Zeit erkannt hat, ist die Ursache in Wirklichkeit die Beziehung zwischen den Hasen und ihren Nahrungspflanzen; die Population der Luchse ist mehr oder weniger passiv vom Bestand an Hasen abhängig. |
Wie läßt sich das unter dem Gesichtspunkt des natürlichen Gleichgewichts und der Populationsbalance erklären? Die Antwort ist einfach: Alles, was man in der Populationsentwicklung beobachtet — sei es nun Regelmäßigkeit, scheinbare Zufälligkeit oder eine Kombination aus beidem —, gilt als unmittelbare Folge äußerer Kräfte wie zum Beispiel Klimaveränderungen. Die Tatsache, daß die Populationsentwicklung manchmal unberechenbar ist, zeigt nur, wie komplex diese Störungen sind. So dachte man zumindest.
Seit etwa 20 Jahren wird diese Argumentation in Frage gestellt. Vielleicht, so die Spekulation einiger Ökologen, läßt auch irgend etwas in der inneren Dynamik der Lebensgemeinschaften die Entwicklungsmuster entstehen.
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Vielleicht war die scheinbare Zufälligkeit kein Zufall, sondern ein Aspekt des Phänomens, das man als Chaos bezeichnet. Wenn man hört, ein System sei chaotisch, nimmt man meist an, es sei vom Zufall bestimmt und sein wirres Verhalten habe keine einfache, analysierbare Grundlage. Aber wie jeder weiß, der das Buch Chaos von James Gleick gelesen hat, kennt man in der Mathematik seit einiger Zeit Systeme, die zwar wirr und nicht vorhersagbar, aber nicht zufällig sind. Das Verhalten solcher Systeme läßt sich mit mathematischen Gleichungen oft recht einfach beschreiben. Was dabei das Paradoxe ist: Obwohl das System mathematischen Regeln unterliegt, kann sein Verhalten höchst komplex und praktisch nicht vorhersagbar sein. Damit ist grob und einfach gesagt, was die Mathematiker unter deterministischem Chaos verstehen.
Chaotische Systeme kennt man heute in vielen Bereichen der Physik, so bei der Entstehung des Wetters und bei Turbulenzen in Flüssigkeitsströmungen. Kaum jemandem ist aber klar, daß Populationsschwankungen in ökologischen Gemeinschaften zu den ersten Phänomenen gehörten, die man als möglichen Ausdruck chaotischen Verhaltens untersuchte. Genau das tat Robert May vor 20 Jahren, und dann beschrieb er seine Arbeiten in der Fachzeitschrift Nature in einem Aufsatz, der zum Klassiker wurde. Die Biologen wagten sich nur langsam auf den Weg, den May aufgezeigt hatte, vor allem weil sie an der Vorstellung vom Gleichgewicht der Natur und den ausbalancierten Populationen hingen, zum Teil aber auch weil derartige biologische Fragestellungen weitaus komplexer und schwieriger zu analysieren sind als jedes physikalische System. May schrieb einmal: »Für manche Ökologen hat das [Chaos] ein Flair von schwarzer Magie.«4 Besessen von der Vorstellung vom Gleichgewicht, suchten die Ökologen weiterhin nach Argumenten, die dafür sprachen, und ignorierten mit schöner Regelmäßigkeit das unberechenbare Verhalten, das daraufhinwies, daß sich in Wirklichkeit etwas anderes abspielte.
In den letzten ein oder zwei Jahren hat man aber in Freilandexperimenten und theoretischen Modellen die lange gesuchten Indizien für echtes chaotisches Verhalten in ökologischen Gemeinschaften entdeckt.
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Computersimulation für die Entwicklung einer Population Pazifischer Taschenkrebse. Gelegentlich schwankt der Bestand stark, auch wenn es keinen äußeren Auslöser gibt. Hier wird deutlich, welche unerwarteten und unberechenbaren Auswirkungen das Chaos in lebenden Systemen haben kann. (Mit freundllicher Genehmigung von Alan Hastings und Kevin Higgins.)
Heute sind wir gezwungen, die Natur und die formenden Kräfte für das, was wir sehen und erleben, unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Das widerspricht zutiefst unserem Gefühl und ist deshalb nur schwer zu akzeptieren.
Mitte der achtziger Jahre stellte David Tilman, ein Ökologe der University of Minnesota, die Frage: Wie beeinflussen unterschiedliche Stickstoffkonzentrationen im Boden das Wachstum einer amerikanischen Wildgrasart? Als er das Experiment plante, ging es ihm nicht um chaotische Vorgänge, aber er war so aufgeschlossen, daß er sie erkannte, als er sie sah. Bei geringem Stickstoffgehalt im Boden war das Wachstum über fünf Jahre hinweg konstant, unabhängig davon, ob er die Samen reichlich oder sparsam ausstreute.
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Bei hoher Stickstoffkonzentration ergab sich jedoch ein ganz anderes Bild, zu dem auch das klassische Anzeichen für chaotisches Verhalten gehörte: wildes, unberechenbares Auf und Ab. Einmal schrumpfte die Graspopulation auf ein Sechstausendstel ihrer anfänglichen Größe, das heißt fast bis auf Null. Die Beschreibung der Vorgänge, die sich auf dem Feld tatsächlich abspielten, hört sich banal an: Der viele Stickstoff im Boden sorgte für schnelles, üppiges Wachstum; im Winter starben die Pflanzen ab und bedeckten den Boden mit einer dicken Abfallschicht, die im folgenden Frühjahr das Wachstum verhinderte; so kam es zu einem Auf und Ab von wechselnder Stärke. Mäßiges Wachstum, angetrieben von mäßigem Stickstoffgehalt, führte zu einer stetigeren Populationsentwicklung. Als Tilman seine Befunde Ende 1991 veröffentlichte, war die Reaktion eine Mischung aus Verblüffung und Begeisterung.
Dieser Bereich der Ökologie ist stark von theoretischen Arbeiten geprägt, nicht zuletzt weil Experimente, wie Tilman sie durchführte, in Planung und Ausführung nicht einfach sind. Wie ich bereits erwähnt habe, ist die experimentelle Handhabung von Ökosystemen von berüchtigter Schwierigkeit. Im gleichen Jahr, als Tilman seine Befunde bekanntgab, veröffentlichten Robert May und zwei seiner Kollegen die Ergebnisse eines mathematischen Modells mit einem parasitenartigen Organismus und seinem Wirt, die sich ganz ähnlich verhielten wie Tilmans System. Die Berechnungen zeigten unberechenbare Veränderungen der Population im Verlaufe vieler »Generationen«, hervorgerufen ohne äußere Störungen allein durch die Wechselwirkungen zwischen den »Arten«. Das Modell beschrieb die Arten und ihre Beziehungen in mathematischen Gleichungen. Die komplexe Dynamik des Systems hatte ihren Ursprung im System selbst und wurde ihm nicht von außen aufgezwungen. Ebenso wichtig ist in diesem Fall, daß das scheinbar zufällige, unberechenbare Verhalten sich aus einfachen mathematischen Beziehungen ergab — ein Anzeichen für echtes Chaos. Etwas Ähnliches beobachteten Alan Hastings und Kevin Higgins von der University of California in Davis später auch an ihrem Modell der Population von Pazifischen Taschenkrebsen.
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Sie beschrieben — wiederum mit einfachen mathematischen Gleichungen — die Spezies und ihr Verhalten entlang eines theoretischen Küstenabschnitts. Wieder zeigte sich ein zufälliges, unberechenbares Verhalten mit Phasen der Stabilität und Zeiten heftiger Populationsschwankungen. »Bevölkerungsexplosionen ohne jede Veränderung der biologischen oder physikalischen Bedingungen dürften eine grundlegende Eigenschaft dieser Dynamik sein«, schrieben sie Anfang 1994 in ihrer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Science.5
Der Nachweis, daß Populationsgrößen durch Wechselwirkungen innerhalb des Systems und ohne äußere Veränderungen drastisch und unvorhersehbar schwanken können, war ein wichtiger Schritt zur Aufklärung der Gesetzmäßigkeiten, die wir in der Natur beobachten. »Die Vorstellung vom Chaos ist amüsant und gleichzeitig ein wenig bedrohlich«, meinen William Schaffer und Mark Kot, zwei Ökologen der University of Arizona, die viel dazu beigetragen haben, die Kenntnisse über das Chaos in Ökosystemen zu erweitern. »Einerseits bietet sie eine deterministische Alternative zu der Idee, Populationsschwankungen seien ausschließlich die Folge äußerer Störungen. Gleichzeitig könnte die Chaostheorie aber auch das Begriffsgebäude der heutigen Ökologie ins Wanken bringen.«6
Die ökologischen Vorstellungen werden durch solche Erkenntnisse mit Sicherheit erschüttert, aber unter dem Gesichtspunkt der biologischen Vielfalt ist Chaos eine positive Kraft. Wie ich bereits erklärt habe, können in stabilen Populationen wenige Arten oder auch nur eine einzige die Oberhand gewinnen. Durch Populationsschwankungen hingegen können die Lebensgemeinschaften zu einem größeren Artenreichtum gelangen. Wie man daran erkennt, trägt das scheinbar zufällige Verhalten, das sich aus der inneren Dynamik der ökologischen Gemeinschaften ergibt, zur Verstärkung der Vielfalt bei.
Das war eine unerwartete Entdeckung, aber offenbar hält die Chaostheorie für die Ökologen noch mehr Überraschungen bereit. Zu Beginn dieses Kapitels habe ich die mosaikartige Struktur vieler Lebensräume beschrieben, wobei die Mosaiksteine ähnliche, aber unterschiedliche ökologische Gemeinschaften darstellen.
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Nach der herkömmlichen Vorstellung spiegeln sich in diesen Unterschieden kleine, aber wichtige Abweichungen der physikalischen Umweltbedingungen wider. Die Chaostheorie bietet eine andere Erklärung. Wie Robert May und seine Kollegen mit ihrem Modell von Parasiten und Wirt entdeckten, schwankt im Laufe der Zeit nicht nur die Größe der Population, sondern sie kann auch im Raum ungleichmäßig — mosaikartig — verteilt sein. Sie arbeiteten mit Modellen, in denen drei oder mehr Arten in einer theoretischen Landschaft verteilt waren, und stellten dabei fest, daß die Arten durch die Dynamik der Wechselwirkungen oft getrennt bleiben. »Im Extremfall führte das ... zur Entstehung kleiner, relativ unbeweglicher >Inseln< innerhalb des Lebensraumes, die wie isolierte, begünstigte Bereiche aussahen«, schrieben sie in ihrem Fachartikel, der im Sommer 1994 in Nature erschien.7
Schwankungen in der Verteilung der Arten innerhalb der Lebensräume (beispielsweise der Bäume im Wald oder der Blumen auf den Wiesen) kommen häufig vor und wurden mit Unterschieden in Konkurrenz- und Ausbreitungsfähigkeit erklärt, das heißt als Teil der Reaktion auf die Verteilung der physikalischen Bedingungen in dem Lebensraum. Aus der Sicht der Chaostheorie, die der Intuition widerspricht, reicht diese Erklärung nicht aus. Die mosaikartige Zusammensetzung, die man in der Natur beobachtet, kann sich aus der inneren Dynamik des Ökosystems auch dann ergeben, wenn das Umfeld der verschiedenen Gemeinschaften genau gleich ist.
Wir sehen also, daß die Natur sich keineswegs im Gleichgewicht befindet; sie ist keine »koordinierte Maschine«, die stets nach Ausgleich strebt. Das Ganze ist wesentlich interessanter. Zwar ist nicht zu leugnen, daß die Anpassung an örtliche physikalische Gegebenheiten und an äußere Kräfte wie das Klima dazu beitragen, der Welt ihre Gestalt zu geben. Aber ebenso offenkundig ist auch, daß die beobachteten räumlichen und zeitlichen Verteilungsmuster zu einem großen Teil aus der Natur selbst erwachsen. Das ist eine aufregende Erkenntnis, aber sie bedeutet auch, daß die Arbeit der Naturschützer noch schwieriger wird.
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Früher glaubte man, die Populationsgröße lasse sich steuern, indem man die äußeren Bedingungen beeinflußte (soweit das möglich war). Heute müssen wir erkennen, daß diese Möglichkeit nicht so plausibel ist, wie es früher schien. Die Natur in ihrer unendlichen Vielfalt und mit ihren unendlich komplizierten Abläufen zu verstehen und dann zu akzeptieren und einzugestehen, daß alle Versuche, sie zu lenken, so gut wie nutzlos sind, ist viel besser, als sich aus Unkenntnis vorzustellen, ein solcher Einfluß sei möglich.
Im Jahr 1789 brachte Gilbert White, ein Geistlicher in Südengland, ein wunderhübsches kleines Buch mit dem Titel The Natural History of Selborne (Die Naturgeschichte von Seiborne) heraus. Der bescheidene Band, der auf der Liste der am häufigsten nachgedruckten englischsprachigen Bücher an vierter Stelle steht, enthält eine Sammlung scharfsichtiger Naturbeobachtungen aus dem Dorf, in dem White als Seelsorger lebte, und seiner Umgebung. Natürlich bediente er sich nicht der Sprache der heutigen Ökologie; er sprach nicht von Lebensgemeinschaften, Nahrungsnetzen und trophischen Ebenen. Aber er erkannte die Wechselwirkungen zwischen den Arten und die unterschiedlichen Ebenen ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, und damit war er bei einer entscheidenden Frage, die auch heute die Ökologen beschäftigt wie keine andere: Was bestimmt darüber, daß eine Lebensgemeinschaft so wird, wie sie ist? Genauer läßt sie sich in eine grobe Alternative fassen: Geschieht es durch Planung oder durch Zufall? Gezielter kann man fragen: Haben die Arten in einer bestimmten Lebensgemeinschaft etwas Besonderes, so daß diese und nur diese Artenzusammensetzung für den Lebensraum optimal ist? Mit anderen Worten: Was für eine Ordnung liegt Darwins »Fleckchen Boden« zugrunde?
Durch Betrachten der wirklichen Welt läßt sich diese Frage nicht ohne weiteres beantworten, denn der zeitliche und räumliche Umfang der Ökosysteme entzieht sich jeder einfachen Analyse. Deshalb spielen sich die bahnbrechenden Arbeiten der Ökologie derzeit zu einem großen Teil in Computern ab, in denen die Wissenschaftler experimentelle Ökosysteme simulieren. Im Vergleich zur Natur sind solche Systeme sehr einfach, aber in den letzten Jahren haben sie neue Erkenntnisse geliefert, die wie der Folgerungen der Chaostheorie entschieden der Intuition widersprechen.
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Vor etwa zehn Jahren bauten beispielsweise Stuart Pimm und Mac Post an der University of Tennessce ein solches Ökosystem zusammen, zu dem sie jeweils eine Art nach der anderen — Pflanzen, Pflanzenfresser und Fleischfresser — hinzufügten. Jede Art wurde mathematisch mit einer Sammlung von Verhaltensweisen beschrieben, zu denen Typ und Größe sowie Platz- und Nahrungsbedarf gehörten. Damit vollzogen Pimm und Post im Computer nach, was in der Natur bei der Besiedelung jungfräulicher Gebiete geschieht, beispielsweise nach einem Waldbrand oder auf einer neuentstandenen Vulkaninsel. Eine ökologische Gemeinschaft findet sich langsam zusammen; den Vorgang nennt man Sukzession: Er beginnt mit den einfachsten Lebewesen, die in einem verödeten Lebensraum gedeihen können, und allmählich kommen immer mehr Arten hinzu, die auf die bereits vorhandenen angewiesen sind. Pflanzenfresser können zum Beispiel nicht dazugehören, solange sich keine Pflanzen angesiedelt haben, und Raubtiere sind erst möglich, wenn die Beutetiere vorhanden sind.
In dem Computermodell kamen neue Arten nach dem Zufallsprinzip zu der Lebensgemeinschaft hinzu. Es gab keine Versuche, dem System eine bestimmte Zusammensetzung zu verleihen, sondern es sollte sich von selbst entwickeln. Und wie in der Natur mußten die Pflanzen vor den Pflanzenfressern und diese vor den Fleischfressern vorhanden sein. Die Lebensgemeinschaft baute sich nach einer verblüffenden Dynamik auf. Anfangs konnte man leicht neue Arten hinzufügen (vorausgesetzt, sie waren ökologisch plausibel) . Aber je mehr die Gemeinschaft wuchs (das heißt je mehr Arten sie umfaßte), desto schwieriger wurde es für neue Arten, sich einzufügen. Als das Ökosystem aus etwa zwölf Arten bestand, wurde die Einwanderung recht schwierig, und wenn sie gelang, führte sie oft zum Verlust einer oder mehrerer der zuvor vorhandenen Arten. Das erinnerte an Darwins Vergleich mit den Keilen, wonach die Arten dicht gedrängt sind, so daß jedesmal, wenn man einen neuen Keil hineintreibt, ein anderer herausgedrückt wird.
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Ökologisch ausgedrückt, beobachteten Pimm und Post den Erfolg fremder Arten, die in eine Gemeinschaft einwanderten, und ihre Auswirkungen auf diese Gemeinschaft. In artenarmen Gemeinschaften gelang die Einwanderung leicht, bei hoher Artenzahl war sie jedoch schwierig. Der britische Ökologe Charles Elton hatte schon vor über 30 Jahren die Vermutung geäußert, daß es sich in der Natur genauso verhält. Aber warum?
Nach der herkömmlichen Erklärung werden mit zunehmender Artenzahl in einer Gemeinschaft immer mehr ökologische Nischen besetzt. Ein potentieller Einwanderer, der eine bereits besetzte Nische vorfindet, hat es schwerer, sich durchzusetzen, als wenn die Nische noch frei ist. Im ersten Fall muß der Eindringling die vorhandene Art im Konkurrenzkampf verdrängen, um zu einem Teil der Gemeinschaft zu werden; im zweiten ist das nicht notwendig. Das erscheint ökologisch plausibel, ist aber offensichtlich falsch. Der potentielle Einwanderer muß sich nicht mit der Art auseinandersetzen, die seine bevorzugte Nische besetzt hält, sondern mit der Gemeinschaft als Ganzem. Sehr deutlich wurde das in Computermodellen, die Ted Case von der University of California in San Diego konstruierte. Er simulierte mehrere unterschiedliche Lebensgemeinschaften und änderte jeweils den Umfang der Wechselbeziehungen zwischen den beteiligten Arten: Die Interaktionen waren einmal stark, ein anderes Mal schwach.
»Gemeinschaften mit vielen, stark in Wechselbeziehung stehenden Arten schränken die Einwanderungsmöglichkeiten für die meisten Arten ein«, schrieb Case über seine Befunde. »Solche Gemeinschaften richten selbst für einen überlegenen, neu hinzukommenden Konkurrenten eine Art <Aktivierungsschranke> auf, die Eindringlinge abhält, wenn sie in geringer Individuenzahl auftauchen.«8
Wenn die Nischenhypothese stimmt, sollte man erwarten, daß ein potentieller Eindringling Erfolg hat, wenn er der vorhandenen Art im Konkurrenzkampf überlegen ist. Aber das ist nicht der Fall. Gemeinschaften, deren einzelne Arten in enger Wechselbeziehung stehen, sind für das Eindringen neuer Arten selbst dann weniger anfällig, wenn es sich dabei um überlegene Konkurrenten handelt.
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»Diese Modelle weisen daraufhin, daß der unterschiedliche Erfolg der Eindringlinge weniger von ihren Eigenschaften als von den Eigenschaften der Gemeinschaft abhängt«, schließt Case.9 Wenn dieser Befund stimmt, ist er von größter Bedeutung nicht nur für tiefgreifendere Kenntnisse über die Ökosysteme, sondern auch für den Naturschutz. Häufig versucht man, in einem Ökosystem eine Art zu schützen, die einer einwandernden, exotischen Art unterlegen ist. Wie Cases Modelle zeigen, hat ein solcher unterlegener Konkurrent die besten Überlebenschancen, wenn er zu einer artenreichen, intakten und ungestörten Lebensgemeinschaft gehört. Wenn man eine Gemeinschaft als Ganzes vor Störungen schützt, bietet man also ihren schwächsten Mitgliedern Sicherheit, weil man ein schützendes Netzwerk schafft.
Der Ausdruck »schützendes Netzwerk« hat etwas unverkennbar Mystisches, und deshalb müssen wir verstehen, was damit gemeint ist. Er bezeichnet die Nahrungsnetze, nach einer Erklärung »die Straßenkarten für Darwins Stückchen Erde... die zeigen, wie eine Gemeinschaft sich zusammenfindet und wie sie funktioniert«.10 Die Karten zeigen die Wechselwirkungen zwischen den Arten in einer Gemeinschaft und geben beispielsweise Auskunft darüber, wer wen frißt. Die Nahrungsnetze sehen oft verwirrend kompliziert aus, und anfangs glaubte man, jede Gemeinschaft habe ihr eigenes, einzigartiges Nahrungsnetz. Als die Biologen aber die vordergründige Komplexität durchdrungen hatten, erkannten sie, daß alle Nahrungsnetze sich unabhängig von der Art der Lebensgemeinschaft sehr ähnlich sind und einige gemeinsame Eigenschaften haben. Dazu gehören zum Beispiel die Länge der Nahrungsketten, die etwas darüber aussagen, wer wen frißt, und das Zahlenverhältnis von Räubern und Beutetieren. Wohin man in der Natur auch blickt, erkennt man ähnliche Gesetzmäßigkeiten. Die Tatsache, daß man solche Gemeinsamkeiten sieht, obwohl eine unbegrenzte Vielfalt möglich wäre, sagt etwas Grundlegendes über die der Natur zugrundeliegende Ordnung aus. Diese Ordnung erwächst offensichtlich aus der inneren Dynamik des Systems selbst und wird ihm nicht durch äußere Umstände aufgezwungen.
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Die Wechselwirkungen, die Ted Gase in seinem Computer manipulierte, stellten die Nahrungsnetze der wirklichen Welt dar. Das schützende Netzwerk, das er in den Gemeinschaften mit engen Wechselbeziehungen erkannte, läßt sich also als Eigenschaft der zugrundeliegenden Nahrungsnetze erklären. Obwohl seine Beobachtung der Intuition widerspricht, braucht man keine mystische Kraft heranzuziehen, um sie zu erklären.
Die Ökosysteme, die sich in den Computermodellen von Stuart Pimm und Mac Post zusammenfanden, zeigten ein Geflecht von Wechselwirkungen zwischen den Arten, das stark den Nahrungsnetzen der wirklichen Ökosysteme ähnelte. Das ließ die Überzeugung wachsen, daß diese Modelle trotz ihrer Einfachheit realistisch waren. Wie bereits erwähnt, lautete das erste Ergebnis: In artenarme Gemeinschaften können neue Arten leicht einwandern, bei Systemen mit vielen Arten ist das erheblich schwieriger. Schwieriger, aber nicht unmöglich. Eine artenreiche Gemeinschaft, die man heranreifen läßt, bleibt nicht unverändert, sondern es kommt zu einer langsamen Artenfluktuation. Mit anderen Worten: Manche neu hinzukommenden Arten setzen sich durch, in der Regel indem sie andere verdrängen; die Zusammensetzung der Gemeinschaft ist nicht statisch, sondern dynamisch. Eine erfolgreiche Art kann später ebenfalls als Opfer eines neuen Eindringlings verdrängt werden, aber dann hinterläßt sie in der Gemeinschaft ihre Spuren wie einen Fußabdruck im Sand. So gelangten Pimm und Post zu ihrem zweiten Ergebnis: Bei reifen, artenreichen Gemeinschaften ist das Eindringen viel schwieriger als bei neu entstandenen. Offenbar stärkt irgendein Element des Reifungsprozesses das schützende Netzwerk innerhalb der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft scheint sich weiterzuentwickeln — sie wird scheinbar fast zielgerichtet besser, und zwar auf eine Art, die nur schwer einzugrenzen ist.
Das Ergebnis ist keineswegs die Laune eines weltfremden Computermodells ; in der Natur geschieht genau das gleiche. Ein Beispiel ist Hawaii. Dort gibt es zwei Arten von Ökosystemen: erstens die Bergwälder, die nicht durch menschliche Eingriffe gestört wurden und
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eine ausgereifte, artenreiche Lebensgemeinschaft bilden; und zweitens die Wälder der Niederungen, die einschließlich ihrer Umgebung durch die Tätigkeit der Menschen verändert wurden. Wenn sie sich von solchen Störungen erholen, befinden sie sich, obwohl sie artenreich sind, in einem unreifen Aufbaustadium. Seit vor 1500 Jahren die ersten polynesischen Siedler eintrafen, wurden die Inseln viele Male kolonisiert, und mit den Neuankömmlingen kamen auch viele neue Arten, die entweder absichtlich mitgebracht oder zufällig eingeschleppt wurden. So wurden auf Hawaii beispielsweise mehr neue Vogel- und Pflanzenarten eingeführt als irgendwo sonst auf der Welt. 28 Prozent der Insekten- und 65 Prozent der Pflanzenarten des Archipels sind ursprünglich nicht hier zu Hause. Auch sämtliche Säugetiere kamen erst in jüngerer Zeit hierher.
Vor 30 Jahren schrieb Charles Elton in seinem Buch The Ecology of Invasions by Animals and Plants, es handele sich um »eine der großen Vermischungen in der Tier- und Pflanzenwelt der Erde«. Jedesmal wenn eine fremde Art sich durchsetzen konnte, führte das zu einer Schrumpfung der Populationen einheimischer Arten, oder es trieb sie in ganzen Wellen zum Aussterben. Die Frage ist nun: Wo setzten die fremden Arten sich durch? In den unreifen Ökosystemen der Niederungen oder in den alten Lebensgemeinschaften der Bergwälder? Die Antwort: in ihrer großen Mehrzahl in den ersteren. Die ausgereiften Ökosysteme konnten der Invasion offenbar besser widerstehen als die unreifen. Oder in der Sprache der theoretischen Ökologie: Die reifen Ökosysteme hatten einen dauerhaften Zustand erreicht.
Reife Lebensgemeinschaften — ob in der wirklichen Welt oder im Computer — haben ganz offensichtlich wichtige ökologische Eigenschaften, die unreifen Systemen fehlen. Und daraus läßt sich der naheliegende Schluß ziehen, daß es während des Aufbaus zu einer Selektion von Arten kommt, die in irgendeiner Form überlegen sind. Pflanzenarten könnten zum Beispiel in der Produktivität überlegen sein, Räuber in Schnelligkeit oder Tarnung, und so weiter. Und natürlich ist eine Gemeinschaft überlegener Arten ökologisch gegenüber einer solchen aus unterlegenen Arten im Vorteil.
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Als Pimm und Post aber in ihrem Computermodell die Verhaltensmerkmale der Arten in den dauerhaften Gemeinschaften untersuchten, konnten sie keine Anzeichen von Überlegenheit finden. Oder ökologisch ausgedrückt: Diese Arten unterschieden sich nicht von solchen, denen es nicht gelungen war, sich in der Gemeinschaft zu etablieren. Vielleicht, so die Spekulation der Wissenschaftler, hatten sie nicht die richtigen Eigenschaften betrachtet.
Wie sich herausstellte, hatten sie keinen Fehler gemacht. Dies wurde deutlich, als Jim Drake, ein anderer Ökologe, der damals an der Purdue University arbeitete, ähnliche Computersimulationen ablaufen ließ. Wie Pimm und Post, so sorgte auch Drake für den Aufbau einer ökologischen Gemeinschaft, indem er eine Art nach der anderen hinzufügte. Neu war aber, daß er dabei aus einem begrenzten Spektrum von insgesamt 125 Arten schöpfte. Gelang einer davon das Eindringen nicht, stand sie später für einen weiteren Versuch zur Verfügung. Wieder entwickelte sich eine dauerhafte Gemeinschaft mit etwa einem Dutzend Arten. Dann begann Drake mit dem gleichen Artenspektrum von vorn, und der Vorgang der Reifung bis zu einer dauerhaften Gemeinschaft mit einem Dutzend Arten wiederholte sich. Aber es war eine andere Gemeinschaft, die noch nicht einmal die Hälfte ihrer Arten mit der ersten gemeinsam hatte. Er ließ den Vorgang noch einige Dutzend Male ablaufen: Jedesmal erhielt er eine reife, dauerhafte Gemeinschaft, aber jedesmal mit einer anderen Artenzusammensetzung. Auch hier war keine der Arten in den Gemeinschaften in irgendeiner Hinsicht erkennbar »besser« als die anderen. Jede Art konnte zum Mitglied einer dauerhaften Gemeinschaft werden, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt hinzukam.
Diese Befunde sind gleichermaßen faszinierend und wichtig. Zunächst einmal sieht man daran, daß dauerhafte Gemeinschaften sich aus zufällig hinzukommenden Arten bilden können. Und zweitens erwächst die ökologisch entscheidende Eigenschaft der Beständigkeit oder Stabilität aus den Wechselbeziehungen der Arten in der Gemeinschaft und nicht aus den überlegenen Eigenschaften der einzelnen Arten. Mindestens ebenso bedeutsam sind die Folgerungen, die sich daraus für die mosaikartige Zusammensetzung der Natur ergeben.
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Wie wir bereits gesehen haben, erklärt man die Unterschiede zwischen benachbarten Ökosystemen in der Regel mit den unterschiedlichen physikalischen Bedingungen. Außerdem haben wir erfahren, daß man nach der Chaostheorie mit einem solchen Flickenmuster auch dann rechnet, wenn es in der Umwelt keine physikalischen Unterschiede gibt. Die Arbeiten von Pimm, Post und Drake zeigen eine weitere Ursache der mosaikartigen Zusammensetzung auf, die ebenfalls nichts mit der Anpassung an die lokale Umwelt zu tun hat: die Geschichte. Die endgültige Zusammensetzung eines dauerhaften Ökosystems hängt eindeutig davon ab, in welcher Reihenfolge die einzelnen Arten während der Reifung des Systems hinzugekommen sind. Manchmal ist es für eine Art von Vorteil, wenn sie früh auf der Bildfläche erscheint, ein anderes Mal ist es besser, wenn sie spät dran ist. Alles hängt davon ab, welche Arten bereits zu der Gemeinschaft gehören. Wie wir in einem früheren Kapitel gesehen haben, erkennt man in der Geschichte oder im Zufall immer stärker eine wichtige Kraft, die den Lauf der Evolution mitgestaltet, und der Anpassung gesteht man heute weniger Bedeutung zu als früher. Analog sind die Verhältnisse auch hier: Die Geschichte trägt machtvoll dazu bei, die Evolution der Ökosysteme zu gestalten, und die Anpassung spielt eine eher untergeordnete Rolle. Diese Sichtweise für die Natur unterscheidet sich stark von der bisherigen Vorstellung.
Wenn sie auch für die wirkliche Natur gilt. Jim Drake stellte sie auf den experimentellen Prüfstand, indem er mit Mikroorganismen (vor allem Algen verschiedener Arten) das gleiche tat wie mit den Arten im Computer. Wenn er Arten nach dem Zufallsprinzip hinzufügte, erhielt er viele verschiedene dauerhafte Gemeinschaften. Die Geschichte ist tatsächlich von Bedeutung. Kürzlich betrachteten zwei Paläontologen das Ganze unter dem Gesichtspunkt der Fossilfunde. Martin Buzas von der Smithsonian Institution und Stephen Culver vom Londoner Natural History Museum untersuchten die Zusammensetzung küstennaher Gemeinschaften von Meeresbewohnern an der nordamerikanischen Atlantikküste über 55 Millionen Jahre hinweg. In dieser Zeit stieg und fiel der Meeresspiegel sechsmal.
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Sechsmal bildeten sich in dem küstennahen Lebensraum neue Gemeinschaften, deren Mitglieder aus dem Artenspektrum der Umgebung stammten. Und sechsmal war die Zusammensetzung der Gemeinschaften anders. In einem Kommentar zu den Befunden schrieb Jeremy Jackson, ein Ökologe der Smithsonian Institution: »Dies ist sicher der Todesstoß für die Vorstellung von eng verzahnten ökologischen Gemeinschaften im Meer.« Das stimmt, und gleichzeitig ist es ein Beleg für die Bedeutung historischer Zufälle.
Wenn schon diese Ergebnisse der Intuition zu widersprechen scheinen, so gilt das im doppelten Sinn für eine weitere Beobachtung von Jim Drake. Er sagte sich sinngemäß folgendes: »Die dauerhaften Gemeinschaften, die ich in meinem Computer aufgebaut habe, funktionieren ganz offensichtlich sehr gut. Ich werde also eine davon nehmen und sie noch einmal ganz von vorn aufbauen, und dazu benutze ich nur das ungefähre Dutzend Arten, das auch jetzt zu der Gemeinschaft gehört.« Es gelang ihm nicht. Nachdem er die Gemeinschaft auseinandergenommen hatte, konnte er sie nicht wieder zusammensetzen, ganz gleich, in welcher Reihenfolge er die Arten hinzufügte.
Stuart Pimm bezeichnet es als »Holperstreckeneffekt«, und das mit gutem Grund. Die Erklärung ist ein wenig abgehoben-mathematisch, aber im wesentlichen besagt sie folgendes: Um den dauerhaften Zustand Z zu erreichen, muß das Ökosystem die Stadien A bis Y durchmachen. Man kann nicht in einem Schritt nach Z gelangen. Heute interessiert man sich immer stärker für die Wiederherstellung verarmter oder zerstörter Ökosysteme — zwei Beispiele sind die Prärien des amerikanischen Mittelwestens und die Everglades-Sümpfe in Florida.
In solchen Fällen kennt man aus historischen Dokumenten häufig die ursprüngliche Artenzusammensetzung. Bevor man zu den gerade beschriebenen Erkenntnissen gelangt war (die immer noch weiter verfeinert werden), neigten die Ökologen dazu, einfach die Arten für das Ökosystem, das man wiederherstellen wollte, zusammenzubringen und in dem gewählten Lebensraum sich selbst zu überlassen. Mehrmals standen sie dann vor einem Rätsel, wenn es nicht funktionierte. Jetzt wissen wir, warum.
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Wir haben gesehen, daß die Natur nicht immer so ist, wie sie zu sein scheint. In den ökologischen Gemeinschaften gibt es eine Dynamik, die der Intuition widerspricht und mit der man deshalb nicht gerechnet hatte. Lebensgemeinschaften wandeln sich ständig und verbessern sich scheinbar zielgerichtet, aber mittlerweile wissen wir, daß Zufall und Geschichte dabei eine große Rolle spielen. Ich möchte dieses Kapitel mit einem Bericht über ein reales Ökosystem beschließen; er läßt die Dynamik erkennen, zeigt die Bedeutung des Zufalls und ist eine heilsame Geschichte für Möchtegern-Naturschützer.
Im Norden von Botswana liegt der Chobe-Nationalpark, ein typisches Beispiel für eine ganze Reihe von Ökosystemen in Süd- und Ostafrika. Hier gibt es zahlreiche große Pflanzenfresser, von denen manche auch Wanderungen machen, darunter Giraffen, Büffel, Elefanten, Zebras, Gnus und Schwarzfersenantilopen. Die ebenfalls reichhaltige Bevölkerung der Fleischfresser besteht aus Löwen, Hyänen, Wildhunden und Schakalen. Der mosaikartige Lebensraum aus Graslandschaften und Akaziengehölzen beherbergt vielfältige Vogel- und Insektenarten. Insgesamt bietet der Park eine reiche Artenfülle, wie man sie sich unter dem Begriff »Wildnis« vorstellt.
Die Leitung des Parks möchte diese Vielfalt erhalten, denn sie ist für Touristen attraktiv und wirkt, als sei alles in Ordnung. In Wirklichkeit gibt es aber ein großes Problem: Die Akaziengehölze werden zerstört, vor allem von Elefanten, und es wachsen keine neuen Bäume nach. Wenn die bewaldeten Gebiete auf einen Bruchteil ihres jetzigen Umfanges schrumpfen, werden die Parkverwalter glauben, sie hätten versagt, denn sie wollen, daß alles so bleibt, wie es ist. Aber das zu erreichen, wäre nicht nur ökologisch falsch, sondern wahrscheinlich auch unmöglich. Ein Blick auf die ökologische Vergangenheit des Parks zeigt, warum.
Das wichtigste Oberflächengewässer der Region ist der Savuti-Kanal. Wenn er gefüllt ist, fließt er von Angola über die Linyanti-Sümpfe und mündet in die Savuti-Marsch (die derzeit eine Graslandschaft ist). Er war im 19. Jahrhundert gefüllt, trocknete um die Jahrhundertwende aus und blieb bis Mitte der fünfziger Jahre trocken.
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Die meisten Lebensräume machen zyklische Veränderungen durch, die von inneren und äußeren Kräften angetrieben werden.
Das Diagramm zeigt die Entwicklung im Chobe-Nationalpark in Botswana.
(Mit freundlicher Genehmigung von Brian Walker.)
Im Jahr 1982 trocknete er erneut aus und ist bis heute in diesem Zustand geblieben. Kurz nachdem der Kanal in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts kein Wasser mehr führte, gab es in der Gegend eine große Rinderpestepidemie. Diese beiden Ereignisse sorgten gemeinsam für die Entstehung der heutigen Akazienwälder, und das ging folgendermaßen: Wegen des Wassermangels suchten die Elefanten sich in anderen Gegenden etwas zu trinken (und außerdem wurde ihre Zahl durch Jäger dezimiert). Und die Rinderpest vernichtete weitgehend die Population der Huftiere. Die Folge war, daß es in der Region kaum noch grasende Tiere gab, so daß die Akazienschößlinge (eine Lieblingsspeise vieler Pflanzenfresser) zu Bäumen heranwachsen konnten. Als Elefanten und Huftiere zurückkehrten, war die Gegend von großen Akazienwäldern bedeckt. »Das heute zu beobachtende Nebeneinander von vielen Elefanten und umfangreichen Akaziengehölzen ist zeitlich sehr eng begrenzt und offenbar nicht nachhaltig«, meint Brian Walker, der die Region eingehend untersucht hat.12
Es ist nicht nachhaltig, weil Akazienschößlinge nicht bis zum Erwachsenenalter überleben, solange es in der Gegend gesunde Elefanten- und Huftierpopulationen gibt. Wenn die Wälder wieder gedeihen sollten, müßte man die Tiere fernhalten. Walker stellt fest: »Die Frage ist, ob Verwalter und Touristen bereit sind, eine Phase von zehn bis 15 Jahren zu akzeptieren, in der praktisch keine Tiere zu sehen sind.« Vermutlich sind sie das nicht.
Die derzeitige Artenvielfalt in dem Park ist zwar etwas Natürliches, aber sie hat ihre Ursache in tiefgreifenden Umweltveränderungen, die sich im Laufe vieler Jahrzehnte abgespielt haben. Und Parkverwalter haben häufig etwas gegen Veränderungen, vor allem wenn man etwas Wertvolles verschwinden sieht. Ökosysteme sind sowohl räumlich als auch zeitlich in ständiger Umwälzung begriffen, und immer werden manche Populationen abnehmen, während andere gedeihen und sich vermehren. Der ständige Wandel ist als Motor der Artenvielfalt unentbehrlich.
»Die Naturschützer sollten sich weniger Gedanken über die dauerhafte Erhaltung einzelner Tier- und Pflanzenarten machen«, warnt Walker, »und statt dessen lieber überlegen, wie man die Natur und die Vielfalt der ökologischen Prozesse als Ganzes erhalten kann.«13)
Vor dem Hintergrund dessen, was über das Wesen der Ökosysteme gesagt wurde, und mit dem Wissen um Chaos und den dynamischen Aufbau der Lebensgemeinschaften können wir erkennen, daß Walkers Mahnung begründet ist. Aber wie bei allen Angelegenheiten der Menschen ist es schwierig, etwas in Gang zu setzen, das viele Jahrzehnte dauert. Niemand möchte untätig herumsitzen und zusehen, wie Wälder schrumpfen oder wie Tiere verhungern oder verdursten. Aber genau das müssen wir letztlich wahrscheinlich tun.
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