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   Teil 4   Die Zukunft  

Leakey-1995

Faßt man die neuen Erkenntnisse der Evolutionsbiologie, Ökologie und Paläontologie zusammen, erkennt man die wahre Stellung des Homo sapiens in der Welt: Wir sind schlicht ein historischer Zufall. Der Homo sapiens ist auf der Erde zur beherrschenden Spezies geworden. Leider hat das verheerende Auswirkungen. Wenn wir unsere Umwelt weiterhin so zerstören wie heute, wird zu Beginn des nächsten Jahrhunderts die Hälfte aller Arten aussterben. Obwohl auch der Homo sapiens - wie andere Arten vor ihm - zum Aussterben bestimmt ist, haben wir die moralische Verpflichtung, die Vielfalt der Natur zu schützen anstatt sie zu vernichten.

 

12  Ein historischer Zufall 

271-281

Unser Denken über uns selbst und über die Welt, in der wir leben, befindet sich zur Zeit in einem tiefgreif­enden Umbruch. Diese Veränderung als geistige Revolution zu bezeichnen ist keineswegs übertrieben. Die Einzel­aspekte der Wandlung habe ich in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, so daß wir jetzt das neu entstehende Gesamtbild deutlicher erkennen können.

Einzelne verschwommene Linien fließen zu etwas scharf Umrissenem zusammen, und wir erkennen eine Vorstellung vom Strom des Lebens, die ganz anders ist als das Bild, das so lange im Schwange war. Ein wenig Geduld ist noch notwendig: Wenn wir diese Vorstellung so deutlich machen wollen, wie sie es verdient, müssen wir einige der in diesem Buch angeschnittenen Themen noch einmal aufgreifen.

Die neue Vorstellung — oder eigentlich eine ganze Reihe neuer Vorstellungen — zu begreifen erfordert Mut, denn dazu müssen wir viele tröstliche Gedanken über unseren Platz im Universum über Bord werfen. Aber wenn wir uns selbst in dem neuen geistigen Rahmen deutlich erkennen, wird sich das gewaltig auszahlen — nicht nur weil wir zu einem umfassenderen Verständnis für die Welt gelangen, was seit Jahrtausenden die Triebkraft menschlicher Bemühungen war, sondern auch weil wir dann über bessere Voraussetzungen verfügen, um die Menschheit erfolgreich ins nächste Jahrhundert und darüber hinaus zu steuern. 

Mit dieser Zukunft — im großen Ablauf der Dinge ist es die unmittelbare Zukunft — beschäftigt sich der letzte Abschnitt des Buches.

Schon an dieser Stelle möchte ich klipp und klar sagen, daß wir nach meiner Überzeugung einer Krise entgegengehen, die wir selbst verursacht haben, und wenn es uns nicht gelingt, sie mit visionärer Kraft zu bewältigen, erlegen wir zukünftigen Generationen einen Fluch von unvorstellbaren Ausmaßen auf.

Dieses Kapitel umreißt die geistige Revolution, die zur Zeit um uns herum vorgeht, und ihre Bedeutung für eine umfassendere Kenntnis des Lebensstromes, der uns zusammen mit vielen anderen Arten weiterträgt.

In den beiden letzten Kapiteln werde ich zeigen, warum wir an einem Scheideweg der Menschheits­geschichte stehen und wie wir diesen Scheideweg selbst aufgebaut haben — mit einer Seite, die in eine bisher in der Erdgeschichte nie dagewesene Katastrophe führt, und einer anderen, die ein gewisses Maß an Harmonie mit der Natur verspricht.

Daß das nach Angstmacherei klingt, ist volle Absicht. 

Außerdem werde ich die einzigartige Aussage dieses Buches genauer ausführen: Ich werde den Homo sapiens im Zusammenhang der Erdgeschichte und durch Fortschreibung auch im Rahmen der Zukunft unseres Planeten betrachten. Das ist kein einfaches Unterfangen, denn unser Geist ist es gewohnt, in Zeiträumen von Jahrzehnten oder vielleicht von Generationen zu denken, aber nicht in den Hunderten von Jahrmillionen, die den zeitlichen Rahmen für das Leben auf der Erde bilden. 

Begreift man die Menschheit in diesem Zusammenhang, erkennt man sofort unsere Bedeutung für die Erdgeschichte — und unsere Bedeutungslosigkeit. Es gibt über die Zukunft der Menschheit eine sichere Aussage, die sich aber unserem Begriffsvermögen entzieht: Eines Tages wird unsere Spezies nicht mehr dasein.

Die Schwesterwissenschaften der Evolutionsbiologie und Ökologie waren während des größten Teils unseres Jahrhunderts von einer Sichtweise für das Leben gefärbt, die der menschlichen Seele ganz offen Trost bot. Diese Sicht der Dinge ergab sich aus den revolutionären, folgenschweren Gedanken des berühmten Naturforschers Charles Darwin und des großen Geologen Charles Lyell. Sie meinten, die Erdgeschichte sei sowohl im geologischen als auch im biologischen Bereich über riesige Zeiträume hinweg bruchlos und allmählich verlaufen. 

Danach sind die gewaltigen geologischen Formationen der Erde, die tiefen Schluchten und die hohen Gebirge, ausschließlich durch die Anhäufung winziger Veränderungen entstanden, und auf die gleiche Weise wurden die Kontinente und Meere mit einer unglaublichen Vielfalt von Lebewesen bevölkert, wobei der Homo sapiens nur eine Spezies unter vielen Millionen ist. 


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Um zu verstehen, wie stark Darwin und Lyell von ihrer gradualistischen Weltanschauung überzeugt waren, muß man sich klarmachen, daß sie auf eine voraus­gehende geistige Tradition reagierten: Danach waren die Erde und ihre Bewohner unglückliche Ergebnisse gelegentlicher Krisen oder Katastrophen. Und diese Katastrophen — Sintfluten oder Umwälzungen der Kontinente — hatten angeblich jedesmal das Leben auf der Erde vernichtet, so daß eine neue Ausstattung höher entwickelter Formen an seine Stelle treten konnte.

Nicht alle Vertreter der Katastrophentheorie stellten ihre Ideen in einen religiösen Zusammenhang, aber die Hypothese als ganze war zwangsläufig davon geprägt: Göttliche Kräfte sollten für Zerstörung sorgen und dann die Schöpfung vorantreiben. Es war nach der damals allgemein verbreiteten Überzeugung der einzige Weg, auf dem die Erde und die auf ihr lebenden Geschöpfe entstanden sein konnten. 

Als Lyell nachwies, daß auch die gewaltigsten geologischen Strukturen sich in langen Zeiträumen allmählich bilden können, und als Darwin eine Theorie über die Entstehung der unzähligen Lebensformen während langer Zeiträume formulierte, ergab sich daraus insgesamt eine neue Sichtweise: der Gradualismus, der offensichtlich stärker wissenschaftlich begründet war als die Katastrophentheorie, weil er keine göttlichen Eingriffe unterstellte. Die Katastrophentheorie war tot. Das Zeitalter der modernen Biologie und Geologie hatte begonnen, und seine Geburtshelferin war die allumfassende Vorstellung von der allmählichen Veränderung.

Das Wichtigste dabei war Darwins zentrale Aussage: Der Strom des Lebens wird von einem ständigen Kampf ums Dasein gelenkt, in dem die Geeignetsten überleben und die weniger Geeigneten zugrunde gehen. Die Arten befinden sich in einem ununterbrochenen Kampf, sowohl mit anderen Arten als auch mit ihrer physikalischen Umwelt — eine doppelte Herausforderung, auf welche die natürliche Selektion mit entsprechender Anpassung reagiert. Überleben ist im Kampf ums Dasein der Erfolgsbeweis, und Aussterben bedeutet Versagen. 


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Ich habe in vorangegangenen Kapiteln zahlreiche Aussagen Darwins zu diesem Thema zitiert, aber eine davon möchte ich hier nochmals wiederholen, denn sie drückt eine Empfindung aus, die zu der Zeit, als sie geschrieben wurde, mit Sicherheit wichtig war und es auch über mehr als 100 Jahre hinweg geblieben ist: »Da die natürliche Zuchtwahl nur durch und für das Gute jedes Wesens wirkt, so werden alle körperlichen und geistigen Begabungen der Vollkommenheit zustreben.«1

Aus dieser Ansicht ergeben sich zwei wichtige Vorstellungen: Erstens ist die Geschichte des Lebens, die wir an den in der Erde begrabenen Fossilien ablesen können, ein Bericht über diesen Kampf, in dem Verlierer und Sieger von den frühesten Zeiten bis zur Gegenwart stetig aufeinanderfolgen. Da die natürliche Selektion durch winzige Verbesserungen für Anpassung sorgt, verläuft der Weg der Evolution langsam und ununterbrochen.

Die zweite Vorstellung besagt: Da der Strom des Lebens durch den Erfolg immer überlegenerer Formen gelenkt wird, sind Richtung und Form dieses Stromes in einer wichtigen Hinsicht etwas Zwangsläufiges. In dem Fortschreiten von den Fischen über Amphibien und Reptilien zu den Säugetieren — und letztlich zu uns — spiegelt sich nicht nur die Entwicklung des Lebens wider, wie sie war, sondern auch wie sie sein mußte. Zufälle oder Wahrscheinlichkeiten spielen nach dieser Ansicht für Richtung und Gestalt des Ablaufes keine Rolle, und das gilt auch für das letztendliche Auftauchen des Homo sapiens.

Diese herkömmliche Ansicht war, wie ich schon angedeutet habe, ein Trost für die menschliche Seele, und man erkennt auch leicht, warum. Wir Menschen mögen keine Unsicherheit und verabscheuen Zufälligkeiten, vor allem wenn es um unsere Existenz geht. Uns widerstrebt der Gedanke, daß es uns nur gibt, weil die Würfel der Evolution so gefallen sind. Die gerade beschriebene herkömmliche Ansicht bietet uns Trost, denn erstens ist danach schon unsere Existenz als solche der Beleg für unsere Überlegenheit, und zweitens hat sich das Leben ohnehin von Anfang an in unsere Richtung bewegt. 

Erinnern wir uns noch einmal daran, was der Paläontologe Robert Broom 1933 in seinem Buch <The Coming of Man: Was It Accident or Design?> schrieb: »Vieles an der Evolution sieht aus, als sei geplant gewesen, daß sie zum Menschen führt, aber auch zu anderen Tieren und Pflanzen, welche die Welt für ihn zu einem geeigneten Aufenthaltsort machen.«2


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Brooms Aussage war ein Extremfall, aber sie fängt das Wesentliche einer Denkweise ein, die alle wissenschaft­lichen Bemühungen prägte. Heute müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, daß das nicht stimmt. Es gab in der Erdgeschichte kein stetiges Fortschreiten von einfachen zu komplizierten Formen. Einfache Lebensformen entstanden schon früh, das ist richtig. Aber wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, blieb diese anfängliche Einfachheit Milliarden von Jahren lang in stumpfsinniger Weise immer gleich: Während sechs Siebteln der Erdgeschichte gab es nichts Komplexeres als einzellige Lebewesen. 

Und als die Komplexität vor 530 Millionen Jahren schließlich in Form der Vielzeller zunahm, geschah das explosionsartig; innerhalb von fünf Millionen Jahren (nach geologischen Maßstäben also in einem kurzen Augenblick) entstanden durch Neuentwicklungen der Evolution die unzähligen vielzelligen Lebensformen. Der Strom des Lebens fließt also nicht gleichmäßig, sondern äußerst sprunghaft. (Nach der Theorie des unterbrochenen Gleichgewichts, die Stephen Jay Gould und Niles Elredge entwickelten, ereignen sich viele oder sogar die meisten entwicklungsgeschichtlichen Neuerungen in raschen Wellen der Veränderung und nicht allmählich in langen Zeiträumen.)

Die Tatsache der kambrischen Explosion beunruhigte unsere Psyche allerdings nur mäßig, denn wir konnten uns an der Vorstellung festhalten, daß der Strom des Lebens zwar vielleicht unregelmäßig floß, daß er aber in seiner Richtung berechenbar war und daß wir sein zwangsläufiges Endprodukt darstellen. Die neuen Erkenntnisse über die Geschichte des Lebens nach der kambrischen Evolution haben uns jedoch, wie wir in Kapitel 3 erfahren haben, dieses Argument genommen. Das wilde Experimentieren in der kambrischen Explosion führte zu bis zu 100 unterschiedlichen Lebensformen oder Körperbauplänen. Nach wenigen Millionen Jahren war nur noch ein Bruchteil davon übrig, und diese Formen wurden zu den Keimzellen für das heutige bunte Kaleidoskop des Lebendigen.


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Wären die Überlebenden dem Aussterben wegen ihrer Überlegenheit entgangen, könnten wir uns mit dem Gedanken trösten, daß wir die Nachfahren der verdienten Sieger sind. Aber das sind wir nicht. Es gab weder etwas offenkundig Überlegenes an den Gewinnern noch etwas offenkundig Unterlegenes an den Verlierern dieses ersten Massenaussterbens. Es war, wie Gould es kürzlich formulierte, »die größte Lotterie, die je auf der Erde gespielt wurde«,3) und wir sind zufällig die Nachfahren eines der glücklichen Gewinner. 

Die heutige Welt teilen wir mit den Nachkommen anderer glücklicher Gewinner. Würde man die Lotterie noch einmal spielen, kämen ganz andere Gewinner heraus, und das Leben würde heute auf ganz anderen Körperbauplänen beruhen. Viele davon wären zweifellos äußerst seltsam, wenn man an die merkwürdigen Lebensformen denkt, die während dieses ersten großen Aussterbens verschwanden.

Wir müssen uns also mit der Tatsache abfinden, daß die Welt des Lebendigen, zu der wir gehören, nur eine von vielen möglichen Welten ist und nicht die einzig unvermeidliche. Sie ist vielmehr schlicht eine zufällige historische Tatsache.

Einer der wichtigsten Bestandteile der derzeitigen geistigen Revolution sind neue Erkenntnisse über das Wesen des Aussterbens. Wie bereits erwähnt, hielt Darwin den Gedanken an das Massenaussterben für verdächtig; deshalb erklärte er die erkennbaren Indizien für solche Vorgänge als Verfälschungen durch unvollständige Fossilfunde. Das Massenaussterben roch nach Katastrophentheorie, und die war ihm ein Greuel. Schließlich war die Realität des gelegentlichen massenhaften Artensterbens nicht mehr zu leugnen, was die geliebte Idee vom gleichmäßigen Fließen des Lebens weiter untergrub. 

Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, war dieses Fließen von fünf großen Krisen unterbrochen, in denen bis zu 95 Prozent der vorhandenen Arten in einem geologischen Augenblick ausstarben. Seltsamerweise widmete die Forschung dem Wesen des Massenaussterbens kaum Aufmerksamkeit, obwohl man darin einen wichtigen gestaltenden Faktor in der Geschichte des Lebens erkannt hatte. Es galt als zu kompliziert und schwerverständlich. 


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Dennoch nahmen die Biologen an, diese Ereignisse, was auch ihre Ursache sein mochte, hätten den Kampf ums Dasein verstärkt, so daß ungewöhnlich viele Arten in kurzer Zeit in entwicklungsgeschichtliche Vergessen­heit gerieten. Man hielt das Massenaussterben für »normales« Aussterben, das einfach in größerem Umfang stattfand. Und wie in normalen Zeiten galt das Überleben solcher Vorgänge als Anzeichen für überlegene Anpassung und das Aussterben als Hinweis auf eine entsprechende Unterlegenheit.

Die in den letzten Jahren gewachsene Erkenntnis, daß das Massenaussterben kein normales Aussterben in größerem Umfang ist, muß als eine der wichtigsten evolutionsbiologischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts gelten. Das Massenaussterben, was auch seine Ursache sein mag, spielt sich nach anderen Regeln ab als das Aussterben zu normalen Zeiten. Die Darwinsche Evolution, die in diesen normalen Zeiten wichtig ist, wird während der großen Krisen außer Kraft gesetzt. Ob eine Spezies ein solches Ereignis überlebt, hängt nicht von der Qualität ihrer Anpassung ab, sondern von Eigenschaften wie der geographischen Verbreitung von Artengruppen, auch Klades genannt (räumlich begrenzte Klades sind empfindlich; weitverbreiteten ergeht es besser, unabhängig davon, wie viele Arten sie umfassen) und der Körpergröße (große Arten sind empfindlicher als kleine). 

Daraus ergibt sich zwangsläufig die Schlußfolgerung, daß das Überleben einer Art während des Massen­aussterbens mehr mit dem Schicksal als mit den Genen zu tun hat, um David Raups griffige Formulierung zu benutzen.

Wie ich bereits erwähnt habe, lebten die Säugetiere nicht wegen einer inneren Überlegenheit länger als die Dinosaurier, sondern weil der Würfel so gefallen war. Zweifellos begünstigte ihre geringe Größe das Überleben. Und natürlich überstanden nicht alle Abstammungslinien der Säuger das Ereignis vor 65 Millionen Jahren. Einige starben ebenfalls aus. Auch daß die Linie der Primaten zu den Überlebenden gehörte, war keine Frage der Überlegenheit, sondern Glückssache. Wäre Purgatorius unter den Verlierern gewesen, gäbe es keine Lemuren, keine Kleinaffen, keine Menschenaffen — und keine Menschen.


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Wir können uns der Erkenntnis nicht verschließen, daß der Homo sapiens, der sicher in vielerlei Hinsicht — insbesondere was Kreativität und Bewußtsein angeht — etwas Einzigartiges ist, nicht zwangsläufig existieren mußte. Und, was noch schlimmer ist: Der Zufall spielt hier in einem so großen Maße mit, daß man sich nur schwer damit abfinden kann. Aber es stimmt. 

Wie ich es in Kapitel 5 formuliert habe: »Wir sind nur eine von vielen Millionen Arten auf der Erde, das Produkt einer halben Milliarde Jahre im Strom des Lebens, die glücklichen Überlebenden von mindestens 20 wichtigen Krisen, darunter auch die Großen Fünf.« Aus unserer engstirnigen Sicht ist das eine der tiefschürfendsten Einsichten in der derzeitigen geistigen Revolution, aber für die Welt des Lebendigen als Ganzes ist es nicht das Wichtigste.

Früher hielt man Ereignisse des Massenaussterbens für wichtige Unterbrechungen im Strom des Lebens, die vielen Arten den Todesstoß versetzten, ohne aber die Evolution mitzugestalten. Die gestaltende Kraft war nach Ansicht der Biologen die natürliche Selektion. Heute wissen wir aber, daß der Tod während dieser Ereignisse anderen Regeln gehorcht und daß das Überleben ein wichtiges Zufallselement beinhaltet.

Diese Faktoren und nicht die natürliche Selektion bestimmen darüber, welche Arten überleben und welche nicht; damit wird das Massenaussterben zu einem wichtigen Faktor, der die Geschichte des Lebens mitgestaltet. Unter allen Einflüssen, die das Gesamtmuster formen, sind diese Ereignisse sogar der wichtigste. Oder, wie Raup es formulierte: »So gesehen können Artensterben und besonders Massenuntergänge als unabdingbarer Bestandteil der Evolution unseres heutigen komplexen Lebensnetzwerkes gelten.«(4) Diese Erkenntnis ist ein äußerst wichtiger Bestandteil der derzeitigen geistigen Revolution. Aber es ist nicht der einzige.

Ich habe im Zusammenhang mit dem Massenaussterben mehrmals die Formulierung »was auch die Ursache sein mag« benutzt. In dieser Einstufung spiegelt sich die Erkenntnis wider, daß solche Ereignisse auf äußerst komplexe, schwerverständliche Weise entstehen, und zur Zeit gehört sie zu den am hitzigsten diskutierten Fragen der Evolutionsbiologen und Paläontologen. 


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Ich habe zuvor bereits einige Triebkräfte genannt, die dabei eine Rolle spielen könnten, beispielsweise globale Temperaturveränderungen oder das Absinken des Meeresspiegels. Wie wir aber in Kapitel 4 gesehen haben, wurde mindestens ein solches Ereignis — das Aussterben am Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren —, vielleicht aber auch mehrere (oder im Extremfall alle) ohne Zweifel durch den Einschlag eines riesigen Asteroiden oder Kometen auf der Erde ausgelöst. Die Erkenntnis, daß das Massenaussterben die Erdgeschichte an so wichtiger Stelle mitgestaltet hat, war für die Evolutionsbiologie höchst bedeutsam, und die Annahme, daß sie vielleicht auf außerirdische Ursachen zurückgehen, ist wirklich überzeugend.

Wir müssen eine darwinistische Welt hinter uns lassen, deren gestaltende Kräfte wir auf der Grundlage unserer täglichen Erfahrungen verstehen und identifizieren können, und uns statt dessen mit einer anderen abfinden, die das unglückselige Opfer eines launischen Universums ist. 

Das Bild vom gleichmäßigen, vorhersag­baren Strom des Lebens mit dem Menschen als zwangsläufigem Höhepunkt ist dahin, und an seine Stelle tritt die Vorstellung von einer sprunghaften, unberechen­baren Welt, in der wir mit einer gehörigen Portion Glück an unseren Platz gelangt sind. Die Katastrophentheorie ist wieder da, und sie stimmt.

Ich habe im Zusammenhang mit der derzeitigen geistigen Revolution von den Schwesterwissenschaften der Evolutionsbiologie und Ökologie gesprochen, aber beschäftigt habe ich mich bisher nur mit der ersten. Eine ähnliche Verschiebung der Anschauungen gab es auch in der Ökologie, insbesondere in der Frage, wie ökologische Gemeinschaften ihre Form annehmen. Wie ich in Kapitel 9 erwähnt habe, glaubte man bis vor kurzen, ökologische Gemeinschaften hätten ihre Gestalt, weil sie so sein müssen. Damit stelle ich diese Haltung zugegebenermaßen ein wenig zu einfach dar, aber ich meine damit, daß sie der darwinistischen Sicht vom Strom des Lebens in entwicklungsgeschichtlichen Zeiträumen entspricht. 


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In dem kürzeren zeitlichen Rahmen des Aufbaus ökologischer Gemeinschaften herrschten angeblich die gleichen Regeln wie bei der Entstehung von Anpassung durch natürliche Selektion: Arten treten untereinander sowie mit der physikalischen Umwelt in Wechselwirkung und bringen eine Harmonie hervor, die sich in dem Begriff »Gleichgewicht der Natur« verkörpert. 

Die Ökologen glaubten, in der Zusammensetzung einer Lebensgemeinschaft in einem bestimmten Gebiet spiegelten sich die Bedingungen in diesem Gebiet wider, und deshalb gebe es an anderen Orten unter abweichenden Bedingungen auch andere Lebensgemeinschaften.

Es ist ganz offensichtlich richtig, daß die Wechselbeziehungen zwischen den Arten für die Zusammen­setzung einer Lebensgemeinschaft wichtig sind: Pilze ernähren Pflanzenwurzeln, Pflanzenblätter ernähren Insekten, Insekten ernähren Vögel und so weiter. Und es stimmt auch, daß die Arten an bestimmte örtliche Bedingungen angepaßt sind. 

Aber wie ich in Kapitel 9 erläutert habe, erkennt man mittlerweile in der Ökologie immer deutlicher, daß diese Einflüsse nur zum Teil erklären, warum eine Lebensgemeinschaft so und nicht anders aussieht. Nachdem die Evolutionsbiologen anerkennen mußten, daß der Zufall für den Lauf des Lebens eine wichtige Rolle spielt, standen die Ökologen in ihrem Fachgebiet vor der gleichen Notwendigkeit. 

Die Angehörigen einer ökologischen Gemeinschaft stehen untereinander nicht in einem säuberlich ausbalancierten natürlichen Gleichgewicht. Gestalt und Verhalten der Gemeinschaften werden vielmehr in großem Umfang von chaotischem Verhalten bestimmt, aber auch von Eigenschaften wie der Widerstands­kraft gegen Eindringlinge, die aus der Gemeinschaft heraus erwachsen und sich einfachen Erklärungsversuchen entziehen. 

Nach der alten Sichtweise sind Lebensgemeinschaften etwas Berechenbares und Unveränderliches. Heute wissen wir, daß sie unberechenbar, ja sogar rätselhaft und außerdem dynamisch sind. Und dieser dynamische Zustand trägt zur biologischen Vielfalt auf der Erde bei, um die es hier letztlich geht. Auch wenn es der Intuition widerspricht: Ständige Veränderung - der dynamische Zustand - ist die Ursache der langfristigen Stabilität in den Lebens­gemeinschaften; versucht man, auf kurze Sicht den Wandel zu blockieren, sorgt man langfristig mit Sicherheit für schädliche Veränderungen.

Die Menschen sehnen sich nach Berechenbarkeit in unseren Beziehungen zur Natur um uns herum und insbesondere zu unserer eigenen Existenz und Zukunft. In Wirklichkeit ist unsere Welt aber in den Bereichen von Evolutionsbiologie und Ökologie ganz offensichtlich unberechenbar, und unsere Stellung darin verdanken wir historischen Zufallen; es ist eine Stellung mit vielen Möglichkeiten, und die Kräfte, die diese Möglichkeiten beeinflussen, liegen außerhalb unserer Kontrolle und zumindest in manchen Fällen auch außerhalb unseres Begriffsvermögens. 

Unsere Welt ist nicht mehr so sicher wie früher, aber dafür ist sie auch interessanter.

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