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13.  Das sechste Aussterben  

Leakey 1995

 Anmerk

282-299

Wir mögen ein historischer Zufall sein, aber der Homo sapiens ist auf der Erde heute ohne Frage die alles beherrschende Spezies. Wir erschienen erst spät auf der Bildfläche der Evolution, und zwar zu einer Zeit, als die Vielfalt des Lebens auf unserem Planeten fast den höchsten Stand aller Zeiten erreicht hatte. Und wie wir in Kapitel 10 gesehen haben, waren wir bei unserem Auftauchen mit der Fähigkeit ausgestattet, diese Vielfalt überall da zu zerstören, wo menschliche Populationen sich breitmachten. 

Mit Vernunft und Einsicht gesegnet, gehen wir dem 21. Jahrhundert in einer von uns selbst erschaffenen Welt entgegen, einer im wesentlichen künstlichen Welt, in der die Technik (zumindest für manche Menschen) materielle Annehmlichkeiten mit sich bringt, während die Freizeit von nie dagewesenen schöpferischen Leistungen ausgefüllt ist. Leider haben uns aber Vernunft und Einsicht bisher nicht davor bewahrt, die biologischen und physikalischen Ressourcen der Erde in beispielloser Weise auszubeuten.

Natürlich ist der Homo sapiens nicht die erste Art, die dramatischen Einfluß auf die Lebenswelt unseres Planeten ausübt. Seit vor etwa drei Milliarden Jahren die ersten photosynthetisch aktiven Mikroorganismen auftauchten, verwandelte sich die Atmosphäre: Der anfangs recht geringe Sauerstoffgehalt stieg immer stärker an, bis er im Laufe der letzten Milliarde Jahre den heutigen hohen Wert erreicht hatte. Diese Veränderung machte ganz andere Lebensformen möglich, darunter auch die Vielzeller, und diejenigen, die zuvor reichlich vorhanden waren und in einer sauerstoffarmen Umwelt gedeihen konnten, wurden in abgelegene Lebensräume zurückgedrängt. 

Aber dieser Wandel wurde nicht von einer einzigen, vernunftbegabten Spezies verursacht, die bewußt ihre eigenen materiellen Ziele verfolgte, sondern von zahllosen denkunfähigen Arten, die gemeinsam und unbewußt neue Stoffwechselwege in Gang setzten. 

Vernunft und Einsicht, die sich während unserer Evolution entwickelten, verliehen unserer Spezies ein wandelbares Verhalten, mit dessen Hilfe wir uns unter praktisch allen Umweltbedingungen der Erde reichlich vermehren können. Deshalb eröffnete die Evolution der menschlichen Intelligenz ein gewaltiges Potential für Verbreitung und Bevölkerungswachstum, so daß die fast sechs Milliarden Menschen, die derzeit leben, zusammen den größten Anteil lebenden Protoplasmas auf unserem Planeten bilden. Unseren Lebensunterhalt bezogen wir in nie zuvor dagewesener Weise aus der übrigen Natur, so daß ihr Reichtum schwand, während der unsrige zunahm. 

Wir sind, wie Edward Wilson es formulierte, »was die Umwelt angeht, eine Abnormität«. Abnormitäten bleiben nicht ewig erhalten, sondern verschwinden irgendwann. »Möglicherweise war die Intelligenz in der falschen Spezies von vornherein eine tödliche Kombination für die Biosphäre«, wagte Wilson zu äußern. »Vielleicht ist es ein Gesetz der Evolution, daß Intelligenz sich selbst auslöscht.«

Und wenn kein <Gesetz>, dann vielleicht eine übliche Folge. 
Für uns lautet die Frage: Können wir diesem Schicksal entgehen?

Wenn ich davon spreche, daß der Reichtum der Natur schwindet, dann meine ich damit das Arten­sterben, das sich derzeit als Folge der unter­schiedlichsten menschlichen Tätigkeiten abspielt. In Kapitel 10 habe ich geschildert, welche Spur der biologischen Verwüstung die Menschen zurückließen, als sie in der prähistorischen und historischen Vergangenheit in neue Gebiete eindrangen: Siedler rotteten in den neuen Ländereien durch Jagd und Rodung eine Riesenzahl von Arten aus. 

Manche heutigen Fachleute meinen, das sei nur eine vorübergehende Episode in der Entwicklung­slaufbahn der Menschen gewesen, und es sei heute trotz des gewaltigen Bevölkerungs­wachstums verfehlt, von einem fortgesetzten Artensterben zu sprechen. Aus dem Ton der vorangegangenen Abschnitte sollte deutlich geworden sein, daß ich nicht in dieses Lager gehöre. Nach meiner Überzeugung setzt sich das vom Menschen verursachte Artensterben auch heute fort, und es beschleunigt sich in einem alarmierenden Maße.

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Im Rest dieses Kapitels werde ich die Begründung für meine Sorgen darlegen, und im letzten Kapitel werde ich die Frage aufwerfen, ob es uns und unseren Kindern etwas ausmacht, wenn bis zum Ende des nächsten Jahrhunderts bis zu 50 Prozent aller Arten auf der Erde ausgestorben sind. Außerdem werde ich mich mit der ferneren Zukunft befassen und so unsere Spezies in einen größeren geologischen Zusammenhang mit den übrigen Bewohnern der Erde stellen. 

Und ich werde einen Vorschlag machen: Aufgrund der dargelegten neuen Erkenntnisse, die wir durch die beschriebene geistige Revolution gewonnen haben, müssen wir in der Frage, wie sich der Homo sapiens auf die biologische Vielfalt auswirken soll, zu der wir gehören, eine ganz bestimmte ethische Haltung ein­nehmen.

Grundsätzlich gefährden Menschen die Existenz biologischer Arten auf dreierlei Weise. Erstens durch unmittelbare Ausbeutung, beispielsweise durch die Jagd. Von Schmetterlingen über Singvögel bis zu Elefanten — die Gier der Menschen, Teile wildlebender Geschöpfe zu sammeln oder zu essen, treibt viele Arten an den Rand des Aussterbens. Zweitens sind da die biologischen Verheerungen, die durch das absichtliche oder zufällige Einschleppen fremder Arten in ein Ökosystem entstehen können. 

Ich habe darüber berichtet, welche biologischen Umwälzungen die Hawaii-Inseln durch die zahllosen Vogel- und Pflanzenarten erlebten, welche die Polynesier und später die europäischen Siedler mitbrachten. Verwüstungen ähnlichen Ausmaßes sind derzeit am Victoriasee in Afrika im Gange, wo innerhalb der letzten zehn Jahre über 200 Fischarten verschwunden sind. Der Ökologe Les Kaufman von der Universität Boston, der sich eingehend mit dem Vorgang beschäftigt hat, nennt ihn »das Hiroshima der biologischen Apokalypse, den Nachweis, die Warnung, daß noch mehr im Anzug ist«.2) Die Ursachen sind mehrere zusammenwirkende Faktoren, aber der Hauptschuldige ist der gefräßige Flußbarsch, den man vor etwa 40 Jahren aus Gründen der kommerziellen Fischerei in dem See ansiedelte.


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Die dritte und mit Abstand wichtigste Art, wie Menschen andere Arten ausrotten, ist die Zerstörung und Zerstückelung der Lebensräume, insbesondere das gnadenlose Abholzen der tropischen Regenwälder. Diese Wälder, die nur etwa sieben Prozent der Landflächen bedecken, sind ein Schmelztiegel der Evolution und beherbergen die Hälfte aller biologischen Arten. Die ständig wachsende menschliche Bevölkerung dringt tagtäglich in wilde Lebensräume ein, sei es durch die Ausdehnung landwirtschaftlicher Flächen, den Städtebau oder den Ausbau der Infrastruktur, welche die Siedlungen verbindet. Und mit den Lebensräumen schrumpft auch die Fähigkeit der Erde, ihr biologisches Erbe am Leben zu erhalten.

 

Der erste, der die weltweite Aufmerksamkeit auf die drohende Katastrophe der Entwaldung lenkte, war der Biologe Norman Myers von der Universität Oxford mit seinem 1979 erschienenen Buch <The Sinking Ark>. Wenn das Abholzen der Bäume sich mit der gleichen Geschwindigkeit — Myers schätzte sie auf zwei Prozent im Jahr — fortsetzte, werde die Welt »bis zum Jahr 2000 ein Viertel aller Arten verlieren«, schrieb er. Und ein Jahrhundert später werde ein Drittel der verbliebenen Arten ebenfalls auf der Liste der Ausgestorbenen stehen.

In den 17 Jahren, seit <The Sinking Ark> erschienen ist, gab es eine hitzige Debatte über den Wahrheitsgehalt der Zahlen. Verschwinden die Wälder wirklich so schnell, wie Myers behauptet hatte? Und auch wenn es so ist, werden dann wirklich 50 Prozent aller Arten verschwinden?

Anfangs wurden die Voraussagen von Myers (und anderen) freundlich aufgenommen, und schließlich entwickelte sich bei Biologen und Politikern ein echtes Gefühl der Besorgnis. Einflußreiche Körperschaften gaben schwerwiegende Erklärungen ab. »Die Krise des Artensterbens ist für die Zivilisation eine Bedrohung, die nur von der Gefahr des Atomkrieges übertroffen wird«, warnte der Club of Earth* in einer Veröffentlichung, die zu Beginn einer großen Konferenz über die biologische Vielfalt im September 1986 in Washington herausgegeben wurde. 

*detopia-2022: Über den Club of Earth habe ich durch googeln nichts gefunden.

Wohl am einflußreichsten dürfte eine Erklärung sein, die kürzlich von der National Academy of Sciences der USA und der Londoner Royal Society gemeinsam verfaßt wurde: »Das Tempo der Umwelt­veränd­erungen hat sich in jüngster Zeit zweifellos durch das Wachstum der menschlichen Bevölkerung beschleunigt... Die Zukunft unseres Planeten steht auf dem Spiel.«


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Ebenso energisch äußerten sich einzelne Ökologen. Ich möchte zwei der berühmtesten zitieren.

Der Biologe Paul Ehrlich von der Stanford University sagte auf der Konferenz in Washington: »Es gibt in der Hauptrichtung der Biologie keine Meinungsverschiedenheiten darüber, daß die Artenvielfalt sich in einer Krise befindet.«  

Und Edward Wilson erklärte auf der gleichen Veranstaltung: »Praktisch alle, die sich mit dem Artensterben befassen, sind übereinstimmend der Ansicht, daß die biologische Vielfalt sich in ihrer sechsten großen Krise befindet und daß diese Krise ausschließlich vom Menschen ausgelöst wurde.«

 

In jüngster Zeit hat sich jedoch eine Gegenbewegung entwickelt; jetzt wirft man den Warnern über­triebene Behauptungen oder — noch schlimmer — Betrug vor. In mehreren Zeitschriften erschienen Artikel, die sich skeptisch gegenüber der angeblichen Gefahr äußerten.

So stand zum Beispiel in <Science> kürzlich ein Aufsatz mit der Überschrift "Extinction: Are Ecologists crying wolf?" (3, Aussterben: schlagen die Ökologen blinden Alarm?).

Eine Titelgeschichte des <U.S. News and World Report> vom 13.12.1993 trug den Titel <The Doomsday Myths> = <Die Mythen vom Weltuntergang>. 

Die Hauptaussage in diesen und anderen Artikeln lautete: Die Ökologen glauben zwar, daß viele Arten jetzt oder in Zukunft aussterben, aber sie wissen es nicht genau.

Das gleiche sagt Julian Simon von der University of Maryland schon seit über zehn Jahren, und seine Stimme hat in letzter Zeit noch an Gewicht gewonnen.

Simon, der lautstärkste Gegner der Warnungen, schrieb 1986 in einem Artikel: »Die verfügbaren Tatsachen... stimmen nicht mit dem Ausmaß der Besorgnis überein.«4

In einer Diskussion mit Norman Myers wiederholte er 1992 in New York diese Ansicht: »Die tatsächlichen Befunde über die beobachtete Geschwindig­keit der Artbildung weichen stark... von der angeblichen Gefahr ab.«5

Unverblümter äußerte er seine Meinung in einem Artikel der <New York Times> vom 13.05.1993: Die Behauptungen mancher Ökologen, die derzeitige Geschwindigkeit des Artensterbens komme einem Massenaussterben gleich, seien »wissenschaftlich völlig unbegründet« und »reine Vermutungen«. (6) 

Professor Simon ist der Doktor Pangloss* der Umwelt.

 

 

detopia-2022:

Norman Myers & Julian Simon   

Scarcity or Abundance?  A Debate on the Environment

(1994)

Seite 65: Mangel oder Überfluss?  

Doktor Panglos = Figur bei Voltaire

aus

wikipedia  Candide_oder_der_Optimismus   
(deutsch: Kandid oder die beste Welt)

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Warum gab es soviel Kritik an Wissenschaftlern, die angeblich Fachleute für die Dynamik der biologischen Vielfalt sind? 

Unter anderem liegt es vielleicht daran, daß die Aussage zu erschreckend ist: Man will sie einfach nicht hören, und wenn man sie hört, will man sie nicht glauben.  

Ein von Menschen verursachtes Massen­aussterben ist etwas Erschreckendes. Deshalb sah man in den Vorhersagen der Ökologen »die Ergüsse überreizter biologischer Kassandras«, so Thomas Lovejoy von der <Smithsonian Institution>.7

Ein weiterer Grund für den Unglauben waren zweifellos die Diskrepanzen in den Aussagen verschiedener Fachleute über das Ausmaß des Artensterbens, die von 17.000 bis 100.000 verschwundenen Arten im Jahr gesprochen hatten. Wenn schon die Experten sich so unsicher über den Umfang des angeblichen Aussterbens sind, so der berechtigte Einwand der Kritiker, wie sollen wir ihnen dann überhaupt noch etwas glauben?

Ich werde später darauf zurück­kommen.

Nach meiner Vermutung gibt es noch einen weiteren Grund, der mit einer andersgearteten Unsicherheit zu tun hat: mit einer Unsicherheit in bezug auf uns selbst.

Wenn wir zur Kenntnis nehmen, daß Arten so leicht ausgerottet werden können, wie die Ökologen behaupten, dann ist vielleicht auch die Stellung des Homo sapiens nicht so sicher, wie wir gern glauben möchten. Vielleicht steht auch uns das Aussterben bevor.  

Wir mögen keine Unsicherheit, was unsere Ursprünge angeht.
Und noch weniger mögen wir die Unsicherheit, wenn es um unsere Zukunft geht.
Es bleiben aber in diesem Zusammenhang zwei Fragen: 

Die erste Frage ist einfacher zu beantworten, vor allem weil man hier direkte Beobachtungen anstellen kann.


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Myers' Schätzung von 1979, wonach jedes Jahr zwei Prozent der vorhandenen Wälder abgeholzt werden, gründete sich auf eine Zusammen­stellung von Einzel­beob­achtungen aus verschiedenen Regionen, aus denen eine Hochrechnung für die ganze Erde abgeleitet wurde. Die Fläche beläuft sich auf etwa 200.000 Quadrat­kilometer im Jahr oder mehr als 4000 Quadratmeter in der Sekunde. Während der achtziger und Anfang der neunziger Jahre versuchte man in Dutzenden von Studien, diese umstrittenen Zahlen zu belegen. Manche behaupteten, die Schätzung sei zu hoch gegriffen, andere hielten sie für zu niedrig.

Nachdem die Landflächen der Erde heute zum größten Teil durch genaue Satellitenaufnahmen erfaßt sind, kann man eine Antwort geben, an der vernünftiger­weise nicht mehr zu zweifeln ist.

Anfang der neunziger Jahre gelangten zum Beispiel zwei Studien — die eine vom Washingtoner World Resources Institute, die andere von der Welternährungs­organisation (FAO) der Vereinten Nationen — unabhängig voneinander zu einer Zahl im Bereich von 200.000 Quadratkilometern für den jährlichen Verlust an Waldflächen (der damit 40 bis 50 Prozent höher liegt als zehn Jahre zuvor). 

Wenn die Zerstörung sich mit dieser Geschwindigkeit fortsetzt, werden die tropischen Regenwälder kurz nach der Jahrhundertwende auf zehn Prozent ihrer ursprünglichen Fläche geschrumpft sein, und um 2050 wird es sie bis auf winzige Reste nicht mehr geben. 

Nur ein böswilliger Volksverdummer kann diese Zahlen leugnen.

Ein derart umfangreicher Rückgang ist für das Überleben der Arten in den Wäldern schon übel genug, aber es kommt noch schlimmer

Wie eine Satelliten­untersuchung kürzlich gezeigt hat, zerfallen Wälder auch dann, wenn sie nicht gerodet werden, häufig in kleine »Inseln«, die ökologisch sehr empfindlich sind. In einem heldenhaften Experiment, das Ende der siebziger Jahre im Regenwald Brasiliens begann, untersuchten Thomas Lovejoy und seine Kollegen, inwieweit solche Inseln unterschiedlicher Größe den Arten eine Lebensgrundlage bieten. Die Inseln waren zwischen einem und 10.000 Hektar groß, und damit wurde das Unternehmen zum größten biologischen Experiment aller Zeiten. 


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Unter anderem rechnet man mit dem Ergebnis, daß Arten in kleinen Waldstücken schneller und in größerer Zahl aussterben als in größeren Gebieten. Unter den empfindlichen Arten sind solche, die aus den unterschiedlichsten Gründen große Wohngebiete brauchen. Und wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, führt das Aussterben dieser Lebewesen häufig auch zum Verschwinden weiterer Arten, die selbst vielleicht kein großes Revier benötigen. Aus einem Gebiet von 100 Hektar verschwand zum Beispiel eine Froschart, weil der Lebensraum so klein war, daß die Nabelschweine sich dort nicht halten konnten, die sich im Schlamm suhlten und so Pfützen für die Frösche schufen.  

Solche Aussterbelawinen setzen sich nach Entstehung der Waldinsel über mehrere Jahre hinweg fort. Andere Arten sterben in eng begrenzten Gebieten leicht aus, weil dort nur eine kleine Population leben kann. Und kleine Populationen sind anfällig für Krankheits­epidemien oder äußere Störungen wie zum Beispiel Stürme, die größeren Beständen nichts anhaben können.

Das Experiment erbrachte aber auch ein unerwartetes Ergebnis: Selbst die größten Waldgebiete sind nicht so widerstandsfähig, wie man gedacht hatte, und zwar wegen des sogenannten Randeffekts. Lebensräume tief im Inneren eines Waldes sind bis zu einem gewissen Grad vor äußeren Störungen geschützt, während beispielsweise die Grenzen zwischen Wald und Graslandschaft verschiedenen widrigen Umständen ausgesetzt sind, unter anderem dem Wind, einem über kurze Entfernungen stark schwankenden Mikroklima und eindringenden Fremdtieren einschließlich menschlicher Jäger.

Die Folge: In einem Streifen von zweieinhalb Kilometern Breite am Waldrand sind Tiere und Pflanzen besonders anfällig für das Aussterben. Deshalb ist der Randeffekt auch für relativ große Waldstücke von Bedeutung. Besonders wichtig wurde diese Entdeckung im Zusammenhang mit der neuen Satelliten­untersuchung, denn dabei stellte sich heraus, daß die Holzgewinnung im Amazonasgebiet viel größere Flächen anfällig für den Randeffekt gemacht hatte, als man zuvor wußte. »Die Auswirkungen auf die biologische Vielfalt sind nicht ermutigend und stellen einen zusätzlichen Beweggrund dar, das Abholzen in den Tropen auf ein Minimum zu beschränken«, berichteten die Wissenschaftler in dem Fachblatt <Science>.8)


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Die entscheidende Unbekannte in der Gleichung ist demnach die Frage, wie stark sich der Verlust und die Zerstückelung der Wälder auf das Überleben der Arten auswirken. 

Bevor ich mich mit diesem Thema genauer befasse, muß ich jedoch darauf hinweisen, daß nicht nur die tropischen Regenwälder vom Verlust der Lebensräume betroffen sind. Wie sich beispielsweise in einer im Februar 1995 veröffentlichten Studie des National Biological Service der USA herausstellte, wurde in diesem Jahrhundert die Hälfte aller natürlichen Ökosysteme des Landes bis hin zur Gefährdung geschädigt. Ganze Lebensgemeinschaften stehen an der Schwelle der Ausrottung. 

In einer zweiten Studie, die ein paar Monate später veröffentlicht wurde, stellt die Behörde fest: »Wenn die Menschen ihre Tätigkeit nicht einschränken, werden sich die Störungen im Gleichgewicht zwischen den Wechselbeziehungen der Arten, die Veränderung von Ökosystemen und der umfangreiche Verlust von Lebensräumen fortsetzen.« Die Sorge um die Zukunft unseres biologischen Erbes muß ganz offensichtlich in allen Ländern der Erde zum Tragen kommen, nicht nur in den weniger wohlhabenden Staaten.

Wie ich bereits erwähnt habe, dringt die weltweit wachsende Bevölkerung in immer neue unberührte Lebens­räume ein, sowohl mit dem Neubau von Dörfern und Städten und der damit verbundenen Infrastruktur als auch mit der Produktion von Pflanzen und Tieren als Lebensmittel. Wie allgemein bekannt ist, hat die Weltbevölkerung in der jüngeren Vergangenheit dramatisch zugenommen. 

Zwischen 1600 und 1800 wuchs sie von einer halben auf eine Milliarde; bis 1940 hatte sie fast drei Milliarden erreicht, und in den letzten 50 Jahren verdoppelte sie sich auf 5,7 Milliarden; im nächsten halben Jahrhundert wird sie sich voraussichtlich nochmals verdoppeln und dann bei über zehn Milliarden liegen. Wenn alle diese Menschen sich eines Lebensstandards erfreuen sollen, der über der heute in vielen Teilen der Welt herrschenden Armut liegt, muß die wirtschaftliche Tätigkeit sich weltweit mindestens verzehnfachen. Aber um welchen Preis?


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Schon heute verbrauchen die Menschen 40 Prozent der Netto-Primärproduktion (NPP) an Land; die NPP ist der Energiebetrag, der weltweit durch Photo­synthese gebunden wird, abzüglich der Menge, welche die Pflanzen selbst verbrauchen. Mit anderen Worten: Von der gesamten Energie, die weltweit zur Erhaltung aller Arten zur Verfügung steht, beansprucht der Homo sapiens fast die Hälfte.

Nach Ansicht der Biologen Paul und Anne Ehrlich von der Stanford University hat das verhängnisvolle Folgen. »Was eine erhebliche Ausweitung der Bevölkerung und der von ihr mobilisierten Ressourcen für die Umorientierung und den weiteren Verlust der landgebundenen NPP bedeutet, ist offenkundig«, schreiben die Ehrlichs. »Die Menschen werden versuchen, alles an sich zu reißen, und dabei noch mehr verlieren.«(9)

Mit jedem weiteren Prozent der NPP, die unsere Spezies in den kommenden Jahrzehnten für sich benutzt, geht ein Prozent für die übrige Natur verloren. Letztlich wird die Primärproduktion zurückgehen, weil für die Produzenten immer weniger Platz zur Verfügung steht, und dann wird eine Abwärtsspirale einsetzen. Die biologische Vielfalt der Erde wird sich stark vermindern und mit ihr auch die Produktion, auf die wir Menschen angewiesen sind.

Damit gerät die Zukunft der menschlichen Zivilisation in Gefahr.

Diese Weltuntergangsprophezeiungen werden natürlich nicht überall anerkannt — vor allem nicht von Julian Simon

In der Diskussion mit Myers sagte er etwas, das als eine der gewagtesten und optimistischsten Voraussagen aller Zeiten gelten muß:  »Wir haben heute die technischen Möglichkeiten ..... um in den kommenden sieben Milliarden Jahren eine stetig wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, zu kleiden und mit Energie zu versorgen.« (10; in Scarcity or Abundance?, 1994, S.65)

Eines der beiden Szenarien — der unmittelbar drohende Weltuntergang oder das eigentlich unbegrenzt mögliche Bevölkerungs­wachstum — muß falsch sein.  


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Um das Schicksal von Arten in schrumpfenden Lebensräumen vorauszuberechnen, bedient man sich in der Ökologie der bio-geographischen Theorie der Inseln, die Robert MacArthur und Edward Wilson, zwei Biologen der Harvard University, 1963 entwickelten. Diese Theorie, die einerseits aus empirischen Beobachtungen und andererseits aus mathematischen Untersuchungen abgeleitet wurde, bildet die Grundlage für große Teile der heutigen ökologischen Denkweise. 

»Uns war aufgefallen, daß in der Fauna und Flora auf Inseln überall auf der Welt ein übereinstimmendes Verhältnis zwischen der Fläche der Insel und der Zahl der auf ihr lebenden Arten herrscht«, erinnerte Wilson sich kürzlich. »Je größer die Fläche, desto mehr Arten.«11

Dieses Verhältnis fanden MacArthur und Wilson überall, wo sie sich umsahen, von Großbritannien über die Galapagosinseln bis zum indonesischen Archipel. Aus ihren Beobachtungen leiteten sie eine einfache mathematische Regel ab: Die Artenzahl verdoppelt sich ungefähr bei einer Zunahme der Fläche auf das Zehnfache. Die qualitative Beziehung zwischen Fläche und Artenzahl — je größer die Fläche, desto mehr Arten — leuchtet sofort ein; und der quantitative Zusammenhang ergibt sich aus empirischen Beobachtungen.

Diese Theorie ist zwar einfach bis hin zur Banalität, aber sie scheint zu stimmen. Noch wertvoller würde sie durch eine hieb- und stichfeste Überprüfung, und genau das hatte Lovejoy sich mit seinem Experiment im brasilianischen Regenwald vorgenommen. Das Projekt ist noch auf viele weitere Jahrzehnte angelegt, aber es hat bereits jetzt so umfangreiche Erkenntnisse geliefert, daß an der Kernaussage der Theorie nicht mehr ernsthaft zu zweifeln ist.

Natürlich kann die tatsächliche Artenzahl in einem Lebensraum mit einer bestimmten Größe durch viele Einflüsse steigen oder fallen. Tausend Hektar Flachland erhalten beispielsweise wahrscheinlich weniger Arten am Leben als tausend Hektar mit äußerst vielfältiger Geländeform, die viel mehr kleine Mikrolebensräume enthält. Und aus den Gründen, die ich in Kapitel 7 erörtert habe, gedeihen auf tausend Hektar in den Tropen mehr Arten als auf einer ähnlichen Fläche in höheren Breiten. Solange man aber geeignete Vergleiche anstellt — das heißt solange man ähnliche Geländeformen und ähnliche geographische Breiten vergleicht —, ist die biogeographische Theorie der Inseln ein sehr nützliches Hilfsmittel für Voraussagen. 


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Außerdem ist sie das einzige Hilfsmittel, abgesehen vom Zählen der einzelnen Arten, und das ist meist nicht praktikabel. Wenn Julian Simon behauptet, Wilsons mathematisches Modell sei »auf nichts als Spekulation gegründet«12 und die Vorhersagen seien »statistisches Gewäsch über den Artenverlust«13, ignoriert er wissentlich die Tatsachen, die der Theorie zugrunde liegen.

Was können wir nun, ausgerüstet mit diesem Hilfsmittel, über die Folgen sagen, wenn die tropischen Regenwälder auf zehn Prozent ihrer ursprünglichen Aus­dehnung schrumpfen? Nach dem von der Theorie postulierten arithmetischen Zusammenhang würden dabei 50 Prozent aller Arten aussterben — manche sofort, andere nach Jahrzehnten oder auch erst nach Jahrhunderten. Wenn die meisten Ökologen diese empirische Beziehung für vernünftig halten, warum weichen dann die einzelnen Schätzungen über die Zahl der in den nächsten 100 Jahren aussterbenden Arten so stark voneinander ab? Warum behauptet ein Experte, es würden jedes Jahr 17.000 Arten verschwinden, während ein anderer diese Zahl mit 100.000 angibt?

Dafür gibt es mehrere Gründe — nicht zuletzt liegt es an der großen Unsicherheit darüber, wie viele Arten es auf der Welt tatsächlich gibt. Wie ich in Kapitel 7 erwähnt habe, reichen die Schätzungen von zehn bis 100 Millionen. Wenn man von den gleichen 50 Prozent für den Artenverlust ausgeht, gelangt man auf der Grundlage der höheren Schätzung zu einer zehnmal größeren absoluten Zahl, als wenn man sich an die niedrigste Schätzung hält. Darüber hinaus gibt es weitere Unsicherheitsfaktoren, so die großen (und unbekannten) Unterschiede in der Fläche der bruchstückhaften Lebensräume, die der Zerstörung entgehen, und die für die meisten Arten nicht genau bekannten Verbreitungsgebiete. Ist zum Beispiel ein großer Anteil aller Arten auf kleine Gebiete begrenzt, liegt der Artenverlust über 50 Prozent und kann fast ebenso groß werden wie der Flächenverlust. 

»Daß es eine erhebliche Bandbreite von Schätzungen gibt, ist angesichts der Schwierigkeiten, genaue Informationen zu beschaffen, wirklich nicht verwunderlich«, meint Lovejoy dazu. Und dann nennt er den entscheidenden Punkt seiner Aussage: »Wichtig ist, daß man mit allen Schätzungsversuchen zu einer großen Zahl gelangt ist.« 14)  


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Den Anteil von nahezu 50 Prozent, der bei Fortsetzung der gegenwärtigen Entwicklung verschwinden wird, stellt kaum jemand in Frage. Und 50 Prozent aller Arten auf der Erde sind eine gewaltige Zahl.

Selbst wenn wir eine Zahl aus dem unteren Bereich der Schätzungen zugrunde legen, beispielsweise 30.000 Arten im Jahr, ergeben sich entsetzliche Folgerungen. Wie David Raup anhand der Fossilfunde berechnet hat, geht durch das normale Aussterben im Durchschnitt alle vier Jahre eine Art verloren. Ein Verlust von 30.000 im Jahr liegt also um das 120.000fache über dem Normalwert. Das ist ohne weiteres mit den fünf großen biologischen Krisen der Erdgeschichte zu vergleichen, nur mit dem Unterschied, daß diesmal keine Temperaturveränderung, kein Absinken des Meeresspiegels und kein Asteroideneinschlag der Auslöser ist. Die Ursache ist ein Bewohner der Erde. Der Homo sapiens wird zur Ursache der größten Katastrophe, seit vor 65 Millionen Jahren ein riesiger Asteroid mit der Erde kollidierte und in einem erdgeschichtlichen Augenblick die Hälfte aller Arten auslöschte.

Bei den Zahlen, von denen ich hier spreche, handelt es sich um Voraussagen für die Aussterbehäufigkeit zu Beginn des nächsten Jahrhunderts unter der Voraus­setzung, daß die Zerstörung der Lebensräume sich in dem bisherigen Umfang fortsetzt. Die Kritiker bezweifeln nicht nur die Gültigkeit dieser Voraussagen, sondern sie fordern von den Ökologen auch stichhaltige Indizien dafür, daß das vom Menschen verursachte Aussterben schon heute ein beunruhigendes Ausmaß hat. 

Eines ist richtig: Da es bisher keine umfassende, weltweite Übersichtsuntersuchung gibt, können die Ökologen derzeit einen solchen Beleg in Form einer vollständigen Liste der ausgestorbenen Arten nicht vorlegen. Eigentlich behaupten die Kritiker damit aber, daß es solche Belege nicht gibt, weil aufgrund menschlicher Tätigkeiten keine (oder nur wenige) Arten aussterben.

Aber auch wenn die große Übersichtsuntersuchung fehlt, so gibt es doch eine Riesenzahl von Einzelstudien an verschiedenen Lebensräumen auf der ganzen Welt. Diese Befunde, die von den Kritikern als »Einzelfallberichte« abgetan werden, geben zusammengenommen mehr als genug Anlaß zur Sorge.


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Ich möchte ein paar Beispiele nennen. Den umfangreichen Verlust von Fischen im Victoriasee habe ich bereits erwähnt. Für sich allein gesehen, ist das Verschwinden von 200 Arten in 20 Jahren bereits weit oberhalb der normalen Aussterbehäufigkeit von einer Art in vier Jahren. Legt man den Maßstab dieser normalen Häufigkeit beispielsweise nur an die Vögel an, sollte man nur einmal in 100 Jahren das Aussterben einer Vogelart beobachten. In Wirklichkeit aber, so ein Bericht von Stuart Pimm, »beobachten wir allein im Pazifik etwa ein Aussterbeereignis im Jahr«.15

Pimms Arbeitsgebiet ist Hawaii, und dort interessiert er sich besonders für die Vögel. Auf Touristen mögen die Hawaii-Inseln wie ein tropisches Paradies wirken, aber die Ökologen erkennen dort die frischen Narben katastrophaler Aussterbewellen. Seit der ersten Berührung mit den Menschen dürften bis zu 50 Prozent der einheimischen Vogelarten verschwunden sein, und das Aussterben geht auch heute weiter. Von den 135 hier lebenden Vogelarten sind nur elf in so großer Zahl vertreten, daß ihr Überleben bis weit ins nächste Jahrhundert hinein gesichert ist. »Ein Dutzend... ist so selten, daß es kaum Hoffnung gibt, sie zu retten«, sagt Pimm. »Ein weiteres Dutzend ist offiziell als gefährdet eingestuft — das heißt, ihr zukünftiges Schicksal ist ungewiß.«16)

Ein anderes Beispiel:

Vor etwas über zehn Jahren verschwanden ganz plötzlich 90 Pflanzenarten, weil ein bewaldeter Bergrücken, auf dem sie gediehen, zu landwirtschaftlichen Zwecken gerodet wurde. Der Bergrücken in den westlichen Ausläufern der Anden in Ecuador heißt Centinela; in Ökologenkreisen wurde dieser Name zum Synonym für katastrophales Aussterben von Menschenhand. Alwyn Gentry und Calaway Dodson, zwei Ökologen, besuchten die Gegend 1978 zufällig und führten in dem dichten Wald die erste botanische Bestandserhebung durch. Zu der gewaltigen biologischen Vielfalt dieses Lebensraumes gehörten auch 90 bis dahin unbekannte Pflanzen, die sonst nirgendwo vorkamen, darunter Kräuter, Orchideen und Epiphyten. 


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Centinela war eine isolierte ökologische Insel, die eine eigene Pflanzenwelt hervorgebracht hatte. Acht Jahre später war daraus Ackerland geworden, und die endemischen Arten gab es nicht mehr. Centinela hatte eine einzigartige Flora, aber es war keine einzigartige ökologische Insel. Überall in den Anden gibt es zahllose ähnliche Bergketten, und auf den meisten davon müssen sich ebenfalls Arten entwickelt haben, die man sonst nirgendwo findet. Centinela geriet nur deshalb in aller Munde, weil dort vor der Zerstörung eine botanische Übersichtsuntersuchung stattgefunden hatte. Jedesmal wenn eine ökologische Insel gerodet wird, verschwinden Arten praktisch von heute auf morgen, und solche Vorgänge bezeichnen die Ökologen mittlerweile als Centinela-Aussterben.  

Hier gilt es zweierlei zu beachten. Erstens: Wenn Ökologen einen Lebensraum vor und nach einer Störung studieren können, finden sie fast immer einen Artenverlust, manchmal in katastrophalem Ausmaß. In den allermeisten Fällen werden Lebensräume aber in Gegenden zerstört, deren Pflanzen- und Tierbestände noch nicht umfassend untersucht wurden, so daß zahllose Arten aller Wahrscheinlichkeit nach aussterben, bevor die Ökologen überhaupt etwas von ihnen wissen. Wie soll man so etwas anders als durch Hochrechnungen dokumentieren? Und zweitens haben viele Arten genau wie die Pflanzen von Centinela nur ein sehr begrenztes Verbreitungsgebiet, insbesondere in den Tropen; deshalb führt die Zerstörung eines Lebensraumes häufig im gleichen Augenblick auch zum Aussterben von Arten. Die Schätzung eines Artenverlustes von insgesamt 50 Prozent ist also, wie ich bereits angedeutet habe, eher zu niedrig als zu hoch gegriffen.

Die Liste der »Einzelfälle« ist lang: die Hälfte aller Süßwasserfische auf der malaiischen Halbinsel, zehn Vogelarten auf der Philippineninsel Cebu, fast die Hälfte der 41 Baumschlangenarten auf Oahu, 44 von 68 Flachwassermuscheln auf den Sandbänken des Tennessee River und so weiter. Die Belege sind vielleicht insofern Einzelfälle, als sie keine Befunde systematischer Übersichtsuntersuchungen darstellen, aber überzeugend sind sie dennoch.


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Stuart Pimm und zwei seiner Kollegen versuchten, die bekannten Befunde über das Aussterben quantitativ zu erfassen und so eine Beurteilung darüber abzugeben, ob wir vor einer selbstgemachten biologischen Krise stehen. Dazu analysierten sie einige der bekanntesten und am genauesten dokumentierten Fälle wie den der Süßwassermuscheln und Süßwasserfische Nordamerikas, der Säugetiere Australiens, der Pflanzen in Südamerika und der Amphibien auf der ganzen Welt. »Was ist die Ursache des Aussterbens?« fragten Pimm und die anderen rhetorisch. »Nach unserer Lesart für die fünf Fallstudien sind neu eingeführte Arten und physikalische Veränderungen in den Lebensräumen die wichtigsten Faktoren.« 17)

Ich möchte die genannten Aussterbeereignisse nicht im einzelnen beschreiben, denn das kann man in Pimms Veröffentlichung nachlesen; statt dessen konzentriere ich mich auf die Schlußfolgerungen, die sich aus ihrer Analyse ergeben.

Wenn das in den genannten Fällen beobachtete Ausmaß des Artensterbens für ähnliche Arten auf der ganzen Welt typisch ist, verläuft das Aussterben derzeit tausend- bis zehntausendmal schneller als zu normalen Zeiten der Erdgeschichte. Skeptiker könnten einwenden, es handele sich bei den Beispielen um besonders umfangreiches Artensterben, und sie seien deshalb nicht repräsentativ.

Darauf erwidern Pimm und seine Kollegen: Selbst wenn das stimmt und wenn diese bekannten Aussterbeereignisse die einzigen sind, welche die genannten Artengruppen weltweit betreffen — was sehr unwahrscheinlich ist —, liegt die Häufigkeit immer noch zweihundert- bis tausendmal höher als zu normalen Zeiten. Man kann also auch dann von einem Massenaussterben sprechen. 

Die Autoren weisen daraufhin, daß es sich in keinem der untersuchten Fälle um Gebiete mit einer besonders dichten menschlichen Bevölkerung handelte — ein Zeichen, daß der Arm des Todes weit reicht. Wieviel heftiger kann er erst inmitten einer hohen Menschendichte wirken? Pimm fragt, was wir aus dieser und anderen Studien schließen sollen: »Wer annimmt, die hohe Aussterbehäufigkeit sei eine Verfälschung, zeigt eine seltsame Unkenntnis der Tatsachen.«

Oder vielleicht auch eine absichtliche Unkenntnis.


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Die Dokumentation bekannter Aussterbeereignisse ist vielleicht der einzige Weg, um zu zeigen, daß wir uns mitten in einer biologischen Krise befinden, und genau das verlangen die Skeptiker. Immerhin gibt es ohne Leiche keine Mordanklage. Und wenn noch irgendwo eine Population einer Art existiert, ist sie nicht ausgestorben, auch wenn ihr Verbreitungsgebiet durch die Zerstörung von Lebensräumen geschrumpft ist, oder? 

Mit dieser Sichtweise unterschätzt man aber sowohl das Ausmaß der derzeitigen Krise als auch ihre Komplexität. »Wichtig ist die Erkenntnis, daß das Aussterben ein Mehrschrittprozeß ist, es sei denn, alle Exemplare einer Art werden gleichzeitig ausgelöscht, beispielsweise durch einen Meteor oder einen Hurrikan«,19) meint Daniel Simberloff. Als Paradebeispiel führt er die Heidehühner an, über die ich in Kapitel 5 berichtet habe.

Als Ursache des Aussterbens werden in der Regel die Jagd und die Zerstörung der Lebensräume durch den Menschen genannt. Wie ich erwähnt habe, hatten die Hühner anfangs ein riesiges Verbreitungsgebiet, das große Teile der meernahen Gebiete im Osten der Vereinigten Staaten umfaßte. Durch Jagd und Lebensraumzerstörung sank die Zahl der Vögel bis auf 50 im Jahr 1908. Dann richtete man ein Reservat ein, um sie vor dem Aussterben zu bewahren. In den folgenden 20 Jahren wuchs der Bestand kräftig, aber schließlich starb die Spezies durch eine Kombination biblischer Heimsuchungen wie Feuer und Pest dennoch aus.

Das Entscheidende an dieser Geschichte: Nachdem die Population der Heidehühner bis auf eine geringe Zahl geschrumpft war, konnte sie dem Aussterben praktisch nicht mehr entgehen. Wie ich schon mehrmals betont habe, ist eine kleine Population viel empfindlicher gegenüber normalen Schwankungen der Individuenzahl, wie sie durch Krankheiten und Naturkatastrophen entstehen. Eine Population von tausend Exemplaren kann einen Verlust von 100 Individuen verkraften; für einen Anfangsbestand von 100 Tieren bedeutet er das Ende. Im Fall der Heidehühner war das Überleben der Art auch dann aufs höchste gefährdet, als man mit Jagd und Lebensraumveränderung aufgehört hatte. 

Um die Auswirkungen der menschlichen Tätigkeiten auf die derzeitige biologische Vielfalt richtig einzuschätzen, muß man auch Populationen einbeziehen, die so klein sind, daß sie mit großer Wahrscheinlichkeit das Opfer statistischer Schwankungen werden oder in diese Richtung tendieren. 

Genau das taten Stuart Pimm und seine Kollegen, als sie die Aussichten der Vögel von Hawaii beschrieben. Nur bei elf von ihnen ist das Überleben bis weit ins nächste Jahrhundert gewährleistet. Die Populationen der übrigen 124 Arten sind bereits zurückgegangen, in einigen Fällen gefährlich stark. Dennoch kommt man bei einer einfachen Bestandsaufnahme auf 135 Arten: Über Aussterben ist nicht zu berichten. Simberloff beschreibt die mißliche Lage mit einem bildlichen Vergleich: »Viele Populationen, darunter bei manchen Arten die letzten Bestände, mögen vordergründig gesund erscheinen, aber in Wirklichkeit sind sie lebende Tote.«20

Nach meiner Überzeugung sind die »Einzelfallberichte« der Ökologen über das Aussterben auf der ganzen Welt nur ein winziger Hinweis auf eine katas­trophale Wirklichkeit, die sich schweigend und meist außerhalb unseres Blickfeldes abspielt. 

Da es völlig unmöglich ist, das Verschwinden jeder Art zu dokumentieren, deren Schicksal durch die Tätigkeit der Menschen besiegelt wurde, müssen wir gegenüber diesem schwachen Widerhall höchst empfindlich werden, denn er enthält eine wichtige Botschaft. 

Der Homo sapiens, beherrschend wie keine andere Art in der Geschichte des Lebens auf der Erde, steht im Begriff, eine große biologische Krise in Gang zu setzen, ein Massenaussterben, das sechste derartige Ereignis in der letzten halben Milliarde Jahren. Und auch wir, der Homo sapiens, könnten zu den lebenden Toten gehören.

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Richard Leakey 1995