14. Was macht es schon? (Ende)
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Für diejenigen, nach deren Ansicht es verfrüht ist, über einen bevorstehenden Zusammenbruch der biologischen Vielfalt zu reden, weil die Ökologen keine genauen Angaben über die Zahl der bedrohten Arten machen können, hat Paul Ehrlich einen Vergleich parat:
»Es ist, als ob man sagt, die Leute sollten sich über das Verbrennen der einzigen genetischen Bibliothek der Welt keine großen Sorgen machen, weil man sich über die Zahl der <Bücher> in der Größenordnung einer Zehnerpotenz unsicher ist und weil die Warner sich nicht darüber einig sind, ob die Hälfte von ihnen schon in ein bis zwei oder erst in fünf Jahrzehnten vernichtet ist«, schrieb er kürzlich in <Science>. »Offensichtlich würden manche Wissenschaftler nie die Feuerwehr rufen, es sei denn, sie könnten bei einem Großbrand genaue Angaben über die Temperatur der Flammen an jeder einzelnen Stelle machen.«(1)
Ich habe meinen eigenen Vergleich.
Stellen wir uns vor, man hätte einen großen Asteroiden entdeckt, der sich auf Kollisionskurs zur Erde befindet. Viele Menschen wären zu Recht besorgt, denn nach den heutigen Kenntnissen haben solche Zusammenstöße in früheren Zeiten zum Massenaussterben geführt.
Julian Simon und seine Gesinnungsgenossen würden nach meiner Lesart behaupten, es gebe keinen Anlaß zur Sorge, denn die Theorien über das Massenaussterben nach Asteroideneinschlägen seien ja reine Spekulation und Vermutungen; schließlich habe nie jemand gesehen, wie sich dieses Artensterben abspielt, und außerdem sei es sowieso möglich, daß der Asteroid sein Ziel verfehle. Wenn es ein Mittel gibt, den Asteroiden abzulenken, würde es katastrophale Kosten verursachen, wenn man es nicht täte und wenn Simons Ansicht sich dann als falsch erweist.
Was kostet es, wenn er mit dem sechsten Aussterben unrecht hat? Was macht es uns und der übrigen Lebenswelt auf der Erde aus, wenn die Hälfte aller Arten irgendwann im nächsten Jahrhundert in Vergessenheit gerät?
Auf diese Fragen gibt es mehrere Antworten, je nachdem, welchen Zeitrahmen man betrachtet.
Eine davon lautet: Auf lange Sicht macht es überhaupt nichts. In einem gewissen Sinn stimmt das, und die Gegner der Besorgnis führen es häufig als Argument an; wie ich jedoch noch darlegen werde, zeigt sich in dieser Haltung eine Unkenntnis der Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte des Lebens und unserer Stellung darin.
In Kapitel 8 habe ich mich mit dem Wert der biologischen Vielfalt beschäftigt und drei wichtige Bereiche unterschieden: Wirtschaft, Nutzen der Ökosysteme und Ästhetik. Ich möchte hier nicht noch einmal in die Einzelheiten gehen, sondern nur eines festhalten: Wo man einen Wert benennen kann, geht mit der biologischen Vielfalt auch dieser Wert verloren. Wenn Pflanzen und Tiere eine potentielle Quelle neuer Rohstoffe, Lebensmittel und Medikamente sind, wird dieses Potential durch den Verlust von Arten vermindert.
Wenn ein System interagierender Pflanzen und Tiere wichtig ist, damit die chemische Zusammensetzung von Luft und Boden erhalten bleibt, vermindert der Verlust von Arten das Ausmaß dieses Nutzens. Und wenn eine reiche Artenvielfalt der menschlichen Psyche auf wichtige Weise dient, vermindert der Verlust von Arten uns selbst in unbeschreiblicher Form. In allen drei Bereichen kann man aber zu Recht eine Frage stellen: Sind sämtliche vorhandenen Arten notwendig, damit wirtschaftlicher Wert, Nutzen der Ökosysteme und ästhetische Befriedigung erhalten bleiben? Oder können wir auf einen Teil davon verzichten, ohne daß Schaden entsteht?
Für Julian Simon ist die Antwort offensichtlich, und er macht sie am Beispiel des Artensterbens deutlich, das im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten nach der Rodung durch die ersten Siedler einsetzte. »Man kann sich nur schwer vorstellen, daß es uns sehr viel besser ginge, wenn solche eingebildeten Arten erhalten geblieben wären«, meinte er in der Diskussion mit Norman Myers. »Das läßt auch Zweifel über den wirtschaftlichen Wert von Arten aufkommen, die anderswo verschwinden.«(2)
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Simons wichtigste Wertmaßstäbe sind, wie er in einem weiteren Diskussionsbeitrag deutlich macht, Wirtschaftlichkeit und unmittelbare praktische Anwendbarkeit: »Die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte der jüngsten Zeit, insbesondere Saatgutsammlungen und Gentechnik, haben die Notwendigkeit, Arten in ihrem natürlichen Lebensraum zu erhalten, vermindert.« 3)
Ich möchte dieser Ansicht eine ganz andere Sichtweise für den Wert der Arten in ihrem natürlichen Umfeld gegenüberstellen, die Les Kaufman in seinem Buch <The Last Extinction> darlegt: »Mit der Wandertaube, dem Präriebüffel und der Amerikanischen Edelkastanie ist jedesmal ein Stück der amerikanischen Seele gestorben.«4 Zwar würde ich nicht behaupten, daß man auch noch die letzte Art unbedingt retten muß, insbesondere wenn es auf Kosten des Wohlergehens von Menschen geschieht, aber mit meinen Empfindungen stehe ich Kaufman näher als Simon.
Die Menschen haben sich in der Natur entwickelt, und die Wertschätzung der Natur sowie der Bedarf für sie sind unausrottbare Bestandteile der menschlichen Psyche. Wenn wir zulassen, daß die reichhaltige Natur um uns herum sich auflöst, riskieren wir die Auflösung der menschlichen Seele.
Aber angenommen, die Psyche der Menschen könne die Verletzung durch eine ökologisch verarmte Umwelt überstehen. Nehmen wir weiterhin an, die gegenwärtige und zukünftige Technologie könnte uns mit allen materiellen Gütern versorgen, die wir tatsächlich und potentiell aus der Natur beziehen. Wären wir in der Lage, »in den kommenden sieben Milliarden Jahren eine stetig wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, zu kleiden und mit Energie zu versorgen«, wie Simon behauptet?
Es stimmt, daß sich die materielle Lebensqualität während der Menschheitsgeschichte stetig verbessert hat, obwohl die Bevölkerungszahl gewachsen ist. Mit dieser Vergangenheit als Leitfaden geht Simon davon aus, daß das gleiche Prinzip sich auch in Zukunft unbegrenzt fortsetzen kann und daß es für das, was der Mensch aus der Natur entnehmen kann, ohne sich selbst oder die Natur zu schädigen, keine Begrenzung gibt. Mit anderen Worten: Nach seiner Überzeugung verträgt sich unsere fortgesetzte Ausbeutung der Natur mit der Aufrechterhaltung einer ausgewogenen Umwelt.
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Natürlich ist die Vergangenheit ein nützlicher Anhaltspunkt für die Zukunft, aber sie kann uns auch blind für neu auftauchende Realitäten machen. Wissenschaft und Technik haben unser leibliches Wohl verbessert, das ist nicht zu bezweifeln, aber dieses leibliche Wohl kann uns auch den Blick für die Wirklichkeit der globalen Umwelt verstellen. Viele von uns sitzen wohlgenährt in der künstlichen Umwelt der Städte und erkennen nicht die Beziehung zwischen dem, was man in den natürlichen Haushalt der Erde hineingibt und was wieder herauskommt.
Was hineingesteckt wird und herauskommt, sind die Wechselbeziehungen zwischen den Arten aller Größenordnungen des Lebendigen, von den Pilzfaden, die Pflanzenwürzelchen gesund erhalten, bis zu den weltweiten Kreisläufen von Wasser, Sauerstoff und Kohlendioxid. Die zuvor beschriebenen nützlichen Wirkungen der Ökosysteme sind das greifbare Element der Stabilität und Gesundheit, das aus der gesamten Lebenswelt der Erde erwächst, einer Lebenswelt, die als komplexes dynamisches System wirkt.
Wie entstehen Stabilität und Gesundheit im einzelnen? Wir wissen es nicht. Kann man das System verkleinern und auf einen Teil der Arten in allen ökologischen Bereichen verzichten, ohne daß es seine Wirksamkeit verliert? Wir wissen es nicht. Welches sind die wichtigsten Bestandteile? Wir wissen es nur teilweise. Welche Arten oder Artengruppen kann man ausrotten, ohne das System zu gefährden, das uns und alle anderen Organismen am Leben erhält? Auch das ist uns nur unvollständig bekannt.
Unsere Unkenntnis über die Natur, von der wir abhängig sind, hat frustrierende Ausmaße, aber sie ist, wie ich in Kapitel 8 dargelegt habe, nicht vollständig. Wir wissen, daß der Homo sapiens im Hinblick auf die Gesetzmäßigkeiten, denen alle Lebewesen unterliegen, keine Ausnahme ist.
Angesichts unserer Unkenntnis darüber, wieviel biologische Vielfalt wir zur Gesunderhaltung der Lebenswelt auf der Erde brauchen, sind zwei Einstellungen möglich. Entweder kann man sagen: Wir wissen nicht, wieviel wir brauchen, also können wir ohne weiteres annehmen, daß wir nicht alles brauchen. Oder aber man sagt: Wir wissen, wie komplex das System ist, und gehen deshalb davon aus, daß wir auf nichts verzichten können.
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Welche Haltung ist verantwortungsbewußter? Die Antwort ist offensichtlich, denn wenn man sich mit dem zuerst genannten Standpunkt irrt, muß man einen gewaltigen Preis zahlen. Viele Ökologen schließen jedenfalls aufgrund der unvollständigen Kenntnisse über Struktur und Dynamik der Ökosysteme und ihrer nützlichen Wirkungen, daß wir die derzeitige Vielfalt vollständig oder zumindest zum größten Teil tatsächlich brauchen. Zerstören wir sie weiterhin zugunsten der wirtschaftlichen Entwicklung, könnten wir die Natur über eine Schwelle drängen, jenseits derer sie sich selbst und damit letztlich auch uns nicht mehr erhalten kann. Wenn der Homo sapiens sich nicht beschränkt, wird er vielleicht nicht nur zur Ursache des sechsten großen Artensterbens, sondern auch zu einem seiner Opfer.
Menschen leben in der Gegenwart. Wir sehen die Welt, wie sie heute ist, und können uns Wandlungen, die in langen Zeiträumen ablaufen, nur schwer vorstellen. Aber die zeitliche Perspektive ist wichtig, wenn wir in vollem Umfang verstehen wollen, welche biologischen Vorgänge wir mit unserer Tätigkeit vorantreiben, und natürlich auch wenn wir wissen wollen, wie die Zukunft unserer Spezies aussieht. Deshalb müssen wir uns mit den Fossilfunden von Lebewesen beschäftigen, denn nur sie geben uns Auskunft über die Dynamik des Lebendigen in Zeiträumen, die jenseits unserer eigenen Erfahrung und Vorstellungskraft liegen.
Die unmittelbarste Aussage der Fossilfunde über die Geschichte des Lebens lautet: Große, katastrophale Zusammenbrüche der biologischen Vielfalt hat es gegeben und kann es geben. Und diese Krisen des Lebensstromes können schnell, unumkehrbar und nicht vorhersagbar sein. Damit drängt sich eine wichtige Erkenntnis über die Natur auf, zu der auch wir gehören: Arten und Artengemeinschaften können äußeren Schädigungen nicht unbegrenzt widerstehen; sie sind verletzlich und verschwinden unter Umständen für immer.
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Wir haben erkannt, daß es zum Massenaussterben kommen kann, wenn die Erde mit einem Körper aus dem Weltraum zusammenstößt oder wenn verschiedene weltweite Veränderungen eintreten, aber uns selbst sehen wir nicht als möglichen Auslöser solcher Krisen. Die tagtägliche Rodung tropischer Regenwälder und die Besiedlung wilder Lebensräume sind keine so dramatischen Vorgänge wie der Einschlag eines Asteroiden, aber die Wirkung ist letztlich die gleiche. Klammheimlich läuft ein Massensterben ab. Indem wir unsere eigenen Ziele verfolgen, behandeln wir die Natur, als könne sie alle Angriffe unbeschadet überstehen, aber das tun wir auf eigene Gefahr.
Wie uns die Fossilfunde zeigen, war Leben während der Erdgeschichte nie etwas Statisches, sondern immer ein sehr dynamischer Prozeß. Und es ist auch kein stetiges Fortschreiten, sondern es war von Ereignissen des Massensterbens unterbrochen, deren Opfer für immer verschwunden sind — das gilt für einzelne Arten genauso wie für Artengruppen oder Ökosysteme. Der Tod einer Art ist der Endpunkt einer ununterbrochenen Kette genetischer Glieder, die mehrere Milliarden Jahre weit zurückreicht; eine einzigartige genetische Ausstattung verschwindet ein für allemal aus der Vielfalt auf der Erde. Jedesmal wenn menschliche Tätigkeit eine Spezies auslöscht, trägt jeder einzelne von uns ein Stück weit die Verantwortung dafür, daß ein einzigartiger Teil des Lebens für immer von uns gegangen ist. Ich nehme diese Verantwortung sehr ernst.
Aber, so halten uns die Gegner der Alarmstimmung entgegen, seht euch doch nur die Fossilfunde an! Arten haben ohnehin nur eine begrenzte Lebensdauer von durchschnittlich einer bis zehn Millionen Jahren. (Die langlebigeren Arten gehören zu den eher unauffälligen Geschöpfen in unserer Umwelt; größere Lebewesen, zum Beispiel die landlebenden Wirbeltiere, haben eine kürzere Lebensdauer.) Manche Arten beenden ihr Dasein in der stetig mahlenden Mühle des normalen Aussterbens, andere im Strudel des Massenaussterbens. So gesehen ist der Versuch zur Rettung der Arten nach Ansicht der Gegner aller Warnungen »vielleicht nur Zeit-, Energie- und Geldverschwendung, weil sie ungeachtet unserer Bemühungen ohnehin verschwinden werden«.5
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Darauf erwidert Stephen Jay Gould ganz zu Recht, diese Ansicht sei »genauso sinnvoll, als wenn man argumentiert, man solle eine leicht heilbare Kinderkrankheit nicht behandeln, weil alle Menschen ohnehin letztlich sterben müssen«.6 Ich werde in Kürze auf diesen Punkt zurückkommen, denn er enthält einen entscheidenden Teil einer ethisch begründeten Argumentation, die erdgeschichtliche Zeiträume und unsere Stellung darin mit einbezieht.
Die zweite wichtige Aussage der Fossilfunde lautet: Evolution ist ein überraschend wirksamer kreativer Vorgang, der nach jedem Massenaussterben sehr schnell wieder die Lücken füllt. Immerhin ist die Vielfalt des Lebens heute so groß wie nie zuvor, eine Folge immer neuer Erholungen nach fünf großen und über einem Dutzend kleineren biologischen Krisen. Das Aufblühen neuer Arten nach solchen Aussterbeereignissen war häufig mit einem Wechsel der vorherrschenden Lebensform verbunden. Wir leben heute im Zeitalter der Säugetiere, das vor 65 Millionen Jahren nach dem Verschwinden der Dinosaurier begann. Und die umfangreichste geistige Ausstattung entwickelten in dieser neuen Zeit die Primaten mit dem Menschen an der Spitze.
Wenn das sechste große Aussterben vorüber ist, wird die Vielfalt wiederkehren, wie sie es immer getan hat, vorausgesetzt natürlich, die Ursache der Zerstörung — das derzeitige Verhalten des Homo sapiens — ist ebenfalls vorüber. Nach der Vergangenheit zu urteilen, wird die Vielfalt danach noch umfassender sein als heute.
Und wer weiß, welche entwicklungsgeschichtlichen Neuerungen dann auftauchen? Wenn die Natur sich nach dem Massenaussterben so kraftvoll erholt, sollten wir uns dann vielleicht gar keine Sorgen darum machen, daß wir eines verursachen? Die Antwort lautet: Das hängt davon ab, welchen Zeitrahmen man betrachtet.
Das Massenaussterben geschieht praktisch von heute auf morgen. Es ist eine Sache weniger Jahre oder Jahrhunderte im Falle des Asteroideneinschlages oder einiger tausend oder Millionen Jahre bei erdgebundenen Ursachen. Die Erholung verläuft dagegen langsam: Sie dauert zwischen fünf und 25 Millionen Jahre. Das Attribut »langsam« bezieht sich auf menschliche Maßstäbe: Langsam geht die Erholung nicht nur im Vergleich zu den Zeiträumen vonstatten, die wir uns als Einzelwesen vorstellen können, sondern auch im Hinblick auf unsere voraussichtliche Lebensdauer als Spezies.
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Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß die durchschnittliche Lebenserwartung von einer bis zehn Millionen Jahren, die für andere Arten gilt, auf unsere eigene nicht zutreffen soll. Den Homo sapiens gibt es seit etwa 150.000 Jahren; demnach haben wir also (als große landlebende Säugetiere) noch ungefähr eine Million Jahre vor uns — aber natürlich nur dann, wenn wir unser Ende nicht mit Hilfe unserer Zerstörungsfähigkeit beschleunigen.
Außerdem wird irgendwann in der Zukunft wieder ein riesiger Asteroid oder Komet unseren Planeten treffen und augenblicklich die Mehrzahl aller Arten auslöschen, vielleicht auch unsere eigene. Mehrere kleine Asteroiden sind in den letzten Jahren unangenehm nahe an uns vorübergeflogen. Sie sind die Vorboten des Unvermeidlichen, das manchen Berechnungen zufolge in etwa 13 Millionen Jahren eintreten wird.
Wenn die Nachkommen des Homo sapiens dann aufgrund eines ungewöhnlichen Zufalls noch die Erde bevölkern, werden die Nachwirkungen des Einschlages mit Sicherheit die meisten von ihnen oder vielleicht auch alle auslöschen; und selbst wenn einige Gruppen den eigentlichen Einschlag überleben, wird die Zivilisation mit Sicherheit zerstört sein und sich vielleicht nie wieder erholen.
Wenn wir aus dem Wissen über den Strom des Lebens und die Kräfte, die ihn formen, überhaupt etwas Sicheres ableiten können, dann dieses: Eines Tages werden wir und unsere Nachkommen nicht mehr dasein, und die Erde mit ihren Bewohnern wird ohne uns weiterexistieren.
Viele Menschen können sich eine Zeit, in der es den Homo sapiens nicht mehr gibt, überhaupt nicht vorstellen; deshalb nehmen sie lieber an, wir würden die biologischen Regeln brechen und für alle Zeiten existieren, oder mindestens so lange, bis unser Planet in etwa vier Milliarden Jahren zu existieren aufhört, weil seine Atmosphäre in der sich ausdehnenden Sonne verglüht.
Julian Simon glaubt offenbar daran, wenn er davon spricht, wir könnten die kommenden sieben Milliarden Jahre gedeihen. Er ist blind für die Wirklichkeit.
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Auch andere hängen an der Idee, daß wir diesem Ende entgehen können, und bemühen zu diesem Zweck die Raumfahrt und die Besiedelung anderer Planeten; wenn so etwas eintritt, spielt es kaum noch eine Rolle, welchen Schaden wir auf dem einzigen Planeten anrichten, von dem wir wissen, daß er uns am Leben erhalten kann.
Beides sind Höhenflüge der Phantasie, geboren aus der arroganten Überzeugung, der Homo sapiens sei etwas anderes als die übrige Natur und stehe über ihr, aber auch aus dem Glauben, wir seien unbesiegbar. Wenn wir aus der genauen Untersuchung der Geschichte des Lebens und der Dynamik, durch die Arten gemeinsam am Leben bleiben, überhaupt etwas entnehmen können, dann ist es die Einsicht, daß beides nicht stimmt.
Ich könnte nun wie andere argumentieren, wir seien es uns selbst, unseren Kindern und Enkelkindern schuldig, unser Nest nicht zu beschmutzen, die wunderbare Vielfalt des Lebens nicht zu zerstören, von der unser körperliches Überleben und unsere Seele abhängig sind. Wie andere könnte ich behaupten, wir hätten als einzige vernunftbegabte Wesen die Pflicht, das Leben aller Arten auf der Erde zu schützen. Wie andere könnte ich sagen, daß alle Arten, mit denen wir heute die Erde teilen, ein absolutes Anrecht auf unseren Schutz haben, einfach weil sie existieren.
Alle diese Ermahnungen sind berechtigt, und einzeln oder gemeinsam sind sie geradezu ein Befehl, unsere Rolle im sechsten Massenaussterben zur Kenntnis zu nehmen und dem schleichenden Sterben Einhalt zu gebieten, das sonst schon bald 100 Arten am Tag, vier Arten in der Stunde ins entwicklungsgeschichtliche Vergessen befördert. Aber ich möchte noch einen weiteren Befehl hinzufügen, der aus der Betrachtung der Geschichte des Lebens auf der Erde erwächst; der Standpunkt, aus dem er sich ergibt, stellt nicht den Menschen, sondern die übrigen Arten der Natur in den Mittelpunkt.
Das sechste Aussterben ähnelt in vielerlei Hinsicht früheren biologischen Katastrophen. Am stärksten gefährdet sind beispielsweise Arten mit begrenzter geographischer Verbreitung, in den Tropen und in ihrer Nähe, sowie mit überdurchschnittlicher Körpergröße. Es ist aber in mancher Hinsicht ein ungewöhnlicher Vorgang, insbesondere weil auch zahlreiche Pflanzenarten ausgelöscht werden, was in den Krisen vergangener Zeiten nicht in diesem Maße der Fall war.
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Am Ende aber, wenn fünf, zehn oder 20 Millionen Jahre vergangen sind, wird die Erholung einsetzen. »In erdgeschichtlichen Zeiträumen wird unser Planet für sich selbst sorgen, und die Zeit wird die Wirkungen aller menschlichen Missetaten heilen«, wie Gould es formulierte.7)
Wenn es also auf lange Sicht keine Rolle spielt, was wir anrichten, während wir da sind, warum sollen wir uns dann überhaupt um das Überleben von Arten kümmern, die wie wir selbst irgendwann ohnehin nicht mehr existieren?
Wir sollten uns darum kümmern, weil wir trotz aller Besonderheiten nur ein historischer Zufall sind. Wir sind nicht aus einer anderen Welt auf die Erde gekommen und inmitten einer wunderbaren Vielfalt des Lebens gelandet, ausgestattet mit dem Recht, damit zu machen, was wir wollen. Wie alle anderen Arten, mit denen wir die Erde teilen, sind wir das Produkt vieler zufälliger Ereignisse, die sich bis zu jener atemberaubenden Explosion der Lebensformen vor einer halben Milliarde Jahren und darüber hinaus bis zum Ursprung des Lebens selbst zurückverfolgen lassen.
Wenn wir diese enge Verbindung zur übrigen Natur unter dem Gesichtspunkt unserer Herkunft verstehen, ergibt sich daraus eine ethische Verpflichtung: Wir haben die Pflicht, sie zu schützen und ihr nicht zu schaden. Es ist nicht deshalb unsere Pflicht, weil wir die einzigen vernunftbegabten Wesen auf der Erde sind und deshalb eine Art wohlmeinende Überlegenheit in uns tragen, sondern weil der Homo sapiens in einem sehr grundlegenden Sinn auf der gleichen Stufe mit allen anderen Arten der Erde steht.
Und wenn wir die Lebenswelt der Erde ganzheitlich betrachten — das heißt als zusammenwirkendes Ganzes, das gesunde, stabile Lebensverhältnisse schafft —, müssen wir auch uns selbst als Teil dieses Ganzen begreifen, nicht als privilegierte Spezies, die alles andere ungestraft ausbeuten darf. Die Erkenntnis, daß unsere Wurzeln im Leben selbst und seinem Wohlergehen liegen, verlangt, daß wir Respekt vor anderen Arten haben und nicht im blinden Streben nach unseren eigenen Zielen auf ihnen herumtrampeln. Und nach dem gleichen ethischen Prinzip gibt uns die Tatsache, daß der Homo sapiens eines Tages vom Antlitz der Erde verschwinden wird, nicht das Recht, zu tun, was wir wollen, solange wir hier sind.
Wenn das alles sehr idealistisch klingt, habe ich nichts dagegen. Meine doppelte Laufbahn als Paläontologe und Naturschützer hat mir eine besondere Sichtweise für die Vielfalt des Lebens und ihre Wandlungen im Laufe der Zeit ermöglicht. Aber ich habe auch einen Blick für die Praxis, denn ich habe gesehen, wie Menschen ums Überleben kämpften, indem sie die einzigen verfügbaren Ressourcen ausbeuteten: die Natur um sie herum.
Diesen Kampf zu unterstützen und gleichzeitig der Zerstörung der Ressourcen Einhalt zu gebieten ist die größte Herausforderung für die Menschheit im nächsten Jahrhundert. Es ist möglich, aber nur dann, wenn man die unterschiedlichen Bedürfnisse der reichen und armen Länder anerkennt. Wenn die reichen Nationen Lösungen durchsetzen wollen, welche die Bürger der weniger entwickelten Gebiete in dauerhafter Armut festhalten, wird es fehlschlagen.
Lange Zeit war das Massenaussterben ein kaum beachteter Untersuchungsgegenstand, weil es in vielerlei Hinsicht rätselhaft war und ohnehin für eine bloße Unterbrechung im Strom des Lebens gehalten wurde. Heute weiß man, daß solche Ereignisse eine wichtige gestaltende Kraft für diesen Strom sind, und das werden sie sicher auch in zukünftigen Jahrmilliarden sein, wenn der Homo sapiens und seine Nachfahren längst nicht mehr da sind.
Aber noch immer birgt das Massenaussterben viele Rätsel, insbesondere was seine genauen Ursachen angeht. Oder, wie David Raup es in seinem Buch <Ausgestorben: Zufall oder Vorsehung> formulierte: »Die Wirklichkeit aber sieht anders und verwirrender aus: In keinem der vielen tausend gut dokumentierten Fälle von Aussterben in der geologischen Vergangenheit hat man eine gesicherte Erklärung für die Ursachen.«8
Für jedes der Großen Fünf gibt es Theorien über den Auslöser; manche davon sind plausibel, aber bewiesen ist keine. Beim sechsten Aussterben dagegen kennen wir den Schuldigen. Das sind wir.
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Richard Leakey 1995