Liedloff-Start

 

 

Rainer Taëni  (Vorwort)

Ich wurde 1933 in Deutschland geboren und lebe seit 1950 in Australien. Literatur- und Philosophiestudium in Melbourne, abgeschlossen mit Habilitation (Ph.D.) über das deutsche Drama nach Brecht. 

Danach arbeitete ich als Hochschullehrer und freier Schriftsteller in Melbourne, Köln, Berlin und Sydney. Studien über die Angst, Erfahrungen im Straßentheater und intensive Selbsterfahrungen mittels verschiedenster Therapiemethoden, insbesondere Primärtherapie und Rebirthing, führten mich zur Entwicklung des Creative Refocussing- Prozesses.

Von 1980-97 leitete ich das Therapiezentrum 'Yulunga' im Norden von NSW. Seit 1983 führe ich alljährlich auch im deutschsprachigen Raum mehrere Intensivseminare über Creative Refocussing in Verbindung mit Rebirthing durch. Wichtige Impulse für meine Arbeit gewann ich durch den 'Kurs in Wundern', sowie die Begegnung mit Menschheitslehrern, die ihr Leben der Heilung von Mensch und Erde durch die Liebe widmen. 

Ein neues Buch über das Wesen der Liebe, unsere Angst davor, und Wege zu deren Überwindung ist z. Zt. auf Englisch in Vorbereitung. (Auszüge davon, siehe Books )

Als Vater von fünf Kindern habe ich auch mehrere Kindermärchen veröffentlicht.


Deutschsprachige Veröffentlichungen (u. a.):

Das Angst-Tabu und die Befreiung (rororo 2674)
Fühlen als Therapie. Zwei Jahre in der Primärtherapie
Umkehr zur Liebe. Theorie und Praxis von Creative Refocussing. Rebirthing und die Anwendung von Affirmationen.
Inmitten der Blüte. Heilgedichte, Meditationen, Gebete.
Vom Opfer zum Schöpfer, Creative Refocussing als Weg der Selbstfindung und Heilung.
- desgl. - Cassetten-Kurs mit 5 Ton-Cassetten zum Selbst-Lernen.
Der Weg nach Yulunga (Märchenroman über eine Reise in die innere Welt)
Ton-Cassetten mit Kindermärchen zu den Themen Liebe, Wahrheit und Gewaltlosigkeit.


„Fühlen als Therapie", von Rainer Taeni. 

Die zweijährige Erfahrung einer Primärtherapie, über die in diesem Buch berichtet wird, darf wohl kaum als typisch gelten: der Autor hat sich ihr, eigenem Bekunden zufolge, nicht so sehr aus starkem persönlichem Leidensdruck heraus unterzogen als vielmehr aus dem Bedürfnis, einen erkannten allgemeinen Entfremdungszustand, mit dem er sich lange bereits gesellschaftskritisch befaßt hatte (er schrieb ein Buch über „Latente Angst: das Tabu der Abwehrgesellschaft"), für sich selber ein Stück weit zu überwinden, um fühlender, unmittelbarer in der Gegenwart leben zu können. 

Und er erlebt und beschreibt die Erfahrung des „Primalling",'des Wiedererlebens von verdrängtem Urschmerz aus der frühen Kindheit, in hohem Maß reflektierend. Wieweit da auch Abwehr im Spiel sein mag, bleibe dahingestellt; hilfreich jedenfalls und wertvoll ist das Buch vielleicht sogar eben deshalb für den, der ähnliche Wege sucht. Denn Taeni, auf sympathische Weise nüchtern und sehr konkret, meidet die bei diesem Thema so naheliegende emotionale Melodramatisierung, die in den bisher vorliegenden Darstellungen der Primärtherapie so leicht das Bild verzerrt, als müsse das Wiedergewinnen des verschütteten Fühlens jederzeit einhergehen mit spektakulären Entladungen. 

Die Aufmerksamkeit für das unsensationell Alltägliche und das Beharren auf einer Verknüpfung von Therapie und alternativer Lebenspraxis scheinen mir das Charakteristische dieses Buches, das mit sehr klugen praktischen Ratschlägen endet. 

Weniger spektakulär als erwartet, aber doch spürbar findetTaeni nach zwei Jahren auch die Wirkung; mir fällt dazu die zögernde Antwort ein, die der schon alte Freud auf Viktor von Weizsäckers Frage gab, ob Psychoanalyse ein endlicher oder ein unendlicher Vorgang sei: „Ich glaube, ein unendlicher." (Verlag Association, Große Brunnenstraße 125, Hamburg 50, 278 Seiten, 18,— DM.)

Hans Krieger  #  DIE ZEIT, 05.10.1979 Nr. 41  #  http://www.zeit.de/1979/41/KriiiU-in-Kuerze 

 

 

1981: Bernd A. Laska:  Buchbesprechung Kontinuum-Konzept  mit freundl. Genehmigung für detopia.de

veröffentlicht in den Wilhelm-Reich-Blättern 1981  --  lsr-projekt.de/wrb/wrb7.html#liedloff  -  lsr-projekt.de   

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Das erste Mal habe ich von diesem Buch erfahren, als ich Eva Reichs Beitrag für die WRB 2/80 (S.102) bearbeitete. Später las ich eine Besprechung, in der es als Schlüsseltext der sog. Antipädagogik bezeichnet wurde (neben den Büchern von Braunmühl und Alice Miller). Da Reich, obwohl von den heute tonangebenden Antipädagogen nicht sonderlich geschätzt, selbst so etwas wie ein Antipädagoge war, scheint mir dieses Buch für eine Besprechung in den WRB von Interesse zu sein.

Liedloff schliesst mit dem Appell: 

"Unserer Gesellschaft muss dabei geholfen werden, den Ernst des Kleinkindern angetanen Verbrechens zu erkennen, das heutzutage als normale Behandlung gilt. Selbst in einer Kultur wie der unsrigen ... ist mit einem Verständnis des menschlichen Kontinuums die Möglichkeit gegeben, in jeder kleinsten sich von Tag zu Tag ergebenden Angelegenheit unsere Chancen zu verbessern und unsere Irrtümer zu verringern. Ohne erst auf Gelegenheit zu größerer Gesellschafts­veränderung zu warten, können wir uns unseren Kindern gegenüber angemessen verhalten und ihnen eine gesunde persönliche Grundlage vermitteln, von der aus sie mit jeder ihnen begegnenden Situation fertigzuwerden vermögen."  (S. 208)

Konkreter: "Wenn eine Mutter dafür sorgt, dass ihr Baby die ersten sechs bis acht Monate hindurch ständig herumgetragen wird, so wird dies sein Selbstvertrauen sichern und die Grundlage dafür schaffen, dass es während der folgenden fünfzehn oder zwanzig Jahre, in denen es zu Hause lebt, sozial, anspruchslos und ausgesprochen hilfsbereit sein wird." (S. 203) Mit "ständig herumtragen" ist durchaus "ununterbrochener Körperkontakt rund um die Uhr" gemeint, also ausser dem Schlafen in einem Bett auch das permanente Tragen (in einer Schlaufe) bei allen Verrichtungen.

Die Begründung dafür sieht die Autorin darin gegeben, dass diese Lebensweise dem "Kontinuum" der menschlichen Gattung gemäss ist, d.h. über Jahrmillionen der Evolution hinweg galt, in "99.99% ihrer Geschichte hindurch selbstverständlich war". Der Bruch dieses Kontinuums, der darin besteht, dass man diese biologisch tiefst verankerte Erwartung des Babys enttäuscht, indem man es von der Mutter isoliert und damit sensorisch weitgehend depriviert, sei der Hauptgrund für die Glücksunfähigkeit der so geschädigten Menschen.

Diese Hypothese ist nicht Produkt bloßen Räsonnierens. 

Ihre Entstehungsgeschichte wird in groben Zügen mitgeteilt: Jean Liedloff, die einer wohlhabenden Familie New Yorks entstammt, in der viktorianische Tugenden und liberale Ansichten hochgehalten wurden, brach noch vor Abschluss der höheren Schule mit ihrem Elternhaus und ging nach Europa.

In Paris, so berichtet sie, sei ihr eine Stelle als Mannequin bei Dior angeboten worden, die sie aber ablehnte. Auch von der Modezeitschrift "Vogue" habe sie sich, "ausser für vorübergehende Jobs als Modell", nicht einspannen lassen und sei weitergezogen.

Nach einem Aufenthalt in einem lombardischen Landhaus habe sie in Florenz zwei junge Italiener getroffen, die sie zu einer Expedition in den venezolanischen Urwald einluden, wo sie Diamanten zu finden hofften. "Es war eine Einladung in letzter Minute, und mir blieben zwanzig Minuten, um mich zu entscheiden, zum Hotel zu stürzen, zu packen, zum Bahnhof zu rasen und auf die gerade anfahrende Bahn zu springen." (S.11)

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Bei der Expedition empfand sie nach einiger Zeit eine "wildromantische Liebe und Ehrfurcht (!) für den grossen, gleichgültigen Wald" (S.18); und ein naturmystisches Erlebnis, das sie als Achtjährige bei einer Wanderung durch die Wälder von Maine gehabt hatte und das in ihrer Erinnerung mehr und mehr verblasst war, erneuerte sich hier endlich.

Von ihrem Kontakt mit den dort lebenden Indianerstämmen war sie so beeindruckt, dass sie anschliessend an diese erste Expedition noch vier weitere unternahm, die letzten beiden als deren Leiterin. Bis zur vierten aber sei sie "ohne Theorie" gewesen und habe sich "ohne Scheuklappen" umgesehen. Die fünfte habe sie durchgeführt, nachdem ein New Yorker Verleger, aufgrund eines von der New York Times zitierten Ausspruchs von ihr, sie gebeten hatte, darüber Ausführlicheres zu schreiben.

Deshalb also fuhr sie diesmal zu den Yequana-Indianern -- dem Stamm, dessen Kinder die Phase des Getragenwerdens nicht entbehren müssen, der also noch ganz im "Kontinuum" lebt und sie auf den vorigen Reisen so sehr beeindruckt hatte -- nicht "nur aus Neugier" zurück, sondern vorbereitet durch eine Theorie (über Scheuklappen schweigt sie an dieser Stelle).

Demonstrative und unqualifizierte Theoriefeindschaft durchzieht übrigens das ganze Buch. Mit ihrer Annahme, ohne Theorie auch ohne Scheuklappen zu sein, und mit ihren Angriffen gegen den Intellekt, der angeblich unser modernes Leben beherrscht, liegt sie zwar voll in einem gewissen "alternativen" Trend; für die Qualität ihres Buches aber und vor allem für die Stützung ihrer eingangs zitierten Hauptthese wirkt sich diese Haltung nicht gerade positiv aus.

Die "Theorie", die sie dann doch selbst treibt, ist in langen Passagen eher ein Schwadronieren über Wolfskinder und Hellseher, Heroïnsüchtige und Gurus, etc.pp.; alles zwar auch voll im Trend, aber...

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Lesenswert sind natürlich ihre Beobachtungen bei den Yequana, deren Kinder tatsächlich schon in sehr frühem Alter eine hier unvorstellbare Selbständigkeit zu haben scheinen. Die vielen geschilderten Beispiele dafür sind sehr interessant. Was aber auffälligerweise fast ganz fehlt, sind Angaben über das Sexualleben sowohl der Kinder als auch der Erwachsenen, über Familienorganisation, Pubertätsriten usw.

 

Viele Fragen, die beim Leser in Verbindung mit dem "Kontinuum-Konzept" eigentlich sofort auftauchen, werden nur unzulänglich oder gar nicht erörtert. Ein Beispiel: Im Kontinuum zu leben bedeutet ja, im Einklang mit der Kultur zu leben, in die man geboren ist; so ist bei Liedloff der Mensch als "soziales Tier" definiert. Ist der soziale Mensch also einfach das, was man heute als Konformist bezeichnet? Sicher nicht, denn das ganze Buch wendet sich ja gegen einen fundamentalen Bestandteil der Kultur, in der es entstanden ist. Konformist evtl. nur in Kulturen, die im Kontinuum leben? Kriterien? Reicht Tragephase?

Dazu findet man nur verschwommene Angaben. Es sei so, "dass eine Gesellschaft sozial motivierter Einzelner dem Diktat ihrer Kultur folgt und man sich hierauf verlassen kann. Ein antisozialer bzw. krimineller Charakter entwickelt sich nicht in Menschen, deren Kontinuum-Erwartungen nicht enttäuscht worden sind. Gerade so, wie ein Mörder aus dem Hinterhalt eine gegen die Gesellschaft gerichtete Tat begeht, ein Soldat mit dem Töten eines Feindes jedoch nicht, zählt das Motiv und nicht die Tat selbst bei der Beurteilung, ob der Handelnde sich sozial verhält oder nicht." (S.185)

An anderer Stelle hören wir über einen den Yequana benachbarten Stamm: "Die Sanema-Indianer, deren Kultur von der der Yequana enorm abweicht, halten es zum Beispiel für richtig, das Dorf einer anderen Sanema-Sippe zu überfallen und so viele junge Frauen zu stehlen und so viele Männer umzubringen wie möglich. Wann und wieso dieser Teil ihrer Kultur entstanden ist ... entzieht sich jeder Kenntnis." (S. 184f)

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Die vom Kontinuum-Konzept her entscheidende Frage, ob die Sanema ihre Kinder tragen wie die Yequana, übergeht die Autorin geflissentlich - wahrscheinlich, weil sie's tun, wie so viele Primitive, deren soziales Leben uns keineswegs vorbildlich erscheint, und weil zumindest der unkritische Leser nicht verwirrt werden soll.

Was eigentlich, so liesse sich fragen, hält die Autorin am Leben unserer Kultur für Indikatoren des Bruchs mit dem Kontinuum? Die Existenz von "Asozialen", z.B. von Leuten, die nicht Soldat werden wollen, oder von Dissidenten, wie sie selbst einer ist? Keine Frage, keine Antwort.

Dafür aber ein verborgener Rückzieher: "Die Tatsache, dass wir so ausnahmslos der Überzeugung sind, der Zustand der Glückseligkeit sei uns verlorengegangen, lässt sich nicht einzig mit dem frühkindlichen Verlust unseres Platzes innerhalb eines (!,BAL) Kontinuums von angemessener Behandlung und Umgebung erklären. Selbst Menschen wie die entspannten und fröhlichen Yequana, die ihrer erwarteten Erfahrungen nicht beraubt wurden, besitzen eine Mythologie, die einen Verlust der Gnade und die Vorstellung, sie lebten ausserhalb jenes verlorenen Zustandes, einschliesst. Sie bietet auch die Hoffnung eines Weges zurück zur Glückseligkeit mittels Ritualen, Brauchtums, und eines Lebens nach dem Tode." (S.168)

Um aus diesem Dilemma, das allen Menschen eigen ist und daran liegt, dass alle einen Intellekt haben, zu entweichen, empfiehlt die Autorin, das zu tun, was die "Menschen des Ostens, die im allgemeinen weniger geschädigt sind als der westliche Durchschnittsmensch", (S.170) tun: Meditieren.

Worin besteht nun der Rückzieher? Aus dem Kontinuum, das aufgrund von Jahrmillionen Evolution allen Menschen gemäss sein soll, wird unter der Hand ein Konti-

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nuum, für jede Kultur ein eigenes (nur nicht für unsere); aus einem naturalistischen Ansatz, der davon ausgeht, dass prinzipiell bestimmbar ist, was einem bestimmten Organismus adäquat bzw. inadäquat ist, wird ein kulturistischer, der vorgibt, toleranterweise jedem seinen "Blödsinn" zu lassen; aus einer (fast) ewigen biologischen Wahrheit wird eine beliebige Konvention. Kulturkritik dieser inkonsequenten bzw. standpunktlosen Art ist meist nicht mehr als wissenschaftlich kaschiertes Lamentieren (auch wenn dies, wie hier, wiederum durch modische Wissenschaftsfeindlichkeit kaschiert ist).

Schade! Denn aus dem Ansatz hätte sich mehr machen lassen, wenn die Autorin genauere Studien getrieben hätte, vor allem über das Sexualleben, die Tabus usw. Ob die Hypothese von der Bedeutung der Tragephase für die spätere Entwicklung haltbar ist, müsste sich allerdings durch einfaches Literaturstudium entscheiden lassen, denn ein so auffälliges Charakteristikum des Stammeslebens wird wohl kaum einem Beobachter entgangen sein. Als jemand, der allein von der gelegentlichen Betrachtung von Filmberichten her weiss, dass Eingeborenenfrauen ihre Kinder sehr häufig bei der Arbeit in ein Tuch gewickelt bei sich am Körper tragen, habe ich allerdings meine Bedenken.

Das jedoch scheint mir nur eine sekundäre Schwachstelle des Buches zu sein, die sich dadurch beseitigen liesse, dass man zunächst einmal offen lässt bzw. herauszufinden versucht, welches denn nun wirklich die optimale Umgangsform von Eltern mit ihren Kleinkindern ist, um deren Glücksfähigkeit nicht zu zerstören oder zu schädigen.

Primäre Schwachstelle scheint mir zu sein, dass als Kriterium gelungener Erziehung ohne wenn und aber ganz schlicht "soziales Verhalten" genannt wird, d.h. Verhalten im Einklang mit der Kultur, in die der jeweilige Mensch hineingeboren ist.

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Ich habe das oben als Umkippen von einem naturalistischen Ansatz in einen kulturistischen bezeichnet, wobei natürlich nicht einmal die Frage aufgeworfen wird, wie denn eine Kultur in etwa beschaffen sein müsste, die mit dem "evolutionärem Kontinuum" noch verträglich ist.

Dass es die der Yequana -- auch im Erleben der Yequana -- nicht ist, wird beiläufig berichtet; Konsequenzen daraus werden nicht gezogen. Der Titel "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" ist deshalb auch irreführend, denn das Glück, das wir suchen -- und das auch die Yequana suchen --, hat es in der Vergangenheit nie gegeben. Es ist, wenn überhaupt noch, in der Zukunft anzusiedeln.

Um in diesem Zusammenhang auf Reich zu sprechen zu kommen: Er beendete sein Buch "Christusmord" mit den hoffnungsvollen Worten: "Bis jetzt gab es weder Kultur noch Zivilisation. Beide sind gerade dabei, in das gesellschaftliche Leben einzudringen."

Reichs Vision war also keineswegs eine Kultur mit Yequana- oder Trobrianderglück, natürlich auch kein Schlaraffenland dauerglücklicher Zombies, sondern eine Kultur der Glücksfähigen, die ohne einen heiliggehaltenen Satz von Irrationalismen -- das einigende Band ausnahmslos aller bisheriger Kulturen -- auskommt.

Die reale Grundlage dafür sah er in der natürlichen Ausstattung jedes Neugeborenen gegeben, in dem gleichen evolutionären Kontinuum wie Liedloff also, das jedoch bisher bei jedem Einzelmenschen zugunsten des kulturhistorischen so oder so gebrochen wird -- auch bei den Yequana.

Bei aller Kritik, die dieses Buch verdient, kann eines jedoch nicht deutlich genug betont werden: Die Kernthese des Buches, die im deutschen Untertitel sehr treffend ausgedrückt ist, scheint ein Tabu unserer "wissenschaftlichen" Kultur, die sich tabufrei wähnt, zu berühren, eine unerlaubte Fragestellung aufzuwerfen -- und das allein ist ein Verdienst!

(Vgl. hierzu die folgende Besprechung)

B.A.L.


 

detopia-2005: Freund Laska mag in allem Recht haben. Aber ich habe gerade durch dieses Buch das auf der Hand liegende "Kontinuum" verstanden. Was nun alles zum "Kontinuum" dazugehört, ob es das permanente Tragen des Säuglings wirklich ist oder nur die Muttermilch und Mutter's Stimme und Schlaflieder. Das kann natürlich kein Mannequin aus reichem Hause allein entscheiden, das zufällig auf Diamantensuche im Urwald ist. Dafür gibt es auch Professoren für Entwicklungs­psychologie, Anthropologen, und - nicht zuletzt - Wilhelm Reich (als ausgebildeten Mediziner). 

Aber die deutsche Bestsellerauflage zeigt eine gewisse Anteilnahme an (1992: 280.000). Ich vertraue 'Volkes Geschmack' zwar auch nicht, aber solcherart 'halb-esoterische' (Kinder-) Literatur ist besser als 'voll-esoterische'. Jedenfalls bin ich dem Buch dankbar für den klaren Begriff "Kontinuum" und die einigermaßen klare Füllung mit Inhalt. (Volksverständliche 'Brückenbücher' sind vielleicht so wichtig wie die reine-Wahrheitsbücher.)

 



Wikipedia-2019

 

Expeditionen zu den Yequana[Bearbeiten]

Bei den Yequana werden Kinder praktisch das ganze erste Lebensjahr auf dem Arm oder am Körper getragen und nach Bedarf gestillt. Die Kinder schlafen gemeinsam mit den Eltern, bis sie selbst aus dem Familienbett ausziehen, meist zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr. Ermahnungen oder Tadel, wie sie Bestandteil der westlichen Erziehung sind, finden Liedloffs Beobachtungen zufolge nicht statt. Die Kinder wachsen zu ungewöhnlich freundlichen, friedlichen und selbstbewussten Menschen heran.

Entwicklung des Begriffes Kontinuum („Continuum concept“)[Bearbeiten]

Auf der Basis ihrer ethnologischen Feldbeobachtungen entwickelte Liedloff ihr „Continuum concept“.

Die kontinuierliche, d. h. stetig, über einen langen Zeitraum fortlaufende Entwicklung von Einzelwesen und Gruppen im Einklang mit den Erfordernissen der Evolution hat Liedloff als Kontinuum angeborener, arteigener Erwartungen und Fähigkeiten beschrieben, die sie beim Umgang der Yequana miteinander sowie mit ihr selbst als Besucherin als in idealer Weise berücksichtigt wahrgenommen hat. Ähnliche Beobachtungen machte Liedloff später auch auf Bali. Liedloff hat keine Erziehungslehre mit sozialpädagogischen oder didaktischen Handlungsanweisungen veröffentlicht. Sie hat sich auf die Beschreibung des Konzepts einer sogenannten evolvierten Gesellschaft beschränkt, die auf vielfache Weise im Kontrast zur Realität der modernen Gesellschaft westlicher Prägung steht.

Dem Kontinuumkonzept zufolge benötigen alle Neugeborenen bis zum Kleinkindalter eine Menge bestimmter Erfahrungen, um sich physisch gesund, mental gesund und emotional gesund

zu entwickeln. Die Menge essentieller kindlicher Erfahrungen, die durch die Evolution des Menschen verbindlich wurde, umfasst den dauerhaften körperlichen Kontakt mit vertrauten Menschen vom Zeitpunkt der Geburt an, das Schlafen im Familienbett, bis Kinder das selbständig verlassen (oft im Alter von zwei Jahren), das Stillen nach Bedarf des Kindes, nicht etwa nach Zeitplan, das Herumtragen auf dem Arm oder dem Rücken bzw. der dauerhafte Körperkontakt mit einem Artgenossen, der dem Kind die Möglichkeit bietet, alles zu beobachten (auch: gestillt zu werden oder zu schlafen). Diese Beobachtungen erfolgen uneingeschränkt während der Träger seinen Aufgaben und Tätigkeiten nachgeht. Wenn das Kind selbständig zu krabbeln beginnt, üblicherweise im Alter zwischen sechs und acht Monaten, wird es nur noch in Ausnahmefällen getragen.

Zu den Anforderungen des Kontinuumkonzepts für die frühkindliche Betreuung zählt außerdem, dass die Betreuer jeweils unmittelbar auf die Signale der Säuglinge (wimmern, schreien) reagieren. Dies sollte ohne Missmut, ohne Herabwürdigung, ohne absichtliche Fehldeutung des kindlichen Verhaltens erfolgen und dabei gewährleisten, dass das Kind nicht zum ständigen Zentrum der Aufmerksamkeit wird.

Die Umsetzung des Kontinuumkonzepts soll dazu führen, dass die Kinder spüren, dass sie willkommen und wertvoll sind, sie die (nicht übertriebenen) Erwartungen der Eltern fühlen und erfüllen können, sie sich sozial und kooperativ zeigen und ein starkes Selbstbewusstsein aufbauen.

Zum Erlernen der Kooperationsbereitschaft benötigen Kinder Führung durch Bezugspersonen, die sich in ihren Handlungen über viele Kontexte hinweg eindeutig zeigen und sich in ihrem Tun und Lassen durchschaubar machen.

Aufgrund des Erfolgs von Liedloffs Idee des „Continuum concepts“ hat das körpernahe Tragen von Säuglingen und Kindern in Tragetüchern und das Stillen nach Bedarf – wie es in vielen, u. a. afrikanischen, Kulturen bis heute Sitte ist – auch (wieder) in Europa und Nordamerika an Bedeutung gewonnen. Es fand insbesondere bei der „1968er“ Bewegung, als auch die antiautoritäre Erziehung populär war, viele Anhänger. Als sich später zeigte, dass die Resultate nicht wie erhofft eintraten, verwies Liedloff darauf, dass dies vermutlich daran läge, dass die Yequana, Balinesen sowie andere Mitglieder evolvierter Gesellschaften – anders als die zivilisierten Eltern im Westen – die positive Entwicklung wie selbstverständlich und ohne den leisesten Zweifel erwarteten.

Liedloff unterscheidet einerseits zwischen evolvierten Gesellschaften, die im Rahmen der natürlichen Evolution eine stetige, über einen langen Zeitraum fortlaufende Entwicklung erleben und in hohem Maße an die angeborenen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Menschen angepasst sind, sowie andererseits zivilisierten Gesellschaften, die ohne Rücksicht auf das menschliche Continuum oder tradiertes Erfahrungswissen von jeder Generation immer neue und immer schnellere Anpassungsleistungen an technische und soziale Änderungen erwarten.

Liedloff beschreibt, dass in evolvierten Gesellschaften allen Kindern alle Mitglieder, jeden Alters und jedes Geschlechts, als Vorbilder jederzeit zur Verfügung stehen. Demgegenüber seien die meisten Kinder in zivilisierten Gesellschaften entweder auf eine einzelne Bezugsperson (üblicherweise die Mutter mit der Konsequenz der Überforderung) oder auf institutionalisierte Gruppen (Krippe, Kindergarten, Schule, Hort etc.) mit Mitgliedern des gleichen Alters

angewiesen. Der zwanglose und selbstverständliche Kontakt von Kindern zu Frauen, die vergnügt, d. h. mit Freude einer nicht-kindbezogenen Arbeit nachgehen, die also weder als Erzieherin, noch als Lehrerin, noch als hauptberufliche Mutter

am Kind 'arbeiten', zu Männern sowie zu anderen Altersgruppen (d. h. zu alten Menschen, Jugendlichen, wesentlich jüngeren oder älteren Kinder) sei in zivilisierten Gesellschaften unüblich. Die Konsequenzen aus diesen Sitten spiegeln sich im Verhalten der erwachsenen Mitglieder, aber auch in der Gesundheit aller Menschen, nicht nur der Kinder wider.

Menschen, die wie z. B. die meisten Yequana und viele Balinesen im Einklang mit ihrem arteigenen, menschlichen Continuum lebten, seien meistens entspannt und fröhlich, bei dem, was sie tun, schreibt Liedloff nicht nur in ihrem Buch, sondern auch später in ihren Vorträgen und Interviews. Dies gelte ausdrücklich nicht nur für Babys und Kleinkinder, sondern für Menschen jeden Alters.

Jean Liedloff hat bis zu ihrem Tod zivilisierte Eltern ermutigt, ihrem eigenen angeborenen Continuum zu vertrauen und sich selbst ebenso wie ihren Kindern eine Entwicklung entsprechend ihrer arteigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten zu ermöglichen. Dabei wurde sie nicht müde, darauf hinzuweisen, dass eine solche Entwicklung für einzelne zivilisierte Menschen nur eingeschränkt möglich sei, da die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Nordamerika oder Mitteleuropa völlig andere als z. B. bei den Yequana seien.

 

 



(detopia:) Zum Liedloff-Thema hat Cornelius aus Hamburg noch ein Buch bei sich zu Hause, welches er uns hier vorstellt - mittels eines Textauszuges. Weblink:  www.ngfg.com  NGFG e.V.  Natur- und Grenzwissenschaftliche Forschungsgemeinschaft  # Nachfolgender Text ist ein kurzer Ausschnitt aus dem Bildband "Frauen der Welt" von Marie-Claude Deffarge und Gordian Troeller, Verlag Zweitausendeins. # Es gab da eine Fernsehreihe. Das Buch lag mal in einem Wühltisch. 

 

Abschied vom Lachen

Indianer im Amazonasgebiet

 

Indianer, die mit unserer Zivilisation noch nicht in Berührung kamen, gibt es nur noch in Südamerika. Die meisten in den Urwäldern des Amazonasbeckens. Dieser Fluß - der Shirarini - schlängelt sich durch das Gebiet der Campa. Ein Volk von etwa 40.000 Menschen. Einige Tausend konnten ihre überlieferten Lebensformen beibehalten. Zwar haben sie Kontakt mit Weißen, doch Christen sind sie nicht geworden. Wie eh und je leben sie in kleinen Gemeinschaften von Jagd, Fischfang und Ackerbau. Zehn Bootsstunden von der nächsten Siedlung der Weißen entfernt, haben wir eine dieser Gruppen besucht. Eine Campa-Gemeinschaft besteht aus fünf bis sechs Familien, die in getrennten Hütten wohnen.

Ohne unseren Bootsmann, einen getauften Campa-lndianer, wären wir hier nicht willkommen. Das kuttenförmige Gewand ist die typische Kleidung der Campa — die gleiche für Mann und Frau. Werkzeuge aus Metall sind übernommen worden, und bei Kindern taucht auch mal ein Hemd auf, doch die Werte, die das Leben der Gemeinschaft bestimmen, sind durch unsere Zivilisation noch nicht verändert worden. Nach zwei Tagen hat man sich an uns gewöhnt.

Frauen verrichten schwere Arbeit. Hieraus schlössen die europäischen Eroberer, daß die Indianer ihre Frauen ausbeuten und wie Vieh behandeln. Auch Missionare und Forscher vermittelten das Bild der unterdrückten Indianerin. — Wer so arbeitet, tut das nicht aus freien Stücken. — So urteilten Männer aus einer vom Mann beherrschten Gesellschaft. Ihre Welt - die abendländische Kultur -galt und gilt für die meisten heute noch als Maß aller Dinge. In Europa, zum Beispiel, galt die Arbeit der Frau als zweitrangig. Also mußte es hier genauso sein. Dies umso mehr, als bei den Indianern den Männern jene Beschäftigungen vorbehalten waren, die bei uns erst den Wert eines Mannes ausmachten; die Jagd und der Krieg. Daß die Indianer den Tätigkeitsbereich der Frau - den Ackerbau - höher schätzen, war unvorstellbar, galt doch die Arbeit der Bauern in Europa, solange sie nicht mechanisiert war, als minderwertig. So wurde unser Wissen über Indianer und alle sogenannten Primitiven von der Selbstherrlichkeit europäischer Männer geprägt.

Diese Frauen säubern ein Feld, um Yuka zu ernten. Yuka - eine Wurzel -gehört zur Grundnahrung der Carnpa. Nach unserer Vorstellung von Leistung und Rentabilität müßte hier besser geplant und gearbeitet werden. Überschuß und Profit kann man so kaum erwirtschaften. Aber das wollen die Indianer auch gar nicht. Sie erzeugen, um zu leben. Sie leben nicht, um zu erzeugen. Im Fachjargon nennt man das Subsistenzwirtschaft. Das Wort bezeichnet ein Produktionssystem, mit dem Primitive angeblich unter gewaltigen Anstrengungen und ständiger Angst vor der Zukunft nur dürftig überleben. Wer das Leistungsprinzip des Kapitalismus zum Ideal und Maßstab der Wirtschaft erhoben hat, muß das so sehen. Die Indianer hingegen wollen keinen Handel, keine Wirtschaft, keinen vermarktbaren Überschuß. Nur dank dieser selbstauferlegten Beschränkung bleibt ihre Gesellschaft eins, das heißt: sie spaltet sich nicht in Besitzende und Besitzlose, in Herrscher und Beherrschte. Was wir Subsistenzwirtschaft nennen, wäre also in Wahrheit der Wille einer Gemeinschaft, die Gleichheit aller zu gewährleisten, und somit die Freiheit eines jeden.

Und dort, wo es keine Wirtschaft gibt, keine Obrigkeit und keine Hierarchie, da ist auch die Frau nicht dem Manne untertan, auch wenn es für uns so aussehen mag. Bedeutet all dies, daß Armut der Preis für Gleichheit und Freiheit ist? Keineswegs. Alle Bedürfnisse werden mit geringstem Aufwand befriedigt. Bedürfnisse, die von diesen Menschen selbst als wesentlich empfunden, und nicht von außen aufgepfropft werden. Eine wahre Überflußgesellschaft. Nichts von dem, was sie brauchen und wollen, fehlt ihnen. Und wenn sie es darauf anlegten, könnten sie das Mehrfache davon haben. Aber wozu? Sie lehnen es ab, zu horten und Profit zu machen. Denn das würde die Gleichheit aufheben und die Gemeinschaft sprengen.

Ein solches »Anti-Wirtschafts-System« paßt weder Kapitalisten noch Marxisten ins Konzept. Den Kapitalisten nicht, weil für sie Unternehmergeist und Profitstreben zu den Motoren des Fortschritts gehören, und weil sie deren Entfaltung als Freiheit verstehen. — Den Marxisten nicht, weil ihr Geschichtsverständnis davon ausgeht, daß Wirtschaftssysteme Gesellschaftsformen prägen und das politische Geschehen bestimmen. Die Indianer hingegen leben frei und im Überfluß ohne Profitstreben, und bei ihnen entscheidet keineswegs die Wirtschaft über die Form des Zusammenlebens, sondern die Gemeinschaft. Kein Wunder, daß die Vertreter beider Systeme nichts mit diesen Wilden anfangen können. Erst seitdem Frauen sich in der Forschung durchgesetzt haben und einige Männer den Absolutheitsanspruch unserer Kultur aufgeben, werden primitive Gesellschaften unter Berücksichtigung ihrer eigenen Werte untersucht.

Bei den Campa unterliegt - anders als bei uns - die Trennung in männliche und -weibliche Tätigkeitsbereiche keiner Wertung. — Roden ist Sache der Männer. Ein Baum soll gefällt werden. Der Curaca — der Chef der Gemeinschaft — wollte ihn schon lange beseitigen, um das Lager zu erweitern. Aber den anderen schien das nicht nötig. Der Häuptling hat hier keine Befehlsgewalt. Er hat überhaupt nichts zu sagen. Schon mit den Worten Häuptling oder Chef verbinden wir die Vorstellungen von Obrigkeit, Privilegien, Machtfülle. All das trifft hier nicht zu.

Chef wird der Redegewandteste. Er wird gewählt, die Gemeinschaft nach außen zu vertreten, doch sie, die Gemeinschaft, entscheidet - einstimmig -über alle Belange. Sollte ein Curaca — ein Häuptling — seine Stellung mißbrauchen, Güter horten, um Macht zu gewinnen, muß er die Gemeinschaft verlassen. — Die primitive Gesellschaft duldet keine Macht - auch nicht die der Männer über die Frauen. Der Curaca fühlt sich verpflichtet, mehr zu arbeiten als die anderen. So verlangt es seine Rolle. Chef-Sein bringt Pflichten, keine Rechte.

Die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen. Da alles allen gehört, teilt man, was man hat. Wenn ein Mann Wild erlegt, dann ist das nicht seine Beute, sondern Nahrung für alle. Die Kleinfamilie als ökonomische Einheit ist hier noch nicht entstanden. In einer Campa-Gemeinschaft sind alle Frauen blutsverwandt.

Männer stammen aus fremden Dörfern und haben eingeheiratet in eine Frauensippe, die aus Müttern, Töchtern, Schwestern und Tanten besteht. - Daß die Frauen getrennt von den Männern essen, entspricht keiner Rangordnung, sondern uralten Eßtabus. Auch wenn Gemeinschaftsbelange besprochen werden, sitzen sich Männer und Frauen getrennt gegenüber. Haben die Männer Einstimmigkeit erzielt, fragen sie die Frauen nach ihrer Meinung. Sind diese dagegen, ist die Entscheidung hinfällig.

Die Männer haben sich zurückgezogen. - Sobald die Kleinkinder schlafen, ist auch das Pensum der Frauen für heute beendet. Von gewaltiger Anstrengung und stetiger Angst um die Zukunft kann keine Rede sein. Jeder tut, was notwendig ist, und er tut es nur, wenn es sein muß. Warum sollte man sich auch bemühen. Aufsteigen will hier ja keiner. Bis spät in den Abend dringt Gelächter aus den Hütten. Auch die Sexualität kommt nicht zu kurz. Dabei sollen die Frauen recht angriffslustig sein und ohne Scham deutlich machen, was sie wollen. Während der Freizeit wird auch gesungen.

Gejagt wird ausschließlich mit Pfeil und Bogen. Solche Pfeile nimmt man beim Fischfang. Andere wieder für Kleinwild. - Großwild wird mit besonderen Pfeilen erlegt. Vögel dürfen nicht zerfetzt werden, deshalb benutzt man stumpfe Pfeile. Eine Harpune für große Fische.

Axtschläge verkünden, daß der Curaca aktiv geworden ist. Er stellt ein Ruder für das Boot der Gemeinschaft her. Wieder ist er es, der sich bemüht. Die anderen schauen nur zu. Und nicht etwa ein anderer Mann kommt ihm zu Hilfe, nein, seine Frau wird dazu aufgefordert. - Deutlicher kann kaum vermittelt werden, daß der Chef der Gemeinschaft zu dienen hat. Es sieht ganz so aus, als hätten primitive Gesellschaften die Institution des Häuptlings nur erfunden, um die Versuchung der Macht kontrollieren zu können.

Und die Liebe? Auch sie ist ein Kulturprodukt und wird hier anders erlebt als bei uns. - Ein Mann kommt auf Partnersuche ins Dorf und arbeitet mit der Gemeinschaft. Hat er ein heiratsfähiges Mädchen gefunden, dem er gefällt, nimmt dieses ihn zum Mann — wenn nicht, zieht er weiter. Kommen die beiden nicht miteinander aus, verläßt der Mann wieder das Dorf. Sie bleibt, denn sie gehört ja zum Kern der Gemeinschaft, zur Sippe der blutsverwandten Frauen. Nach der Arbeit wird Bier getrunken. Es gehört zu den Aufgaben der Frauen, es herzustellen. Daß sie es auch herumreichen, bedeutet nicht, daß sie die Männer bedienen. Sie verteilen, sie verschenken ihr Erzeugnis. Auch Kinder bekommen davon. Hier paßt nichts in die Vorstellungswelt unserer Gesellschaft. Das Lebensziel dieser Menschen ist nicht Erfolg und individuelle Entfaltung. Das ginge unweigerlich auf Kosten anderer.

Wenn Männer und Frauen die Felder säubern, um sie neu zu bepflanzen, dann wird das nicht als Arbeit empfunden. Die Gemeinsamkeit wird gefeiert, die allen die Möglichkeit gibt, unabhängig und frei zu sein. Hauptanliegen primitiver Gesellschaften ist es, das zu verhindern, was man den gesellschaftlichen Sündenfall nennen könnte: das Aufkommen von Besitz. Sie verweigern, worin wir Fortschritt sehen und haben deshalb keine Geschichte. Denn Geschichte entsteht erst durch Kampf um Besitz und Macht. Wann diese Geschichte in grauer Vorzeit begonnen hat, ist unbekannt. Sicher hingegen ist, daß nicht die Einführung des Ackerbaus zur Ungleichheit führte. Viele Indianer Südamerikas bestellen das Land schon seit Jahrtausenden, ohne Überschuß zu erwirtschaften. Sicher scheint auch, daß die Frau — vor dem Aufbruch der Menschheit in die Geschichte - nicht unterdrückt worden ist. Wahrscheinlich wurde sie sogar als wichtigster Bestandteil der Gemeinschaft angesehen. Hier jedenfalls ist dies der Fall.

Als wir den Curaca fragen, wer ihm wichtiger erscheine, Mann oder Frau, ist seine spontane Antwort: die Frau natürlich. Sie hält die Gemeinschaft zusammen, sie pflanzt sie fort und bestellt die Felder, die uns ernähren. - Auch der Mann ist unersetzbar - meint er - doch die Frau trage größere Verantwortung und sei deshalb wichtiger als der Mann.

Dies hier ist noch eine Gesellschaft vor dem Sündenfall. So ähnlich lebte man, bevor Besitz entstand und Menschen anfingen, andere zu beherrschen — bevor die patriarchalische Ordnung entstand, die auch die Frau zum Eigentum des Mannes machte. Es muß Spaß machen, gemeinsam und nur für die Gemeinschaft arbeiten zu dürfen und keine Konkurrenz fürchten zu müssen.Niemand weiß, wie es in vorgeschichtlicher Zeit zu diesem »Sündenfall« kam, doch wie Macht- und Besitzdenken den heute überlebenden Primitiven als Zivilisation aufgezwungen wird, kann man, wenn man Glück hat, sogar filmen.

Nur zwölf Bootsstunden entfernt: -Eine Adventisten-Gemeinde. Etwa hundert bekehrte Familien vom Stamme der Campa sind um eine Kirche angesiedelt worden. Heute ist der Tag des Herrn. Diese Campa mußten ihr Land verlassen. Da die Regierung das Amazonasgcbiet erschließen will, weist sie die Besitzansprüche der Indianer zurück und erleichtert Rohstoffspekulanten den Erwerb gewaltiger Flächen. Die Indianer müssen gehen oder für die Unternehmer arbeiten. Auf Widerspenstige wird Jagd gemacht wie auf wilde Tiere. Auch heute noch. Die kulturelle Vernichtung ist nicht weniger grausam. Die Prediger sind von amerikanischen Missionaren ausgebildet worden. Im Stimmgewirr fangen wir Sätze auf: » Christus ist unser Erlöser. Wer an ihn glaubt, dem wird das Himmelreich gewiß sein, auch wenn er Leid in dieser Welt zu tragen hat. «

» Unwissenheit hat euch zu den heidnischen Göttern aufblicken lassen. Es gibt nur einen Gott, unser aller Vater im Himmel, der uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat.« »Unwissenheit hatte Euch mit Blindheit geschlagen, jetzt kommt Licht über euch.« »Bete, und du wirst erhört werden, arbeite, und du wirst belohnt werden. Die Frucht deiner Arbeit ist der Lohn deines Lebens.« »Zeit ist kostbar. Sei pünktlich, und du wirst es nicht bereuen.«

» Gott hat deinen Weg vor gezeichnet -Übe Demut, und du wirst ihn finden.« »Essen darfst du nur, was die Bibel erlaubt. Wer raucht, trinkt oder Fleischeslust sucht, ist ein Sünder. Selbstkontrolle ist notwendig.« Undsoweiter - undsoweiter. Zwei Stunden lang werden diese Menschen zu brauchbaren Mitgliedern unserer Gesellschaft umerzogen. Die amerikanischen Adventisten, die diese Mission leiten, kommen nur einmal im Monat, um nach dem Rechten zu sehen. Interviews wollten die Gottesmänner nicht geben. In den letzten Jahren ist soviel Negatives über die Arbeit von Missionaren aufgedeckt worden. Fragesteller werden fortan abgewiesen.

Das Spendenangebot der gesamten ersten Reihe in der Kirche besteht nur aus einem Ei und einer Münze im Wert von etwa drei Pfennigen. Jetzt muß man Kleider kaufen, Büstenhalter, Hemden und Hosen. Die Bedürfnisse werden von außen diktiert -nicht mehr von der Gemeinschaft. Aber gibt es diese Gemeinschaft überhaupt noch? Außer der Gemeinsamkeit im Glauben wohl kaum. Alles ist darauf angelegt, die traditionelle Gruppen-Solidarität zu zerstören. - »Jeder hat nur ein Recht auf das, was er sich im Schweiße seines Angesichts selbst verdient hat. « — Ein Satz wie dieser leitet hier das ein, was wir den gesellschaftlichen Sündenfall nannten. Er spaltet die Gruppe in Tüchtige und Versager, in Reiche und Arme. Ungleichheit und Geschichte haben begonnen — der Kampf ums Dasein geht los. Unter dem Motto: du bist, was du hast.

 

 

 

 

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