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 4.  Die Ursachen des Urverhaltens    Löbsack-1983

 

Das geistige Erbe der Urahnen — Damals in der Steppe — Neue Sinneseindrücke — Geruch — Sprache und Sozialisierung — Auch im Dunkeln läßt sich zuhören — Die Werkzeug­macher — Steingeräte — »Feedback« im Großhirn — Wohnungsnot — Steinzeitdame — Die problem­lösenden Denkprozesse — Arbeitsteilung bei der Jagd — Jagen nach Plan — Feuer — Magie der Flammen schon zur Altsteinzeit? — Die Rolle der Frauen damals und heute — Kindestötung als Bevölkerungs­bremse? —  Kam der Mut erst mit dem Seßhaftwerden? — Ein typisch menschliches Verhaltens­prinzip entsteht.

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In diesem Kapitel soll demonstriert werden, wie das Großhirn jene Eigenschaften erwarb, die für den modernen Menschen so problematisch geworden sind. Ich möchte beschreiben, warum wir Menschen bestimmten Grundmustern des Verhaltens folgen, ohne uns eigentlich dagegen wehren zu können, ja ohne daß es vielen unter uns überhaupt bewußt wird. Es soll verständlich werden, warum uns dieses monströse Organ heute immer wieder dazu verführt, für unser Überleben schädliche Dinge zu tun und andere zu lassen.

Das Schlimme ist ja, daß wir in einer schon ausgeplünderten und übervölkerten Welt noch immer von den gleichen Antrieben beherrscht werden, daß wir prinzipiell die gleichen Wünsche hegen und Ziele verfolgen, wie sie unseren Urahnen während der »Menschwerdung« zugewachsen sind. Die vom Urmenschen damals für sein Überleben erworbene Ausstattung an Denkfähigkeit und technischem Geschick sind wir über die Jahrmillionen nie mehr losgeworden — manches hat sich sogar noch gesteigert. Es hat uns in die Lage versetzt, die Natur zu beherrschen und mit beispielloser Effizienz in ihr Getriebe einzugreifen. 

Zugleich haben wir uns nicht nur massenhaft vermehrt, sondern auch immer weniger kontrollierbare Wechselwirkungen in unseren Gesellschafts­systemen herauf­beschworen.

Hätte sich das Gehirn in den letzten hunderttausend Jahren weiterentwickelt, so könnte es die von ihm etablierten Verhältnisse vielleicht noch durchschauen und die Menschen in kollektiver Anstrengung Wege finden lassen, der drohenden Gefahr eines Untergangs im Chaos zu entrinnen. 

Doch das Gehirn - wir haben es erwähnt - ist »stehengeblieben«. 

Während die kulturelle Evolution weiterwirkte, hat es nur noch die Antriebe und Voraussetzungen für die Entfaltung von Technik und Industrie, von Wissen­schaft, Wirtschaft, Kultur und Glauben geliefert, ohne gewissermaßen das Steuer in der Hand zu behalten. Es hat die Probleme geschaffen, die uns heute bedrücken, doch wird es immer weniger mit ihnen fertig. Es durchschaut sie nicht mehr. Als einstiges »Überlebensorgan« steht das Gehirn heute hilflos vor dem, was es bewirkt hat. Ruhelos wird die menschliche Gesellschaft von den gleichen Antriebskräften vorangetrieben, die ihren Ahnen in einer noch menschenarmen, unberührten Umwelt die Existenz sicherten, die aber heute im hohen Maße obsolet, also unangemessen geworden sind.

Die Gründe dafür, wie es dazu gekommen ist, müssen wir in der Vorzeit suchen. Im 2. Kapitel haben wir darüber gesprochen, warum der Vormensch in der Steppe allmählich zum aufrechten Gang fand, wie er Werkzeuge herzustellen und zu benutzen lernte. Hier wollen wir der Frage nachgehen, welche neuen Aufgaben das Gehirn dabei bekam, welche speziellen Antriebsmuster, Steuerzentren und Eigenschaften es entwickeln mußte, und wie es dazu kam, daß der Zwang zur Lösung neuer Probleme sich in jenen Verhaltensweisen niederschlug, die auch uns heutige Menschen noch beherrschen. 

Mit anderen Worten: 

Wir wollen zeitrafferartig untersuchen, welche prägenden Auswirkungen die neuen Herausforderungen, Eindrücke und Erfahrungen des aufrechtgehenden Steppenbewohners auf sein Gehirn hatten, wie das zentrale Nerven­system darauf reagierte und welche neuen Merkmale es im Zusammen­hang mit der neuen Lebensweise erwarb.

Unbestritten ist: 

Individuen, deren Körperbau oder Verhalten durch entsprechende erbliche Veränderungen dem vorteilhaften Aufrechtgehen entgegenkamen, werden es bei der Auseinandersetzung mit der neuen Umwelt leichter gehabt haben. Wo andere einem Feind, vielleicht einem gereizten Raubtier, zum Opfer fielen, da überlebten sie. Ihre Anlagen wurden von der Auslese gefördert. Sie bekamen größere Fortpflanzungsmöglichkeiten und konnten ihre Eigenschaften entsprechend weiter verbreiten als andere Stammesgenossen.

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Zwangsläufig ergaben sich mit dem aufrechten Gang für das zentrale Nervensystem auch neue Aufgaben. Bisher ungewohnte Erfahrungen wollten verwertet sein. Neue Sinnesreize wurden empfangen und wollten zweckmäßig beantwortet sein. Dies gelang jenen am besten, die dafür schrittweise verbesserte, vergrößerte, auch neue Zentren im Gehirn entwickelten. Ergaben sich durch Mutationen zufällig neue oder vermehrte Verschaltungsmöglichkeiten, so verbesserte dies die Überlebenschancen. Dasselbe geschah, wenn sich vorteilhafte Veränderungen an den Nervenzellen selbst ergaben, beispielsweise solche, die der Erregungsleitung, dem Erinnerungsvermögen oder dem Denkprozeß zugute kamen. Eine Art wechselseitiger Beeinflussung fand statt: hier die neuartige Umwelt, die beherrscht sein wollte, dort die korrespondierende Anatomie, die Körperfunktionen und das Nervensystem, die ihr mehr und mehr gerecht werden mußten, wenn das Gehirnwesen bestehen wollte.

Bleiben wir konkret: 

Während die Augen der einstigen Baumbewohner noch an grünes Dämmerlicht gewöhnt waren, schweiften die Blicke jetzt über helle, weite Ebenen. Wolken und Sonne, Blitze und Himmelserscheinungen verschiedenster Art sah der Frühmensch nun mit neu erwachtem Interesse. Das wird seinem Nachdenken Impulse gegeben haben. Während im Wald allenfalls eine tagsüber hereinbrechende Dunkelheit ein bevorstehendes Gewitter oder einen Regenguß signalisierten, kündigte sich ein Wetterwechsel nun viel eher und mit zahlreicheren atmosphärischen Vorboten an. Die Steppenbewohner lernten, solche Zeichen zu deuten und sich auf die Folgen einzustellen. Wechselnde Windrichtungen und -stärken, die Bewegung der Wolken, größere Temperatur­unterschiede als im Wald, Flächenbrände und das Verhalten der Steppentiere — all das ließ Rückschlüsse zu, mußte beachtet und dem eigenen Verhalten zugrunde gelegt werden. Es erlaubte vorsorgliches Handeln. 

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So lernte der Frühmensch, seine Unternehmungen bewußter und immer erfolgreicher den Umständen entsprechend durchzuführen: die Jagd, das Beeren­sammeln, der Aufenthalt in gemeinsamen Lagern, der Wechsel zwischen Ruhe und Aktion.

Neue Möglichkeiten bot auch der Blick-Kontakt zu entfernten Hordengenossen und die Möglichkeit, sich über eine gewisse Entfernung Zeichen zu geben. Im Gegensatz zur Situation im Wald sah man das Wild jetzt schon von weitem, so daß es umzingelt werden konnte. Unter Sichtkontrolle war vieles einfacher. Zeichen mit Armen und Ästen machten allerlei Strategien möglich. Die Intelligentesten mögen sie erfunden und die Jagdrotte wird sie wirkungsvoll angewandt haben.

Weiter sehen zu können als im Wald, das erwies sich namentlich bei der Jagd auf die schnellfüßigen Steppentiere wie Antilopen und Gazellen, auch auf die — wie vermutet wird — als Leckerbissen geschätzten Paviane als nützlich. So machte die unter dem Selektionsdruck wachsende körperlich-geistige Geschick­lichkeit auch immer wieder andere, der Situation angemessene jagdliche Techniken und Tricks möglich, die den Erfolg sichern halfen. Unvermeidlich »trainierte« der Mensch damit jene Antriebe, die Verhaltensmuster prägten wie »Beutemachen«, »Sichern des Lebensunterhalts durch Überlisten« und »Ausnutzen aller Chancen, die die Umwelt bietet«.

Was für die Augen galt, traf auch für die Ohren zu. Das Gehör verfeinerte sich, weil es jetzt nicht nur neue, sondern auch wesentlich leisere Geräusche hörte. Wie unterschied sich die Savanne oder Steppe vom Urwald? Der Wind trug Töne, Stimmen und Geräusche wesentlich weiter als im Pflanzengewirr des Dschungels und der Sümpfe. Andere Tiere brachten andere Laute hervor. Das Gräsermeer rauschte, zuweilen gab es auch eine große, vom Urwald her völlig ungewohnte Stille. Das alles ließ sich ausnutzen. 

Stammesgenossen mit lauter Stimme konnten ihren Gefährten schon von weitem eine nahende Gefahr oder einen Jagderfolg melden, Hinweise auf die Fluchtrichtung des aufgestöberten Wildes geben und manches mehr. Im selben Maß aber, wie das Gehör neue Eindrücke empfing, konnten sich auch die für akustische Sinnesreize zuständigen Gehirnabschnitte wandeln. Der vermehrte Informationsfluß kam einem zweckmäßigeren, der Situation angemesseneren Verhalten zugute.

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Anders als mit Augen und Ohren erging es wahrscheinlich dem Geruchssinn. Auch wenn wir Menschen heute mit unseren Nasen sicher nicht entfernt mit denen der Frühmenschen hätten konkurrieren können, so muß man doch annehmen, daß deren Riechvermögen durch die Aufrichtung eher benachteiligt worden ist. Wir haben schon erwähnt, daß ein Riechorgan eineinhalb Meter über dem Erdboden weniger zu tun bekommt als eines, das dem Erdboden näher ist. Da die Aufrechtgeher auf ihre Nase außerdem weniger angewiesen waren wie etwa die schnelläufigen Fluchtspezialisten unter den Tieren (die den Feind vor allem »wittern«), wird ihr Geruchsvermögen von der neuen Lebensweise auch kaum profitiert haben.

Dafür nahm der »Aktionsradius« zu. Man hangelte jetzt nicht mehr auf begrenztem Raum im Baumgeäst umher, sondern empfand — wenn man so sagen darf — eine Art neuer Freiheit. Man streifte weiter herum, und dabei kamen dem Frühmenschen natürlich der aufrechte Gang und die erstarkenden Beinmuskeln zustatten.

Drei Neuerwerbungen vor allem brachten die Steppenbewohner in ihrer neuen Umgebung auf dem Weg zum Homo sapiens weiter: die Sprache, der Werkzeug­gebrauch und das arbeitsteilige Leben im Sozialgefüge der zunächst kleinen, allmählich aber wachsenden Gemeinschaften. Alle drei Errungen­schaften haben auch die Gehirnentwicklung stark beeinflußt.

Über die anatomischen Voraussetzungen dafür, Sprachlaute hervorzubringen, haben wir im 2. Kapitel gesprochen. Auch viele Tiere können zwar Laute hervorbringen, jedoch bei weitem nicht so verschiedenartige wie der Mensch. Es sind »tierische« Laute mit begrenztem »Bedeutungsrepertoire«, während der Mensch ein außerordentlich vielgestaltiges akustisches Kommunikationsmittel entwickelt hat.

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Schon früh werden wir die Sprache nicht nur im Kontext mit den zunehmenden Sinnesleistungen der Augen und Ohren sehen müssen, sondern auch mit der Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen und zu gebrauchen, vor allem mit der gemeinschaftlichen Lebensweise im »Clan«. Sprechen ermöglichte vieles. Es diente zur Verständigung über das, was man tun oder lassen wollte, was man sich wünschte oder ablehnte, was man erlebt oder von anderen erfahren hatte, was man fühlte, worüber man sich grämte oder was einen freute. Es half mit, Mißverständnisse zu vermeiden und sich in bestimmten Situationen angemessener zu verhalten. Es ersetzte manch handgreiflichen Streit, indem es die Möglichkeit bot, sich zu beschimpfen statt zu verprügeln. 

So geriet die Sprache auch zum salonfähigen Mittel, »Dampf« abzulassen, was sie bekanntlich bis heute geblieben ist.

Kein Zweifel, die neuerworbene Kommunikationsform erwies sich als äußerst nützlich sowohl in der Auseinandersetzung mit der Umwelt als auch im Umgang mit den Mitgliedern des Verbandes, dem man angehörte. Sie machte vieles leichter, manches überhaupt erst möglich. Wer mit den gesprochenen Lauten am besten umzugehen wußte, wer sie bei der Nahrungssuche, auf der Jagd oder bei der Wahl des Geschlechtspartners am geschicktesten einsetzte, dem boten sich auch größere allgemeine Lebens- und Fortpflanzungschancen, so daß er sein erbliches »Talent« weitergeben und weiter verbreiten konnte. 

So machte die Sprache immer mehr »von sich reden«.

Versuchen wir einmal, ein anschauliches Bild zu gewinnen. Nach wenn auch vagen Schätzungen lebten vor zwei bis drei Millionen Jahren im ostafrikanischen Raum etwa rund 100 Individuen auf einer Fläche von 100 Quadratkilometern, also einem Quadrat mit je zehn Kilometern Seitenlänge. Die Erde war noch verhältnis­mäßig groß und leer, ihre unbeeinflußte Naturlandschaft stand als Herausforderung dem frühmenschlichen Tatendrang offen. 

Doch bevor es ans »Erobern« ging, galt es zu überleben. Das erforderte Geschicklichkeit und Intelligenz. Erleichtert wurde es durch die mehr und mehr über bloße Brumm- und Knurrlaute hinausgehende »Ursprache«.  

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Wie, zum Beispiel, war es bei der Jagd? 

Schnelle Steppentiere, die ihrerseits schon lange an die weitläufige Landschaft angepaßt waren und sich entsprechend vorsichtig verhielten, ließen sich nur mit List erbeuten. Bloßes Verfolgen wäre ein hoffnungsloses Beginnen geblieben. Man wird also Treibjagden veranstaltet haben, beispielsweise auf Hochebenen, an deren Steilhängen sich die Tiere zu Tode stürzten, oder in enger werdenden Tälern, wo man sie mit Wurfsteinen, Knüppeln, primitiven Speeren oder Schleudern erlegen konnte. Mit Hilfe zugeschlagener Gesteinsstücke oder Eolithen wird man das Wild dann in transportable Stücke zerlegt haben.

Da es bei alledem auf Kooperation ankam, werden sich die ersten Jäger auch schon durch Zurufe verständigt haben, primitive Laute vielleicht mit der Bedeutung von Feuer, Wasser, Wind, von »hierhin«, »dorthin«, »Vorsicht«, »laufen«, »stehenbleiben«, »verstecken«, »töten« und ähnliche könnten benutzt worden sein. Vielleicht hat es sehr früh auch schon Laute mit der Bedeutung von Zahlen gegeben, zunächst vielleicht nur solche für »einzelne« und »viele«, später für eins bis fünf (die Finger einer Hand), doch darüber kann man nur spekulieren. 

Unbestritten ist: 

Die Sprache, wie primitiv sie anfangs auch immer gewesen sein mag, setzte zur Verständigung das Tageslicht nicht mehr voraus. Denn was gesprochen wird, läßt sich auch im Dunkeln hören und begreifen. Es bedurfte jetzt nicht mehr gestikulierender Zeichen, um den Gefährten mitzuteilen, daß man Hunger oder Schmerzen hatte, daß ein gefährliches Tier ums Lager schlich oder die Geburt eines Kindes sich ankündigte.

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Gemessen an ihrer Nützlichkeit als Instrument im Lebenskampf dürfte sich die Sprache rasch verbessert haben. Aus ersten »Urlauten« werden Tonfolgen und satzähnliche Bildungen entstanden sein. Der »Wortschatz« nahm zu. Und mit ihm wuchs das Sprachzentrum im Gehirn, das für die Verarbeitung des Gesprochenen zuständig war. Eine Art Wechselwirkung entstand, indem das Sprachvermögen vom Gehirn Impulse für immer neue Ausdrücke und Lautkombinationen erhielt, was die Sprache allmählich differenzierter und damit nützlicher zur Lösung praktischer und sozialer Probleme machte. Je vielfältiger die Ausdrucks­möglichkeiten wurden, um so zweckmäßiger konnte man sich in den verschiedenen Lebenslagen verhalten. Je leistungsfähiger aber das Gehirn, um so erfolgreicher wiederum konnten die Vorteile genutzt werden, die der zunehmende Wortschatz bot.

Vermutet wird die Existenz eines Sprachzentrums bereits beim Homo habilis — wir sprachen schon davon. Dort jedenfalls, wo es heute neben den Zentren für die Mundmuskulatur und das Gehör nachweisbar ist, entstand die nach ihrem Entdecker später so genannte Brocasche Sprachwindung in der dritten linken Stirnwindung des Großhirns. Wahrscheinlich begann sich damals auch das basale Rindengebiet des Stirnhirns zu vergrößern, in dem die Antriebs­funktionen, aber auch logisches Denken und Handeln ihre Bezugsorte haben. 

Mit einem Wort: 

Das typisch Menschliche am Menschen begann sich zu regen. Zusammen mit dem Werkzeuggebrauch ermöglichte es die »kulturelle Evolution«, jenes die biologischen Triebkräfte der Stammesentwicklung ergänzende, auf individueller Erfahrung und Tradition beruhende System der Umweltbeherrschung und Lebensbewältigung.

Greifen wir aber nicht vor. 

Zunächst gelangen dem Gehirnwesen immer schwierigere Dinge, und dies auch deshalb, weil die Geschicklichkeit der Hände unter dem scharfen Selektions­druck rasch zunahm. Wer dank entsprechender Vorstellungskraft die besten Steinwerkzeuge herstellen konnte, war gefragt, wurde respektiert, trug mehr zum Jagderfolg und zum Lebensunterhalt bei als der Ungeschickte.

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Stellen wir uns die Szene vor: 

Der Frühmensch hatte begriffen, wie zweckmäßig die scharfe, beim Zertrümmern entstandene Bruchkante eines Geröllstückes zum Zerteilen einer erbeuteten Antilope einzusetzen war. Anfangs wird er zufällig gefundene, scharfgratige Gesteinssplitter benützt und wieder weggeworfen haben. Später wird er sie aufgehoben und wiederverwendet haben — was schon einen höherwertigen Denkakt voraussetzte: die Überlegung, daß es immer wieder ähnliche Situationen geben würde, in denen das Werkzeug nützlich wäre.

Als nächsten Schritt wird der vorgeschichtliche Werkzeugbenutzer der Natur nachgeholfen und handliche Gesteinsbrocken gezielt erzeugt haben. Er wird also größere Gerolle gegen eine Felswand geworfen oder sie mit einem Schlagstein zertrümmert haben, um sich aus den Bruchstücken dann die geeignetsten herauszusuchen. Vielleicht sind ihm kugel- oder eiförmige Geröllstücke auch beim Einhämmern auf Knochen zersprungen, wenn er versuchte, an das wohlschmeckende Mark zu gelangen.

Bruchkanten an Gesteinen können übrigens — je nach der Gesteinsart — nahezu Rasiermesserschärfe erreichen. Sie können sehr viel schärfer sein, als es je durch die sogenannte »Retouche« erzielt werden kann. Das ist jene später angewandte Bearbeitungstechnik, bei der an der Schneidkante manchmal nur winzige Gesteinssplitter durch Druck abgesprengt wurden, um die beim Gebrauch verminderte Schärfe wieder herzustellen.

Mit den ersten noch sehr primitiven — pebble-tools genannten — Werkzeugen hat sich der Frühmensch dann Jahrhunderttausende beholfen, ohne wesentlich von der bewährten Bearbeitungstechnik abzuweichen oder »Fortschritte« zu machen. Er ist dabei sicher nicht schlecht gefahren, zumal sich seine Lebens­bedürfnisse damals über lange Zeiträume kaum verändert haben dürften.

Allmählich erst wandelte sich das Bild. Mehr und mehr dienten den frühen Vorfahren des Menschen die Arme und Hände für die verschiedensten Verricht­ungen. Mit den beweglichen Fingern ließen sich zunehmend feinere Arbeiten verrichten. Wenn auch der Daumen noch nicht so weit abgespreizt werden konnte wie beim heutigen Menschen, so ging die Hand- und Fingerfertigkeit doch schon weit über jene Klammerfunktion hinaus, die die Hände bei den baumbewohnenden Primaten vor allem hatten.

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Bedenkt man weiter, daß die ersten »Produkte« aus Holz, Stein oder Horn von der Form und dem Gebrauchswert her einem ständigen feedback durch das Gehirn unterworfen waren, so ergibt sich, was die Steinwerkzeuge betrifft, der nächste Schritt fast von selbst: Früher oder später wird ein findiger Kopf darauf verfallen sein, nicht nur die begehrten Schneidkanten durch gezieltes Bearbeiten künstlich herzustellen, sondern durch die Bearbeitung des ganzen Steines diesen der Hand anzupassen. Mit dem bewußten Bearbeiten von Steinen jedenfalls begann eine neue Epoche. Die ersten »Spezialwerkzeuge« entstanden, die Faustkeile, steinernen Schaber, die Bohrer und Kratzer.

Wie nützlich diese Werkzeuge dem Frühmenschen gewesen sind, kann man sich denken. Betrachtet man solche Fundstücke heute in einem Museum, so dokumentieren sie auch die Evolution der Herstellungstechniken. Man sieht, wie der Gebrauchswert mit der Zeit allmählich zunahm. Fingerkerben entstanden, immer feinere Abschläge an den Schneidkanten erhöhten die Schärfe. An manchen dieser Geräte sind Schneiden herausgearbeitet worden, die wie kleine Sicheln gekrümmt erscheinen. Mit ihnen wird der Frühmensch das Fleisch von den Knochen, auch die Rinde von den Ästen geschabt haben. Aus dem Krümmungsgrad der Sichelform läßt sich sogar auf den Durchmesser der bearbeiteten Knochen oder Aste schließen.

Andere Fundstücke könnten als Bohrer, wieder andere als Mehrzweckwerkzeuge sowohl zum Bohren als auch zum Schneiden und Schaben benutzt worden sein. Ganz nebenbei ergab sich, daß damals wahrscheinlich noch keine ausgeprägte »Händigkeit« bestand, denn zumindest unter den Schabern und Kratzern der Zeit des »Heidelbergers« fanden sich etwa gleich viele für den links- wie rechtshändigen Gebrauch [62, 63]. Heute hört man übrigens die Auffassung, wenn jemand mit beiden Händen gleich geschickt sei, so käme dies der Leistungsfähigkeit beider Großhirnhälften zugute, die dann gleichermaßen trainiert würden, während ausgesprochene »Händigkeit« nur jeweils einer Hirnhälfte nütze.

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Praktiker haben die alten Steinwerkzeuge untersucht, um herauszufinden, wie die Werkzeugmacher der Altsteinzeit die teilweise erstaunlich zweckmäßigen Formen hergestellt haben könnten. Sie stellten fest, daß der Frühmensch offensichtlich auf die Kante oder den Rand eines Geröllstückes von einer oder beiden Seiten mit einem geeigneten anderen Stein eingeschlagen hat, wobei der Schlagstein als Meißel oder Stößel diente.

Das verwendete Arbeitsstück mußte natürlich »amorph« sein. Es durfte nicht, wie bei kristallinen Gesteinen, in einer bevorzugten Richtung splittern, sondern die Abschläge mußten der Schlagrichtung oder der Richtung des Meißeldrucks folgen. Besonders gut eignete sich dafür der Feuerstein oder Flint, eine Quarz-Abart von außergewöhnlicher Härte. Er kommt in der weißen Kreide vor und diente bis in die Jungsteinzeit, ja sogar noch bis in die Bronzezeit als Rohmaterial für Waffen, Pfeilspitzen und Geräte, wurde in einer Art Bergbau gewonnen und galt als begehrte Handelsware.

Sicherlich nicht nur einmal, sondern wahrscheinlich wiederholt und vielleicht an mehreren Orten gleichzeitig hat der Frühmensch dann etwas sehr Wichtiges herausgefunden. Dank seiner schon fortgeschrittenen Fähigkeit, bestimmte Erfahrungen zu neuen Ideen zu nutzen — »Assoziationen« zu bilden —, kam er dahinter, daß eine steinerne Schneidkante subtiler zu bearbeiten war, wenn er statt des Steines zum Abschlagen einen Meißel aus weicherem Material benutzte. Er verwendete dabei Hartholz ebenso wie Horn oder Geweih. Das erforderte zwar mehr Fingerspitzengefühl, doch wird es für die Herstellung derart feiner Spitzen, Schneiden oder Schabkanten auch schon besonders talentierte »Spezialisten« gegeben haben: Besitzer besonders leistungsfähiger Vorderhirne, die damit über ein ungewöhnlich feinfühliges Steuerorgan für ihre Hände verfügten.

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Ein so entstandenes Gerät jedenfalls stellte dann etwas dar, das man heute ein »Qualitätswerkzeug« nennen würde. Mit ihm ließen sich steinerne Speerspitzen fertigen, die tiefere Wunden schlugen und das Wild sicherer und rascher töteten. Auch konnte das Fleisch erbeuteter Tiere jetzt viel sorgfältiger von den Knochen gelöst, die Eingeweide konnten säuberlicher entfernt werden. Gefangene Fische ließen sich besser aufschlitzen und entweiden. Eine hölzerne Speerspitze war präziser zu bearbeiten, wenn man sie vorher über dem Feuer härtete, Pfähle und Bohrlöcher im Holz konnten rascher und zweckvoller hergestellt werden.

Als noch fortschrittlicher erwies sich dann jene vor allem für kleine und kleinste Klingen und Pfeilspitzen aus Feuerstein angewandte Technik, bei der man den Rand des Arbeitsstückes gegen das Werkzeug, also gegen den Stößel aus Hartholz, Elfenbein oder Horn preßte und damit noch wesentlich kleinere Splitter abzusprengen vermochte als zuvor.

Sollten längere Späne aus einer Feuersteinknolle abgespalten werden, so wurde der Rohling auf eine harte Unterlage gelegt, ein Hartholzmeißel angesetzt und dieser mit einem Stein geschlagen. Vielleicht benutzten die frühen Werkzeugmacher auch ihre Brust, um einen wohldosierten Druck auf einen langen, nach unten gerichteten Druckstock auszuüben, unter dessen zugespitztem, gehärteten Ende die Flintknolle auf einem steinernen Widerlager aufsprang.

Wir wollen diese Beschreibung hier nicht weiter fortsetzen, denn es gibt eine umfangreiche Literatur darüber [5, 8, 30, 48]. Worauf es uns ankommt, ist die Frage, wie sich die zunehmende handwerkliche Erfahrung des Früh­menschen auf seine Gehirnentwicklung ausgewirkt hat und wie - umgekehrt - die neuerworbenen Fähigkeiten des Gehirns ihn wieder zu neuen Taten ertüchtigt haben. Dabei soll uns erneut ein Blick auf die früh­menschliche Umwelt helfen.

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Wir sagten schon, daß die Altsteinzeitler wahrscheinlich in kleinen Horden zusammenlebten. Das hatte verschiedene Vorteile. Einerseits war die Jagd mit verteilten Rollen, mit Treibern und Jägern, für den an Schnelligkeit den meisten Steppentieren unterlegenen Frühmenschen die einzige Chance, nennenswerte Beute zu machen, wenn wir einmal von Fallgruben absehen. Zum andern bot die Gemeinschaft Schutz und ermöglichte arbeitsteilige Aktionen. Als Unterschlupf dienten Höhlen, die mit zunehmender Individuenzahl freilich knapper geworden sein dürften. 

Eine erste »Wohnungsnot« wird den Frühmenschen damals angespornt haben, nach Auswegen zu suchen. Es werden Kämpfe um die Naturhöhlen geführt worden sein, vielleicht spielte sich das Leben auch noch teilweise im schützenden Wald ab. Der Frühmensch wird aber bei wachsendem Bedarf bald selbst damit begonnen haben, Höhlen zu graben. Später werden dann primitive Unterkünfte aus Geröllstücken und Ästen entstanden sein. Und das alles kostete Denkarbeit, denn die Schutzbauten mußten in der offenen Steppe weit stärker als im Wald vor Stürmen und Regengüssen, Bränden, auch vor Überschwemmungen gesichert werden.

Zu jener Zeit, da der Australopithecus seine Lebensweise so folgenreich veränderte, als er den Wald verließ und in die Steppe vordrang, dürfte sein Gehirn mit etwa 400 bis 650 Kubikzentimeter Inhalt noch nicht viel größer gewesen sein als das der Menschenaffen. Mit diesem noch primitiven Geistesapparat ausgerüstet, wird er als »Raubaffe« seine ersten Erfahrungen im offenen Grasland gesammelt haben. Es war allerdings auch die Zeit, in der dem Denkorgan rasch neue Aufgaben zuwuchsen.

Später wird es immer wieder kleine »Erfolgserlebnisse« gegeben haben, wenn eine besonders gelungene handwerkliche Arbeit vollbracht war, wenn sich zum Beispiel ein hervorragend scharfes oder vielseitig verwendbares Geröllstück auf der Jagd oder bei Arbeiten im Lager bewährte.

Sicher ist, daß mit jeder neuen Arbeitstechnik und jedem neu entdeckten Material sich auch neue Möglichkeiten erschlossen, dem Leben neue Seiten abzugewinnen. Wesentlicher mag allerdings etwas anderes gewesen sein. Wäre es nicht denkbar, daß damals die Verkoppelung eines Lustgefühls mit einer (damals vorwiegend handwerklichen) Tätigkeit entstand, also ein innerer, von Erfolgserlebnissen immer wieder beflügelter Antrieb? 

Müssen wir hier nicht die Wurzel für die ruhelose Betriebsamkeit jener Bastler- und Erfindernaturen suchen, die uns auch heute noch allenthalben begegnen und denen dieser Trieb »im Blut sitzt« wie anderen eine Sammelleidenschaft?

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Mit jedem Fortschritt in der Arbeitstechnik gab es sicher auch damals schon eine Art Erfahrungsaustausch unter den »Herstellern«. Und diese gegenseitigen Anregungen werden im Lauf der Jahrhunderttausende zugenommen haben. Werkzeuge aus Stein, Holz oder Horn, feine Knochengeräte wie Nadeln und Schmuck, wärmende Umhänge aus Fellen und Häuten — sie alle wurden ja auch immer wieder daraufhin überprüft, ob und wie sie sich beim Gebrauch bewährten. War es notwendig, ihre Form zu verändern, so regte dies wieder den Denkprozeß an. Es schulte gewissermaßen jene noch wenig entwickelten Zentren im Gehirn, in denen der mit der Arbeit oder der Idee korrelierende geistige Vorgang ablief.

Das konnte neue Bedürfnisse bewußt machen und Wege suchen lassen, sie zu befriedigen. Der Gedanke konnte aufkommen: Um einer Frau zu imponieren, werde ich ihr einen schöneren Halsschmuck herstellen, als sie ihn jetzt besitzt. Oder: Wir wollen ein großes gefährliches Tier fangen — wie kommen wir zum Ziel? Die Lösung des Problems ergab sich, indem man alle früher gemachten Jagderfahrungen mit den Erfordernissen verglich, die von der neuen Aufgabe gestellt wurden. Welche Waffen wären zweckmäßig? Größere oder gänzlich andere? Würde man sie geschickt genug einsetzen können? Wäre eine Fallgrube geeignet? Die konnte man in gemeinsamer Arbeit ausheben. Mit Grabstöcken ließ sich der Boden lockern, mit Baumrindenstücken die Erde wegtragen. Dann, wenn das Tier in das mit Zweigen verblendete Loch gefallen und gefangen war, konnte man es mit einer Lanze töten, einer Lanze, die zu diesem Zweck länger und schwerer sein mußte als jene, die man bei der freien Jagd benutzte.

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Es versteht sich von selbst: Diejenigen Gemeinschaften mit den einfallsreichsten, geschicktesten Mitgliedern werden auch die größten Jagderfolge gehabt und sich am wirksamsten gegen Feinde oder Raubtiere verteidigt haben. Sie überlebten länger, sie hinterließen die meisten Nachkommen, was ihre Erbanlagen verbreiten half. Es ist übrigens kaum anzunehmen, daß in der Frühzeit des Menschen schon Monogamie üblich war. In diesem Fall hätten die weniger Lebenstüchtigen ähnlich große Chancen erhalten, Kinder zu hinterlassen. Die Auslese hätte viel weniger intensiv gewirkt. Erst als die Gemeinschaften größer wurden, dürfte der Selektionsvorteil für die Geeignetsten mehr und mehr verloren gegangen sein, denn sie hatten nun immer weniger Gelegenheit, die durchschnittlich oder weniger begabten Männer im Wettbewerb um die Frauen auszustechen.

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Bleiben wir aber bei den Menschen der Altsteinzeit mit ihrer sicher schon früh praktizierten Arbeitsteilung. Die Frauen werden hauptsächlich als Sammlerinnen tätig gewesen sein und im Lager die Kinder gehütet haben, während die Männer auf die Jagd zogen und ihrerseits hier mit verteilten Rollen vorgingen. Vielleicht übernahmen bestimmte Mitglieder des Clans immer wieder die Rolle der Treiber, während andere die Tiere fingen und töteten.

Die Jagdtechniken der Frühmenschen werden sich, wie alle seine Unternehmungen, mit der Zeit verbessert haben. Die Methoden der ersten Steppenbesiedler werden vielleicht noch denen der Paviane ähnlich gewesen sein, die ja auch gelegentlich Jungtiere von größeren Arten erbeuteten. Später, mit den wachsenden geistigen Möglichkeiten, wird man Tricks und Raffinessen angewandt haben, denn die körperliche Unterlegenheit mußte wettgemacht werden.

Da mögen Jagdpläne bestanden haben, die Denkarbeit voraussetzten, zumal wenn mehrere Jäger dem Wild gemeinschaftlich nachstellten. Zwar jagen auch Hyänen und Wölfe im Rudel scheinbar nach einem Plan, doch hat deren Art des Beutemachens viel primitivere Züge. Das Tier wird gehetzt, von einem starken Rüden angefallen, niedergerissen, getötet und dann von der Meute zerfleischt, wobei das Leittier gewöhnlich den Vortritt hat. Beim Frühmenschen muß jedoch schon bald mehr im Spiel gewesen sein, etwa der vorausschauende Gedanke an die enger werdende Schlucht oder den Steilabfall der Hochfläche. Hinzu kam bald das Wissen um den Wert des ganzen Tierkadavers. Was konnte man mit dem Fell, der Haut, den Knochen, gegebenenfalls mit dem Geweih, den Hörnern oder Zähnen nicht alles anfangen?

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Man kann sich auch vorstellen, daß die Frühmenschen das Beutemachen den schnellen Raubtieren überließen, den Löwen, Leoparden, Geparden und Hyänen, und sie ihnen die gerissenen Tiere später abjagten. Vielleicht benutzten die Jäger zumindest in einer späteren Zeit schon brennende Holzscheite dazu. Vielleicht warteten sie ab, bis die Großkatze ihren ersten Hunger gestillt hatte und steckten dann — die Windrichtung bedenkend — das Steppengras an.

Auch das Feuer dürfte die Gehirnentwicklung mächtig vorangetrieben haben. Zunächst mußte es allerdings gebändigt werden, man mußte es erhalten und schließlich auch zu entfachen wissen. 

Wie kam der Frühmensch zum Feuer und wann?

Die Frage, wann der Mensch sich zum erstenmal das Feuer dienstbar machte, ist bis heute nicht beantwortet und wird wohl auch schwerlich geklärt werden können. Sicher zu sein scheint, daß der sogenannte Pekingmensch (ein Homo erectus) schon vor etwa 500.000 Jahren mit dem Feuer umgehen konnte. Darauf lassen umfängliche Aschefunde schließen, die bei dem Dorf Choukoutien in der Nähe von Peking im Löß altsteinzeitlicher Kalkhöhlen entdeckt worden sind. In der Asche verstreut lagen angebrannte und verkohlte Knochen, offenbar Reste von Mahlzeiten. Der Fund von Choukoutien läßt nach den Begleitumständen kaum daran zweifeln, daß es sich hier um eine frühmenschliche Herdstelle gehandelt hat.

Indizien für den Feuergebrauch aus noch früherer Zeit sind bis heute umstritten, so auch der spektakuläre Fund von Chesowanja am Turkana-See (dem früheren Rudolfsee) in Afrika. Hier stießen Paläontologen an insgesamt vierzig Stellen auf Steinwerkzeuge und Tierknochen in verbrannter Erde. Nur ist nicht sicher, ob diese Brandspuren vielleicht doch von Buschfeuern, Blitzschlägen oder vulkanischen Vorgängen herrühren. 

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Geht der Fund auf den Menschen zurück, so wäre ebenfalls an einen Homo erectus zu denken, von dem zahlreiche Reste aus dieser Zeit vor fast eineinhalb Millionen Jahren in Afrika geborgen worden sind. Die verbrannte Erde von Chesowanja befand sich in 1,4 Millionen Jahre altem Basalt [49].

Irgendwann wird der Frühmensch jedenfalls, sei es bei einem Steppenbrand oder einem Vulkanausbruch, seine Scheu vor den lodernden Flammen überwunden und ein brennendes Scheit aufgehoben haben. Kaum anzunehmen ist jedoch, daß er das erste Feuer durch Funkenschlagen erzeugte. Denn dies hätte schon erhebliche Kenntnisse und Fertigkeiten vorausgesetzt. Daß er später auf diese Weise sein Feuer erzeugte, legt der mittelsteinzeitliche Fundort Le Moustier in Frankreich nahe. Hier fand man Gesteinsknollen aus Schwefelkies, die sehr wahrscheinlich zum Feuerschlagen dienten. Vom Schwefelkies springen beim Anschlagen derart heiße Funken ab, daß ein geeigneter Zunder zu brennen anfängt, wenn die Funken richtig fallen und behutsam angeblasen werden.

Solche Zunder können aus strohtrockenem Gras, klein geriebenen, ausgedörrten Pflanzenteilen, abgestorbenem Moos, aus der Unterrinde von Bäumen (besonders der von Birken), dem Flaum aus Vogelnestern und dergleichen leicht hergestellt werden. Ein in der Fundstelle Trou de Chaleaux entdeckter Schwefelkies-Stein zeigt sogar Schlagspuren, die seine Verwendung zum Feuermachen ziemlich sicher bestätigen.

Bekanntlich kann Feuer auch durch Reibung entfacht werden. Wer den Frühmenschen für so intelligent hält, daß er Zunder bereiten und Funken schlagen konnte, wird ihm auch zutrauen, einen Hartholzstab mit der Spitze auf ein weicheres Stück Holz gesetzt zu haben, um ihn dann so lange zwischen den Handflächen zu zwirbeln, bis das Bohrloch zu glühen anfing. In jedem Fall werden die Jäger und Sammler die Vorzüge des Feuers schon bald erkannt und es zum Wärmen und Rösten von Fleisch genutzt haben.

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Es ist sicher ein denkwürdiges Ereignis gewesen, als das erste Lagerfeuer in der Steppe züngelte und der Geruch von Gebratenem über die Gräser zog. Später wird man Feuerstellen unterhalten, gegebenenfalls die Glut auch auf Wanderungen in geeigneten Transportbehältern (»Feuersäcke« aus Häuten und grünen Pflanzenteilen?) mitgeführt haben.

Wie die Fähigkeit zur Herstellung von Werkzeugen und die sich entwickelnde Sprache, so ging den Steppenbewohnern auch das Feuer nicht wieder verloren. Es blieb ihnen erhalten und sie nutzten es zunehmend — nicht zuletzt auch zum Härten hölzerner Speer-, Lanzen- und Pfeilspitzen.

Das Bewußtsein, mit dem Feuer eine ebenso gefährliche wie nützliche Naturgewalt in die Hand bekommen zu haben, es bändigen, zu verschiedenen Zwecken gebrauchen und auch wieder auslöschen zu können — das alles wird die frühen Menschen auch geistig verändert, es wird ihnen zu einem gesteigerten Selbst­bewußtsein verholfen haben. Zahlreiche neue Erfahrungen ergaben sich aus dem Umgang mit den Flammen. Warum nicht das Feuer zur Jagd verwenden? Warum nächtlich nicht Fische mit ihm anlocken? Warum nicht Herden durch gezielt gelegte Steppenbrände den wartenden Jägern zutreiben? Warum nicht ausprobieren, wie sich Fleisch, Pflanzen, Wasser, Häute und vieles andere unter dem Einfluß der Flammenhitze verhielten?

Mit dem Feuer ließen sich dunkle Höhlen beleuchten, man konnte also noch abends und nachts dort tätig sein. Feuchte Schlupfwinkel trockneten aus. Mit den Flammen konnte der Frühmensch zudringliche Raubtiere verjagen. Schließlich half ihm das Feuer, in kältere Erdgebiete vorzudringen und sie zu besiedeln.

Auch der Speisezettel veränderte und erweiterte sich jetzt. Gebratenes Fleisch schmeckte anders als rohes. Das Wildbret ließ sich nicht nur auf Stöcke spießen und über den Flammen rösten, man konnte es auch auf heiße Steine legen oder mit Lehm umhüllen und in die Glut werfen. Die Zubereitungsarten, die Geschmacks­unterschiede regten die Phantasie an, gaben dem Denken Impulse und mögen schon bald auch »Spezialisten« für die Steinzeit-Küche hervorgebracht haben: Individuen, die dank ihrer Veranlagung sich als besonders geschickt und einfallsreich im Umgang mit dem Feuer erwiesen.

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Wahrscheinlich müssen wir davon ausgehen, daß das Feuer den Frühmenschen auch schon psychisch irgendwie beeindruckt hat. Eine der schönsten Eigenschaften lodernder Flammen ist es, daß sie die Menschen zusammenführen. Der Anblick des Lager- oder Herdfeuers kann beruhigen, er kann zumindest uns Heutige fröhlich oder festlich stimmen und besinnlich machen. Man sitzt in der Runde, man plaudert, tauscht Erfahrungen aus, schmiedet Pläne oder fühlt sich nur einfach geborgen in seiner Nähe. Wanderer in einsamer Gegend fühlen sich »magisch« von einem Feuer angezogen, wenn sie es nachts in der Ferne erblicken. 

Wie ausgeprägt mögen solche Regungen bei unseren Urahnen schon gewesen sein? Feuerstellen vor dunklen Höhlen, um die Flammen herum hockende, fleischbratende und sich wärmende Gestalten — solche Szenen hätten wir jedenfalls beobachten können, wäre es uns gegeben, in die Zeit von damals zurückzublicken. Zumindest unbewußt wird der Altsteinzeitmensch dabei auch die sozialisierende Wirkung des Feuers erlebt haben. Seinem gemein­schaftlichen Leben kam das sicher zugute.

Und dieses Leben wurde langsam abwechslungsreicher. Man lebte in kleinen Gruppen und teilte sich die Arbeit. Die Kinder mußten gesäugt und versorgt, das Lager oder die Höhle mußte saubergehalten werden, das Feuer sollte nicht ausgehen, die gesammelten Nahrungsmittel, das erjagte Wild mußten verarbeitet, andere »frühgeschichtliche Hausarbeit« mußte verrichtet werden. Zwischen den mehr im Lager tätigen Frauen und den Kindern entstand dabei zwangsläufig auch eine intensive Bindung, die wiederum half, den Nachwuchs zu erziehen und in die Gemeinschaft einzugliedern.

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Warum es wahrscheinlich die Frauen und nicht die Männer gewesen sind, die zum Sammeln gingen, ist leicht einzusehen. Einmal lag die Jagd naturgemäß den Männern mehr. Körperkraft, Schnelligkeit, Geschicklichkeit im Umgang mit Speer und Lanze sind männliche Vorzüge. Etwas anderes kam aber hinzu. Wären die Frauen mit auf die Jagd gegangen, so hätten die Kinder im Lager zurückgelassen werden müssen, denn auf der Jagd hätten sie unweigerlich gestört. Darum fiel den Frauen zwangsläufig die Rolle der Behüterinnen des Lagers und die Sorge um den Nachwuchs zu. Die »Hausfrau« fand ihre Aufgaben offenbar schon früh in der Menschengeschichte.

Der Frau wurde ihre mehr häusliche Rolle schwerlich durch einen Akt despotischer Machtausübung durch den Mann zudiktiert. Sie ergab sich sozusagen aus biologischen Gründen von selbst. Denn die Frau bekommt die Kinder, nicht der Mann. Und die Frauen sind es, die die Brüste zum Stillen besitzen, nicht die Männer. Wo eine falsch verstandene Emanzipation dies heute leugnet, wird es unweigerlich Konflikte geben. Vielleicht muß man sogar noch weitergehen und sagen, daß die Auslese damals jene Gesellschaften begünstigte, die die Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern am konsequentesten praktizierten.

Das aber würde heißen: 

Jene Frühmenschen, die ihrer geistig-seelischen und körperlichen Verfassung nach dem Leitbild des einen oder anderen Geschlechts am ehesten entsprachen, werden durchschnittlich auch mehr Nachkommen gehabt haben als die »Abweichler«. Männer mit der Neigung, Säuglinge zu behüten oder »Lagerdienst« zu tun, dürften bei dem damals sicher noch harten Lebenskampf zumindest als Außenseiter betrachtet worden sein. Emanzipierte Frauen ihrerseits — wenn man sie schon so nennen konnte — werden die Überlebenschancen der Gruppe kaum erhöht haben, weil sie womöglich die Versorgung der Kinder vernachlässigten, was bei den Risiken des altsteinzeitlichen Lebens katastrophale Folgen gehabt hätte. Daß aus jenem steinzeitlichen Erbe noch manches in unserem Unterbewußtsein schlummert, dürfte kaum zu bezweifeln sein.

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Wie das Sozialleben der Frühmenschen im einzelnen vor sich ging, darüber wissen wir natürlich nichts. 

Denkbar wäre, daß dort, wo die Jagd mühsam und pflanzliche Kost schwer zu beschaffen war, die Horden dafür sorgten, daß der Nachwuchs nicht zu zahlreich wurde. Das mag ursprünglich durch die ohnehin hohe Sterb­lichkeit gewährleistet gewesen sein, doch hat es vielleicht auch schon Kindestötung gegeben: die Tötung neugeborener Mädchen vor allem, denn der Verlust an Männern beim Jagen und Kämpfen war sowieso größer. 

Später unterwarf man sich möglicherweise auch sexuellen Tabus.

Auch aus anderen Gründen vermehrte sich solch ein frühmenschlicher Clan noch keineswegs stürmisch. Wie bei zurückgezogen lebenden Naturvölkern noch heute, werden die Mütter ihre Säuglinge sehr lange, oft über Jahre, gestillt haben, so daß sie in dieser Zeit aus biologischen Gründen nicht schwanger wurden. Alles das wird die zusammenlebenden Gruppen zahlenmäßig klein gehalten haben.

Überschaut man die Entwicklung der noch äffischen Urwaldbewohner über die ersten Aufrechtgänger in der Steppe bis hin zum Frühmenschen vom Typ des Homo erectus, so ist das Großhirn damals besonders rasch gewachsen. Als »Überlebensorgan«, als Kontroll- und Koordinationszentrum der ersten Zweibeiner bekam es in dieser Zeit so viele neue Sinnesreize zu verarbeiten, daß es - mit einem saloppen Vergleich - anschwellen mußte wie die Muskelpakete des Schwergewichtlers unter hartem Training. 

Der Übergang vom Wald zur Steppe, von der Fortbewegung auf allen vieren zum aufrechten Gang, die Umstellung vom Pflanzen- zum Allesesser, die Anpassung an ein anderes Klima, an neue Feinde und Gefahren, die Entwicklung der Sprache, Werkzeug- und Feuergebrauch und die zunehmende Sozialisierung: All das waren mächtige Impulse in einer - gemessen an der übrigen Evolution - relativ kurzen Zeit.

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So vergrößerten und qualifizierten sich speziell die von den neuen Aufgaben beanspruchten und »geforderten« Gehirnteile. Mehr und bessere Verschaltungen zwischen den Nervenzellen entstanden. Das Sprachzentrum wuchs. Im Vorderhirn erweiterten sich jene Bereiche, in denen das begriffliche Denken und die Assoziationsfähigkeit ihren Sitz haben. Die Denkmaschine hinter den Augenbrauenwülsten der Frühmenschen half mit, das Gemein­schaftsleben zu bereichern, Jagdzüge zu planen, Werkzeuge, Waffen und Geräte immer zweckmäßiger zu gestalten, kurz: dem bloß Tierischen immer mehr »menschliche« Züge zu verleihen.

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Diese Entwicklung werden vor allem jene Individuen vorangetrieben haben, deren Gehirnstrukturen den neuen Aufgaben am besten »gewachsen« waren, denn sie nützten dem Clan. Eine »negative Auslese« - die Mutigsten starben im Kampf eher, weil sie sich der Gefahr offener aussetzten - gab es damals allenfalls bei der Jagd. Kämpfe zwischen den einzelnen Gruppen fanden wahrscheinlich kaum statt, es sei denn, gelegentlich um den Besitz einer besonders attraktiven Wohnhöhle.

»Aggression« kam damals wohl weit weniger auf, da sich die einzelnen Horden nur selten begegneten und »Eigentum«, das verteidigt werden mußte, noch nicht existierte, wenn man einmal von ein paar steinzeitlichen Gerätschaften absieht. Erst mit dem Seßhaftwerden, mit festen Wohnungen, mit Viehzucht und Ackerbau erwuchsen dem Menschen mehr verteidigungswerte Güter. Sie mußten geschützt werden, was mutige und tapfere Männer erforderte — Eigenschaften, die für den Frühmenschen wahrscheinlich noch weniger typisch gewesen sind [35].

 wikipedia  Georg_Kleemann_(Autor)  *1920 in Stuttgart bis 1992      dnb Buch

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Einflüsse, die das Gehirn weiterentwickeln halfen, lieferte auch das Klima. In den gemäßigten Breiten dürften hier vor allem die Eiszeiten Anstöße geliefert haben. Die allmählich einsetzende Kälte verlangte nach wärmerer Kleidung und besser geschützten Unterkünften. Sie zwang dazu, sich anzupassen und trieb damit die Auslese voran. Diejenigen Gemeinschaften, die am geschicktesten mit dem Feuer umzugehen verstanden, die sich durch Kleidung und Verhalten in der harten Winterzeit am besten vor dem Frost schützen, ausreichende Nahrungsvorräte anlegen konnten und bei der Jagd auf eiweiß- und fettreiche Beutetiere am erfolgreichsten abschnitten — mit einem Wort: die Intelligenten —, sie hatten auch die größten Überlebenschancen.

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Etwa in der letzten Zwischeneiszeit (Riß/Würm) vor 100.000 Jahren war das Großhirn zu seinem heutigen Ausmaß herangewachsen. Mit den größer werdenden Horden und der fortschreitenden »kulturellen Evolution« stellte es sein Wachstum dann jedoch ein. Es war, als hätte es sich nun alle Voraussetzungen für jenen Wissens- und Erfahrungszuwachs geschaffen, die der nacheiszeitliche Mensch noch erwerben sollte, um sein Leben sicherer und komfortabler zu gestalten. Denn die in Jahrhunderttausenden erworbenen Eigenschaften des Großhirns, vor allem seine Wißbegier, sie wirkten weiter. Sie trieben den werdenden Menschen dazu, immer wieder Neues zu probieren und Nützliches zu lernen. Zunehmend bekamen dabei Tradition und mündliche Überlieferung den Wert vorteilhafter Erbeigenschaften.

Heute fehlt der Selektionsdruck zur Steigerung vererbbarer Intelligenz fast völlig, denn die gegenwärtigen Sozialstrukturen bieten kaum noch die Basis dafür. Meist hat der besonders intelligente Erdenbürger sogar weniger Kinder als der durchschnittliche oder weniger begabte. Mehr und mehr nehmen uns Maschinen jene geistigen Leistungen ab, die einst Talent und Fleiß erforderten — denken wir nur an die Computer oder die Möglichkeiten der Mikroelektronik. 

Nachrichten, Ideen und Erfindungen gelangen über die Medien, durch Zeitungen, Film und Funk, Fernsehen, Fernschreiber, Satelliten, durch Literatur, Tonband und andere allgegenwärtige Kommunikations­mittel in alle Welt. Diese Errungenschaften haben ihre Vorzüge, denn Nützliches kommt mit ihrer Hilfe rasch vielen zugute. Sie haben aber auch Nachteile, weil der zugleich bewirkte Prozeß des permanenten Innovierens und Veränderns kaum noch steuerbar ist. Der sogenannte Fortschritt treibt planlos dahin, er krankt an seiner eigenen Kompliziertheit.

So manches beispielsweise, was den einzelnen Erfinder, was den Wissenschaftlerteams in den großen Industrielaboratorien anfangs als harmlose, wenn auch interessante Entdeckung erscheint — Beispiel: die schon erwähnte Urankernspaltung durch Otto Hahn —, kann sich, weltweit verbreitet und großtechnisch angewandt, zu einem beträchtlichen Gefahrenpotential auswachsen. Wir werden später noch sehen, wie der Mensch mit seinem »Organ zur Problemlösung« in immer rascherer Folge zweischneidige, ambivalente Erfindungen gemacht hat. Wir werden beschreiben, wie er dank seines Gehirns mit Hilfe der Technik seine körpereigenen Kräfte und Sinnesleistungen vervielfachen konnte und sich so für die Welt, in der er lebt, mit gefährlich vielen Machtmitteln ausgestattet hat.

Nichts, was ihm Vorteile versprach, hat der Mensch seit seinen Urzeittagen ungenutzt gelassen. Er konnte es auch gar nicht, da er ja von den Triebkräften der Evolution förmlich darauf programmiert worden ist, nach »immer mehr« zu streben. Seit jenen Jahrtausenden, da er aus dem schützenden Wald in die offene Steppe vordrang und auf zwei Beinen laufen lernte, half ihm nur noch das typisch menschliche Verhaltensprinzip, mit dem Ungewohnten fertig zu werden.

Das Beherrschenwollen, das Meistern von neuen Herausforderungen, die Unrast und die Unfähigkeit, sich mit dem Vorhandenen zu begnügen, ist damit nichts anderes als das stammesgeschichtliche Erbe jener damaligen Provokation. Und das Gehirn, das Großhirn zumal, lieferte ihm das geistige Handwerks­zeug dafür. Seinem Diktat blieb der Mensch auch noch zu einer Zeit ausgeliefert, als die Phase der Überlebens­sicherung längst abgeschlossen war und sein Veränderungstrieb, seine Massenvermehrung und sein »Fortschritt« nun sogar dieses Überleben wieder in Frage stellt.

Aus dem einstigen Sammeltrieb ist für die große Masse der Menschen ein unablässiges Besitzstreben geworden, aus der Jagdleidenschaft erwuchsen Machtgelüste und politische Spannungen, aus dem ersten primitiven Werkzeuggebrauch erstand eine übertechnisierte Kultur.

Tatsächlich hat das Großhirn dafür gesorgt, daß der Homo sapiens seine Ansprüche immer höher schraubte — viel höher, als es seiner inzwischen schon weidlich ramponierten und verarmten Umwelt gemäß wäre. Aus dem umweltschonenden Waldbewohner, dem Steppenjäger und Sammler, wurde der seßhafte Besiedler nahezu aller Erdteile. An fast alle Umwelten paßte er sich dank seines Geistes und seiner Technik an. Rücksichtslos gegen andere Lebensformen schaffte er sich Nahrung und Besitz, um trotz maßloser Massenvermehrung einen immer höheren Lebensstandard zu erreichen. Während Tiere und Pflanzen mit dem Vorhandenen auskommen, während sie sich innerhalb ihrer artgemäßen Grenzen verhalten, hat der Mensch sein Wohlbefinden ständig zu steigern versucht.

Tatsächlich stehen wir heute ratlos vor dem Trümmerhaufen einer freilich unverschuldeten Entwicklung. Doch es mußte so kommen. Die Schuldfrage stellt sich nicht. 

Der »Sündenfall« des Menschen — um einen biblischen Vergleich zu bemühen — bestand nicht darin, daß er vom Baume der Erkenntnis aß. Er lag darin, daß er auf zwei Beinen zu gehen lernte. 

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Die letzten Jahre der Menschheit    1983   Theo Löbsack