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Die Bösen Sieben oder warum der Mensch weichen muss

Löbsack-1989

 

 

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In den letzten Kapiteln ging es um Insekten, die alle Voraussetzungen für ein Überdauern des Menschen mitbringen, denn nach allen Indizien sieht es nicht so aus, als könnte der Homosapiens diese Arten zu seinen Lebzeiten noch ausrotten oder auch nur nennenswert dezimieren. 

Andererseits wird man einmal nicht sagen können, diese oder <die> Insekten hätten den Kampf gegen den Menschen schließlich gewonnen. Wohl haben sie sich erfolgreich gegen ihn gewehrt und behauptet. Doch haben sie den Menschen nicht von der Erde vertreiben können, sondern er selber wird es sein, der den Ast absägt, auf dem er sitzt.

Bis es soweit ist, dürfte jedoch noch einiges auf dem einst grünen und blauen Planeten geschehen, das dem zweibeinigen Geisteswesen schwerlich zum Ruhme gereicht. Der Mensch wird Umweltverhältnisse hinterlassen, die seinen Anspruch eher beschämen, ein <sapiens>, ein <Weiser> gewesen zu sein. 

Sehen wir uns um, so finden sich Vorboten dafür schon jetzt auf Schritt und Tritt:

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<Unberührte Natur> geht zunehmend zugrunde.

In wenigen Jahrhunderten spätestens wird sie nur noch ausnahmsweise in entlegenen Winkeln des Globus existieren, wenn überhaupt. Auch diese Überbleibsel aber werden von grenz­über­schreitenden Umweltbelastungen wie der Luft­ver­schmutz­ung gezeichnet sein.

In den vermutlich um einige Grade wärmeren Meeren wird noch lange Zeit gelöster und anderer, vom Wasser nicht zersetzter Unrat treiben.

Unverrotteter Zivilisations­plunder und Rückstände chemischer Produkte werden die Landflächen besudeln. Die großen Wälder dürften weitgehend fehlen, und an ihrer Stelle werden Erosionsflächen, Steppen und Wüsten das Landschaftsbild prägen.

Alle diese Veränderungen werden noch ungezählten Pflanzen- und Tierarten während der letzten Jahrhunderte des Menschendaseins das Leben kosten. Sie werden aussterben und nicht wiederkehren. Verschwinden werden auch solche Lebewesen, die nicht Ziel direkter Vernichtung sind, sondern als Parasiten, Symbionten oder Nahrungsspezialisten auf bereits ausgerottete Arten angewiesen waren.

Schon in der Endphase des Menschen dürfte die Erde dagegen von Insekten beherrscht werden. So dürfte es noch massive Vermehrungen von Holz­schädlingen geben, und dies vor allem dann, wenn das Waldsterben anhält. Auch andere Schädlinge, die auf absterbende oder kränkelnde Pflanzen spezialisiert sind, werden vorübergehend massenhaft auftreten. 

Solche Kalamitäten werden aber im selben Maße wieder abklingen, wie die Pflanzensubstanz schwindet, wie die Wälder zu Wüsten und Steppen verkommen und das sterbende Holz verrottet.

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Je nachdem, ob es noch zu einem Atomkrieg kommt oder nicht, wie viele kleinere oder größere Unfälle in Atomkraftwerken es noch geben wird und wieviel strahlender Atommüll die Erde verpestet, wird eine erhöhte Radioaktivität auf der Erde herrschen. 

Unter den verbliebenen strahlen­empfind­lichen Arten wird diese Belastung für zusätzliche Erkrankungen sorgen. Bei nahezu allen Lebewesen wird es eine erhöhte Mutations­rate geben, das heißt, erbliche Merkmals­änderungen mit meist negativen Folgen für die Lebenstüchtigkeit werden häufiger auftreten.

Alle diese und einige Umstände mehr, zu denen wahrscheinlich auch erhöhte durchschnittliche Lufttemperaturen und stärkere Sonneneinstrahlung zählen, dürften eine unwirtliche Umwelt schaffen, die auf längere Sicht nur vergleichsweise robusten Lebensformen ein Auskommen bieten wird.

Wägt man ab, welche Formen dies aufgrund der bekannten Merkmale der heute lebenden Tiere sein könnten, so sind es — abgesehen von Mikroben und genügend robusten Pflanzen — die in den letzten Kapiteln behandelten Insekten. Selbst die ebenfalls sehr anpassungs- und widerstandsfähigen, weltweit verbreiteten Ratten werden zwar überleben, aber als strahlungsanfällige Säugetiere keinen leichten Stand haben.

Viele Insekten dagegen werden die Wandlung der Umweltverhältnisse und den erhöhten Strahlenpegel nicht nur verkraften, sondern in einer Beziehung sogar »aufatmen«, wenn man so sagen darf. Sie werden dies tun, weil sie nun den Vernichtungsattacken des Menschen nicht mehr ausgesetzt sind. Sie werden sich also — vor allem bei rascher Generationenfolge — vergleichsweise ungestört auf die neuen Gegebenheiten einstellen können.

Dies gilt auch für manch andere Lebewesen, für die der Mensch in den letzten Jahrhunderten seiner irdischen Anwesenheit zum Peiniger geworden ist. Bei den Insekten werden es vor allem die Schaben, viele Mückenarten, Ameisen, Termiten und Heuschrecken sein.

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Wenden wir uns damit dem Menschen zu und versuchen wir auszuloten, welche Wesensmerkmale und Aktivitäten es sind, die nach Lage der Dinge für ein baldiges Ende seiner Ära sprechen und damit den Weg frei machen für eine — wenn man es so ausdrücken will — »Weltherrschaft der Insekten«.

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Dafür, daß der Homo sapiens schon nach wenigen Generationen, schätzungsweise nach acht bis zwölf, den »Platz an der Sonne« seinen Nachfolgern wird freigeben müssen, zeichnen sich im wesentlichen sieben Gründe ab: 

  1. Erstens die exzessive Vermehrung der Erdbevölkerung bei unvermindertem Anspruch auf hohen Lebensstandard auf einer Erde, deren Ressourcen begrenzt sind.

  2. Zweitens die fortschreitende Zerstörung der Lebensgrundlagen durch Umweltvergiftung einschließlich Bodenerosion, die Klima- und Hunger­katastrophen vorprogrammieren.

  3. Drittens die sich steigernde Polarisierung zwischen reichen und armen Nationen und das wachsende Analphabetentum sowie die zunehmende Verstädterung mit allen ihren Folgen für das soziale Verhalten. 

  4. Viertens die wachsende Krankheitsanfälligkeit, die Schwächung der Immunsysteme und die zunehmende Abhängigkeit immer weiterer Bevölkerungs­kreise von Medikamenten und Prothesen.

  5. Fünftens das dem Menschen gemäße, unverzichtbare Festhalten an humanitären Hilfen für unterentwickelte, übervölkerte Hungergebiete mit der Folge, daß die Bevölkerung dort weiter wächst und das Elend immer größer wird.

  6. Sechstens das dem menschlichen Wesen eigene Neugierverhalten und der ruhelose Drang nach immer neuen Erkenntnissen, nach Wohlstand und Macht, und der sich beschleunigende technische Fortschritt.

  7. Siebentens die Unfähigkeit des menschlichen Gehirns, die zunehmend schwerer durchschaubaren, selbstgeschaffenen Verhältnisse auf der Erde noch in kollektiver Übereinstimmung zu beherrschen und mittels »vernetztem«, nicht »linearem« Denken so zu steuern, daß ein Überleben noch für längere Zeit gesichert wäre.

Vertieft man sich in diese »Bösen Sieben«, so ergibt sich schon heute eine düstere Situation — wenn auch nicht voraussehbar ist, welcher der verschiedenen Trends und welches Merkmal einmal den »Todesstoß« führen wird, oder ob gleich mehrere daran mitwirken werden.

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Es fällt schwer, darüber zu spekulieren, doch eines steht sicher fest: An »Altersschwäche« wird der Patient Menschheit sicher nicht sterben. 

Nach wie vor wächst die Erdbevölkerung, die bereits im Jahre 1987 die Fünf­milliarden­grenze überschritt, mit der atemberaubenden Zahl von derzeit 250.000 Seelen jeden Tag (Neugeburten abzüglich Sterbefälle), also der Einwohnerschaft einer Stadt wie Krefeld oder Saarbrücken.

Im Jahre 2025, so die jüngste Statistik der Vereinten Nationen, sollen bereits achteinhalb Milliarden Menschen die Erde bevölkern und damit rund 260 Millionen mehr, als noch 1985 prophezeit worden war. »Das schnelle Wachstum in den Entwicklungsländern«, klagt die Exekutiv­direktorin des Bevölkerungs­fonds der UNO, Nafis Sadik, »hat bereits begonnen, die Erde unwiderruflich zu verändern.«

Tagtäglich 250.000 Menschen mehr auf der Erde, das kann auf die Dauer nicht gut gehen. Es wäre nur dann hinzunehmen, wenn der irdische Lebensraum im gleichen Maße größer würde, die Erde sich also gewissermaßen aufblähte wie ein Luftballon. Unglücklicherweise tut sie das aber nicht. Das »Raumschiff Erde« bietet nur begrenzten Platz. Es kann auch nicht unbegrenzt Nahrung liefern. Schon heute gilt unter den Ökologen die Menschenzahl von fünf Milliarden als für die Erde viel zu hoch.

Selbst wenn es für alle diese Menschen genug Brot gäbe, so gehört doch zu einem menschenwürdigen Leben mehr als Essen und Trinken, nämlich Raum zum Leben, Ausbildung, Arbeitsplätze, Alters- und Krankenversorgung und manches mehr. Und diese Zunahme beschleunigt sich auch noch. Wenn früher einmal aus zwei Milliarden Menschen in fünfzig Jahren vier Milliarden wurden, so vermehren sich heute 5 Milliarden in 25 Jahren auf 10 Milliarden.*

Diese unheimliche Progression der Menschenvermehrung mit Schwerpunkten in den unterentwickelten Ländern mit ihren zahlreichen Analphabeten scheint die katholische Kirche mit ihren restriktiven Verlautbarungen zur Geburtenkontrolle überhaupt nicht zu begreifen, obwohl die Gefahr seit langem aufs eindring­lichste beschworen wird. Man vergegenwärtige sich nur einmal, daß allein in Indien gegen Ende der achtziger Jahre etwa 24 Millionen menschen­würdige Behausungen fehlten und diese Zahl bis zur Jahrtausendwende auf 40 Millionen angestiegen sein wird. 

Kein Wort zu diesem »Weltproblem Nummer eins« enthält die Sozialenzyklika des Papstes Johannes Paul II. aus dem Jahre 1988. Dabei ist dem Vatikan bekannt, daß die Bevölkerung in manchen Entwicklungsländern mit bis zu vier Prozent jährlich wächst.

* (d-2012)  Das stimmt so nicht. Pro Milliarde Zuwachs braucht die Menschheit 13 Jahre. 1987=5.Mrd., 2050=10.Mrd.
  T.L. rechnet mit 1 Milliarde in 5 Jahren.

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In einem solchen Fall müssen in einem bereits darbenden Land mit fünf Millionen Einwohnern jährlich 200.000 Menschen zusätzlich ernährt werden, und nicht nur das. Keine Politik und kein Wirtschaftssystem wäre fähig, den Betroffenen bei einer derartigen Springflut menschlichen Lebens ein menschen­würdiges Dasein zu ermöglichen.

 

Als zweiter potentieller »Killerfaktor« muß die zunehmende Umweltverschmutzung zu Land und zu Wasser in allen Erdteilen und der galoppierende Verlust an natürlich Gewachsenem auf der Erde genannt werden. Ganze Bibliotheken anklagender Literatur sind zu diesem Thema verfaßt worden, ohne einen nachhaltigen Wandel bewirkt zu haben. 

Als Beispiel sei die Luftverschmutzung genannt, vor der seit Jahrzehnten gewarnt wird und die jetzt, mit sich häufenden Smog-Wetterlagen über den großen Weltstädten und Industriegebieten und der Aufheizung der Atmosphäre durch Industriegase einem neuen Höhepunkt zutreibt.

Seit langem wird auch die Verschmutzung der Weltmeere, der Flüsse, Bäche und Seen beklagt. In Venedig nahm die Wasserverschmutzung im Sommer 1988 derartige Formen an, daß den Besuchern, die sich der Stadt auf dem Wasserwege näherten, der seit Wochen über der Lagune schwebende »betäubende Gestank verfaulter Eier« in die Nasen drang. Ein Fotograf nahm einen Gondoliere auf, dem das Singen vergangen war — er trug eine Gasmaske. Das Bild ging um die ganze Welt. Industriechemikalien und Haushaltsabfälle, die seit Jahrzehnten bedenkenlos in die einst so romantischen Kanäle abgelassen werden, hatten mit ihrem Gehalt an Phosphaten ähnlich wie schon in der Ost- und Nordsee ein massives Algen­wachstum ausgelöst. Von den Feldern abgeschwemmte Düngemittel kamen hinzu. 

Und da die Algen, wenn sie absterbend im Wasser zu Boden sinken, viel Sauerstoff verbrauchen, verendeten Unmengen von Fischen und Krebsen, auf deren Kadavern nun wieder Fliegen ihre Eier ablegten. Die Folge war außer dem Gestank und dem ekelerregenden Wasser eine Fliegenplage wie nie zuvor. In einem Lagebericht der Frankfurter-Allgemeinen-Zeitung vom 18.08.1988 aus Venedig heißt es über die ausfliegenden Insekten:

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»Ihr Leben ist zwar kurz, dafür aber vermehren sie sich um so schneller und zahlreicher. Nach dem Schlüpfen schwärmen sie sofort aus und lassen sich zu Milliarden auf Häuserdächern nieder, verdunkeln die Fenster und blockieren für Stunden die Flugpisten, wo Maschinen zu bestimmten Stunden weder starten noch landen können, während Züge auf Schienen entlanggleiten, die von einer dicken Fliegenschicht bedeckt sind ...

Um sich der Fliegen zu entledigen, hat die Stadt einen Notbehelf entwickelt, der seit drei Jahren mehr schlecht als recht funktioniert. Lichtstarke Scheinwerfer lenken die Insekten zu riesigen weißen Moskitonetzen, die auf leeren Plätzen in der Lagune aufgestellt sind. Dort fliegt ein Hubschrauber über sie hinweg und bestäubt sie mit <Dalmatinischem Insektenpulver> einem starken Insektizid.«

 

Industriechemikalien, Saurer Regen, Öl, Phosphate, Nitrate, Pestizide und Herbizide stören nicht nur die Wasserbiotope, sie haben auch das Grundwasser teilweise schon ungenießbar gemacht. 

Ähnlich skandalös gehen wir mit dem Erdboden um, der als Ackerfläche durch Schwermetalle, Wildkräuter-Vernichtungs­mittel und maßloses Düngen belastet wird und stellenweise zur bloßen Ablagerungsfläche für Gülle und Stallmist aus nahezu tierquälerischen Mastbetrieben für Kälber, Schweine und Hühner verkommen ist.  

Überregionale Erosionsverluste fruchtbarer Erde sind weitere Meilensteine auf dem Weg in den Abgrund. Nach einer Schätzung führt die Bodenerosion durch Abholzen wertvoller Wälder, verfehlte landwirtschaftliche Praktiken und Wasserbaumaßnahmen zu einem Verlust von weltweit rund 24 Milliarden Tonnen Muttererde. Diese Menge könnte einen Güterzug füllen, der fast 42 mal die Entfernung Erde-Mond überbrückte. Allein die unglaublichen Urwald­rodungen in Südamerika, Afrika und Südostasien, mögen sie zum Teil auch aus der Not der Menschen erklärbar sein, legen Jahr für Jahr rund 80.000 Quadrat­kilometer Boden frei und geben ihn der Erosion preis. 

Wenn die Bodenzerstörung anhält, dürfte die Menschheit schon nach etwa 150 Jahren keinen Ackerboden mehr besitzen und auf Hydrokulturen angewiesen sein, die kaum einen Bruchteil des dann erforderlichen Bedarfs decken dürften. In weiten Teilen der Erde wird die für die Nahrungs­versorgung gebrauchte Erde heute ausgeplündert, für den Bau- und Verkehrsbedarf betoniert und überbaut, ausgelaugt, übersäuert, überdüngt, vergiftet, verweht oder in die Weltmeere abgeschwemmt.

Schon heute sehen wir die Folgen unseres Umgangs mit dem Erdboden und den Wäldern, mit den Flußbetten, die wir begradigt und verbaut haben, und den Böden, die wir versiegeln, so daß sie immer weniger Feuchtigkeit aufnehmen können: Überschwemmungen, Erdrutsche und Lawinenabgänge häufen sich.

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Nach einer Erhebung der Schweizerischen Rückversicherungs-Gesellschaft (<Sigma-Studie>) gab es im Jahre 1987 mit 292 die größte Zahl schwer­wiegender Naturkatastrophen und Unglücksfälle seit 1970. Die dabei entstandenen Versicherungsschäden beliefen sich auf 5,3 Milliarden Dollar, was bedeutet, daß der Versicherungs­schaden gegenüber dem Jahr davor um fast 70 Prozent zugenommen hatte.

Unser »way of life« geht nicht nur auf Kosten der Natur, die wir brauchen, sondern auch auf die der nach uns kommenden Generationen — mit absehbarem Ende.

Mitverantwortlich dafür, daß die Umweltprobleme nicht geringer, sondern größer werden, sind Uneinsichtigkeit und politische »Sachzwänge« der jeweils Regierenden, die allenfalls halbherzige Maßnahmen ergreifen. Denn es wäre durchaus möglich, rigoros gegen die Umwelt­verschmutzung, gegen Boden­zerstörung und andere bedrohliche Entwicklungen vorzugehen. Doch denken die Politiker in Legislaturperioden und verstehen unter »Sachzwängen« vor allem das tunliche Unterlassen alles dessen, was Wählerstimmen kosten kann.

Auch könnte der gegenwärtige Lebensstandard und das angeblich unerläßliche Wirtschafts­wachstum in den Industrienationen kaum aufrecht erhalten werden, wenn die derzeitige umweltbelastende Praxis zu produzieren, zu konsumieren und zu entsorgen auch nur beschnitten würde.

Deshalb - um ein einziges Beispiel herauszugreifen - verlangt der Markt nach immer mehr, nach »besseren« und schnelleren Autos, die natürlich auch immer mehr Straßen und Parkplätze beanspruchen. Und damit der Kaufrausch erhalten bleibt, werden in immer kürzeren Abständen neue Modelle mit oft nur geringfügigen Abwandlungen der vorhergehenden produziert. Zugleich sorgt die Werbung dafür, daß der potentielle Kunde, kaum daß er einen neuen Wagen erstanden hat, schon wieder glauben muß, er besitze eigentlich einen schon veralteten und brauche einen neuen. 

Geködert von der Überlegung, mit möglichst geringem finanziellen Aufwand stets das neueste Modell sein eigen zu nennen, folgt er der Verlockung und vergrößert damit das Chaos auf unseren Straßen. Dabei produziert die Autoindustrie seit etwa Mitte der achtziger Jahre speziell auf jugendliche Käufer gemünzte preiswerte kleine Kraftwagen mit Höchst­geschwindig­keiten über 200 Stundenkilometern, die selbst auf den Autobahnen nicht auszufahren sind, viele Unerfahrene aber zu halsbrecherischem Imponiergehabe verleiten. 

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Statistischen Angaben zufolge betrug die Zahl der Kraftfahrzeuge gegen Ende der achtziger Jahre allein in der Bundesrepublik rund 30 Millionen, es entfiel also etwa ein Fahrzeug auf jeden zweiten Bundesbürger. Diese Autos bewegten sich auf einem Straßennetz, das mit fast 500.000 Kilometern die Länge des zwölffachen Erdumfangs hatte, aber noch immer nicht ausreicht, um einen halbwegs reibungslosen Verkehr zu ermöglichen. Weltweit gibt es derzeit rund 400 Millionen Kraftfahrzeuge, die mitverantwortlich sind für lokale Luftverschmutzungsprobleme, für den Treibhauseffekt und die Landschaftszerstörung. Unbeeindruckt davon sollen jedoch im Jahre 2010 bereits 700 Millionen Autos die Erdatmosphäre verpesten.

Da ein Ende dieser jeder Vernunft hohnsprechenden Entwicklung den Massenverlust von Arbeitsplätzen, wirtschaftliche Rezession und politisch kaum beherrschbare Turbulenzen nach sich zöge, wird die Massenmotorisierung und der zwangsläufige Bau immer neuer Straßen und Parkmöglichkeiten weitergehen. In der Bundesrepublik konnte man sich bis ins Jahr 1990 nicht einmal zu einem Tempolimit auf den Autobahnen entschließen.

Ein Kommentar zu alledem erübrigte sich, wäre nicht die Geisteshaltung, die da zugrunde liegt, so bezeichnend für jenen uns Menschen so eigentümlichen Drang nach »immer mehr« und »immer weiter«, nach ungeduldigem Verändern selbst des Bewährten in Richtung auf eine immer potentere und damit oft gefährlicher werdende Apparatewelt. Auch die Entwicklung von der Dampfmaschine zum Atomkraftwerk zeigt diese Ambivalenz.

 

Zu Punkt drei unserer »Bösen Sieben« brauchen wir wenig zu sagen. Die Gegensätze zwischen den reichen und armen Nationen, verschärft durch Rassen­diskriminierungen in manchen Ländern, wachsen sich zusehends zu einem Spannungspotential aus, das immer dramatischere Züge annimmt und angesichts der vorhandenen Waffenarsenale Schlimmes befürchten läßt. Massendemonstrationen und Pogrome sind an der Tagesordnung. Kurzschluß­handlungen, die einen atomaren Holocaust auslösen können, geraten um so mehr in den Bereich des Möglichen, als auch kleinere Länder mittlerweile über die Atombombe verfügen.

Mit der wachsenden Erdbevölkerung nimmt aber auch die Verstädterung zu und mit ihr das Elend der Armen in den Slums. Wer diese Viertel, etwa in Brasilien, Mexiko oder Indien nicht gesehen hat, wird sich kaum ein Bild von dem menschenunwürdigen Leben der Bewohner dort machen können und auch kaum begreifen, welche Zeitzünder hier glimmen. Dabei ist angesichts der Verschuldung vieler dieser Länder kaum ein Wandel zu erhoffen — die Entwicklung treibt weiter mit beklemmendem Tempo einem Kollaps zu.

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Ein vierter Trend betrifft die Gesundheit der Weltbevölkerung, um deren Erhalt sich die Medizin bemüht, leider aber auch eine oft zweischneidige Rolle spielt. Nicht nur die Bevölkerungsexplosion geht zu einem Teil auf ihr Konto, indem sie die Menschen älter werden und länger leben läßt und die Säuglings­sterblichkeit drastisch reduziert hat. Mit dem Einsatz von Antibiotika, Impfseren und anderen hochwirksamen Arzneien hilft sie ungewollt auch mit, angeborene Immunschwächen zu verbreiten.

Bevor dies erklärt wird, sei jedoch ausdrücklich betont, daß diese »Nebenwirkung« nicht als Vorwurf gewertet werden kann, denn die ärztliche Kunst leistet unbestritten auch einen humanitären Dienst am Kranken. Nur sollte man darüber nicht die langfristigen Folgen mancher ihrer Praktiken verdrängen. 

Ein Beispiel:

Während vor zwei Jahrhunderten noch ein beträchtlicher Prozentsatz der Kinder mit erblich schwachen Immunsystemen früh an Infektionskrankheiten starb, überleben viele immunschwache Kinder heute dank der medizinischen Hilfen die Kinderkrankheiten und kommen ins fortpflanzungsfähige Alter, so daß sie ihre erbliche Immunschwäche weiter vererben können. Während also früher noch eine scharfe natürliche Auslese in Richtung auf starke Immunsysteme stattfand, ist diese Auslese heute nahezu aufgehoben. 

Der Trend zu ererbten Immunschwächen muß also im selben Maße zunehmen, wie die Medizin Mittel und Wege findet, früher einmal zum Tode führende Erbkrankheiten so zu behandeln, daß sie keine Lebensbedrohung für die Betroffenen mehr darstellen. Dieses Dilemma wäre erst zu überwinden, wenn eine heute noch kaum vorstellbare »genchirurgische« Behandlung von Erbkrankheiten im großen Maßstab möglich und das Übel damit an der Wurzel zu packen wäre.

Eine bis dahin noch fortdauernde Lähmung der Abwehrsysteme gegen Krankheitserreger, um bei der Immunschwäche zu bleiben, bedeutet zugleich aber Vitalitätsverlust, der auf längere Sicht nicht ohne Folgen für den allgemeinen Gesundheitszustand (und Krankenstand) bleiben kann.

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Der amerikanische Genetiker und Nobelpreisträger Herman Joseph Muller hat dies schon vor vielen Jahren erkannt und prophezeit, daß der Erbverfall die Zahl der Kranken eines Tages derart ansteigen lassen werde, daß die Bevölkerung ihre Freizeit dann nur noch damit verbringen würde, ihre Leiden zu pflegen und so viel wie möglich arbeiten müßte, um die Mittel zur Behandlung dieser Leiden zu erwerben.

 wikipedia  Hermann_Joseph_Muller (1890-1967)

Mit allem Vorbehalt sei in diesem Zusammenhang auch einmal erwogen, ob nicht die von Viren bewirkte, also erworbene Immunschwäche mit tödlichem Verlauf (AIDS), die uns derzeit so zu schaffen macht, ein erstes Zeichen für einen ernstzunehmenden »Schwächeanfall« unserer Spezies darstellt, der womöglich auf den nachlassenden Selektionsdruck in Richtung auf starke Immunsysteme zurückgeht. Denn weshalb sind die doch schon lange existierenden Viren erst in letzter Zeit derart »erfolgreich«?

 

Fünftens muß die Zweischneidigkeit der Entwicklungshilfe genannt werden, soweit sie in Versorgungsleistungen für übervölkerte Hungergebiete besteht, ohne daß dort zugleich massive Anstrengungen zur Geburtenkontrolle unternommen werden. Nach menschlicher Moralauffassung ist Entwicklungshilfe ein Gebot der Humanität und insofern unverzichtbar. Sie bedeutet aber auch, daß in den betroffenen Gebieten, die aufgrund ihrer natürlichen Beschaffenheit oder als Folge des Raubbaus an der Natur nur sehr viel weniger Menschen ernähren könnten, die Bevölkerung weiter zunimmt und das Elend sich damit vergrößert. Zumal dann, wenn auch die Hilfen zur Selbsthilfe bei der landwirtschaftlichen Erschließung — soweit diese noch möglich ist — versagen, werden die Helfenden bald materiell überfordert sein und ein Massensterben wird unvermeidlich. Dieses Beispiel zeigt, daß ein ursprünglich humanes Handeln, bedenkt man seine langfristigen Folgen, sich als zutiefst inhumanes Verhalten erweisen kann.

Leichtes Spiel bekommen in solchen Fällen dann nicht zuletzt die gegen Pestizide resistent gewordenen Krankheitsüberträger wie die Malariamücke oder die Tsetsefliege, und ebenso leichte Beute finden die Krankheitserreger selbst. Wen von uns hätten nicht schon die Bilder von fliegenübersäten Gesichtern der Hungernden und Kranken in den Elendsgebieten erschüttert. 

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Sechstens müssen aus der Urzeit der Menschwerdung überkommene Eigenschaften des menschlichen Gehirns für ein bevorstehendes Scheitern unserer Spezies verantwortlich gemacht werden. Daß der noch affenähnliche Vormensch sich zum Urmenschen und schließlich zum Homosapiens entwickelt hat, das verdankte er im wesentlichen drei stammesgeschichtlichen Errungenschaften. Es war der aufrechte Gang, der den späteren Werkzeuggebrauch mit Hilfe der freigewordenen Arme und Hände ermöglichte. Es war die Sprache, die enorme Kommunikationsmöglichkeiten eröffnete und mit der Tradition eine Art sekundärer Vererbung schuf, und es war schließlich das arbeitsteilige Leben in zunächst kleinen sozialen Gruppen, aus denen später die Völker mit eigenständiger Sprache und Kultur entstanden sind.

Alle drei Erwerbungen gingen Hand in Hand mit der Entwicklung des Großhirns als Sitz der höheren geistigen Funktionen. Dank dieses »Organs zum Problem­lösen« machte der Urmensch bald nützliche Erfahrungen mit Wind und Wetter, er optimierte seine täglichen Verrichtungen als Sammler und Jäger und lernte, die Umwelt für seine Zwecke immer besser zu nutzen. Im Gegensatz zu den Tieren sah er sich mehr und mehr dazu befähigt, die Folgen seines Tuns im voraus zu bedenken und sich zweckmäßig zu verhalten. Allmählich wurde ihm bewußt, daß sein Leben begrenzt war und ihm die Gemeinschaft seiner Horde mehr Schutz vor Gefahren bot als Einzelgängerei.

Alles das ermöglichte ihm das Großhirn, das ihn später auf die Stufe des Homo sapiens erhob. Anzunehmen ist, daß damals auch schon jene Verpaarung von Gefühlen mit bestimmten Tätigkeiten entstand, wie sie die Natur für Instinkthandlungen wie beispielsweise den Orgasmus als Lustprämie für zweckmäßiges Fortpflanzungs­verhalten etabliert hat. Solche Verpaarungen traten nun in subtileren Bereichen auf. So dürften Lustgefühle oder solche der Genugtuung den Urmenschen erfüllt haben, wenn es ihm gelang, etwa einer Gefahr zu entgehen, ein bedrohliches Feuer zu löschen, ein besonders nützliches Werkzeug oder Jagdgerät herzustellen oder einen Partner für sich zu gewinnen. Noch immer beflügelt ja auch uns Heutige so etwas wie Befriedigung oder Euphorie bei vergleichbaren Anlässen.

Nimmt man nun wie für alle Organe auch für das Großhirn an, daß es sich — wie die Flossen beim Fisch für das Leben im Wasser — in langen Zeiträumen durch Mutation und Auslese als Antwort auf die Herausforderungen der damaligen Umwelt entwickelt hat, so ergeben sich interessante Folgerungen.

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Zu jener Zeit vor Millionen Jahren waren die Lebensverhältnisse und die Umwelt noch gänzlich anders als heute. Was damals Selektionsvorteile brachte, das diktierten völlig andere Bedingungen. Gefragt waren weder schonender Umgang mit der Natur noch friedliches Verhalten großer politischer Lager in der Welt, noch Geburtenkontrolle (im Gegenteil!), noch das Abstandnehmen von Waffen, die der damaligen Bevölkerung mit einem Schlage den Garaus hätten machen können.

Was zählte, war die Kunst zu überleben und immer neue Praktiken und Tricks dafür zu ersinnen. Es ging um das Problemlösen in elementaren Lebens­situationen: geschicktes Vorgehen bei der Jagd, Verteidigung der Horde gegen Gefahren (was sicher nicht ohne den Aggressionstrieb möglich war), gegenseitige Hilfe bei Verwundungen, rechtzeitiges Erkennen von nahenden Unwettern oder Brandgeruch, geschicktes Hantieren bei der Geräteherstellung und dergleichen »Elementares« mehr.

Geht man davon aus — und Schädelmessungen weisen darauf hin —, daß die Entwicklung des Großhirns um die Zeit des Neandertalers vor ungefähr 100.000 Jahren abgeschlossen war und es sich seither nicht entscheidend weiterentwickelt hat, so ergibt sich ein weiterer interessanter Sachverhalt: Wir Menschen heute kommen noch immer mit den Problemlöse-Organen aus der Frühzeit des Menschengeschlechts zur Welt, also mit Gehirnen, die für die damaligen Herausforderungen des Lebens entstanden waren, nicht aber für die Bewältigung der komplizierten Aufgaben unserer Gegenwart.

Wir versuchen zwar, unsere Schwierigkeiten zu meistern, doch tun wir dies mit den noch immer durchbrechenden Antrieben, die uns vor Millionen Jahren zugewachsen und damals auch zweckmäßig gewesen sind. Das Erbe dieser uns beherrschenden Antriebe lastet noch immer auf uns. Das »Untertanmachen der Natur«, das längst in deren Zerstörung ausgeartet ist, stellt einen Paradefall für dieses Verhaftetsein dar.

Dank dem für den frühen Menschen äußerst nützlichen Bedürfnis, Zusammenhänge zu verstehen, haben wir wißbegierig die Naturgesetze durchschaut und sie uns nutzbar gemacht. Die über Jahrmillionen praktizierte Herstellung primitiver Steinwerkzeuge mag den Antrieb für das später so rastlose Tüfteln und Erfinden immer neuer technischer Hilfen zum Erkenntnisgewinn, für Produktionsprozesse, zur Energieerzeugung und zur Fortbewegung geliefert haben. 

All das hat uns ein immer bequemeres Leben beschert, aber auch immer bedrohlichere Situationen heraufbeschworen. Stellvertretend für so manche von ihnen seien hier wieder nur die Aufheizung der Atmosphäre und unser Umgang mit der Atomenergie als gefährlichster Kraftquelle, die der Mensch je entdeckte, genannt.

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In Ost und West lagern heute nicht nur Atombomben zur mehrfachen Vernichtung der Menschheit, es sind auch Atomkraftwerke entstanden, deren Risiken ein großer Teil der Weltbevölkerung überhaupt noch nicht begreift oder verdrängt. Weder kann die völlig gefahrlose Endlagerung der radioaktiven Abfälle aus diesen Anlagen gewährleistet werden, noch können diese Werke jemals völlig unfallsicher sein. Dies schon deshalb nicht, weil zu keiner Zeit menschliche Unzulänglichkeit und menschliches Versagen der für den Betrieb Verantwortlichen ausgeschlossen werden kann.

Die Störfälle von Harrisburg (USA) und Windscale (England), um nur die größeren zu nennen, und die Katastrophe von Tschernobyl (UdSSR) sind bedrückende Menetekel dafür, daß hier ein praktisch nicht beherrschbares Risiko für die Menschheit lauert. Würde es zu einem großen Unfall in einem dicht besiedelten Gebiet kommen, so könnten viele Millionen unserer Spezies dahingerafft oder zu elendem Siechtum verurteilt werden. Von einem Atomkrieg ganz zu schweigen!

Um eine Vorstellung auch von den materiellen Risiken der Atomenergienutzung zu geben, sei hier einmal auf die Folgen der Reaktor­katastrophe von Tschernobyl vom Frühjahr 1986 verwiesen. Wie aus der Zeitschrift <Atomwirtschaft> Nr. 3/88 zu entnehmen ist, belaufen sich die Kosten des Desasters auf insgesamt etwa acht Milliarden Rubel, das sind etwa 22 Milliarden DM. Davon entfielen nach Angaben des Politbüros der kommunistischen Partei je vier Milliarden Rubel auf die Beseitigung der Katastrophenfolgen und die indirekten Kosten durch den Produktionsausfall in den verseuchten Gebieten. Für 135.000 Bewohner der evakuierten 30-Kilometer-Unfallzone mußten 21.000 Häuser und 15.000 Appartements neu gebaut werden. 900 Millionen Rubel habe die Bevölkerung als Ersatz für verlorenes Eigentum erhalten. Tschernobyl und das Land im weiten Umkreis sind auf unabsehbare Zeit nicht mehr zu besiedeln. 

Es ist sicher notwendig, diese Fakten einmal festzuhalten, um das Ausmaß der Bedrohung zu ermessen, die von Atomkraftwerken und verwandten Betrieben heute in aller Welt ausgeht und das Feuer zu begreifen, mit dem wir da spielen. 

Dabei ist es eine Illusion zu glauben, daß selbst die heftigsten Proteste aus der Bevölkerung die jeweils Befugten davon abbringen würden, die Atomkraft weiter zu nutzen, nachdem sie nun einmal verfügbar ist. 

Dies würde auch aller Erfahrung im Umgang mit den Erfindungen des Menschen widersprechen, und daran werden auch künftige Unfälle nichts ändern, es sei denn, ein Supergau löschte einen Teil der Menschheit aus. Dann wäre vielleicht für eine gewisse Zeit mit Mäßigung zu rechnen, mit einer endgültigen Absage an die Atomkraft jedoch nicht.

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Wir kommen damit zu einem siebenten und letzten Punkt, nämlich dem Überfordertsein des menschlichen Großhirns von den Aufgaben, die ihm in rasch wachsender Menge und zunehmender Kompliziertheit in der »Welt von heute« zuwachsen.

Es sei wiederholt: 

Vor Millionen Jahren, als das Großhirn sich zu entwickeln begann, da geschah dies in Anpassung und als Reaktion auf Umwelt- und soziale Verhältnisse einer Zeit, die gänzlich anders war als unsere heutige. So bestand damals kein Bedürfnis, sich mit so vielschichtigen Problemen beschäftigen zu müssen wie etwa den Zusammenhängen zwischen Bevölkerungszahl und Lebensstandard, Industrialisierung und Umweltschutz, Verstädterung und Kriminalität, Rationalisierung und Arbeitslosigkeit oder sozialem Elend und Drogensucht. Alle diese Probleme gab es so wenig wie (sehr wahrscheinlich) psychische Krankheiten, wie die Folgen der »Einsamkeit in der Masse« oder die radioaktive Verseuchung.

Das Leben erforderte weder Gruppentherapie noch psychiatrische Krankenhäuser, weder Kenntnisse im Computergebrauch noch eine Straßen­verkehrs­ordnung oder Strafgesetze für Wirtschaftsvergehen. Statt dessen waren Körperkraft und Jagdgeschick gefragt. Die Schwierigkeiten waren elementar, die Zusammenhänge einfach. Man machte Beute oder nicht, man fand eine schutzbietende Höhle oder nicht, man verletzte sich bei Jagdzügen und überstand die Verwundungen oder starb. Man zeugte Nachkommen und die Frauen überlebten die Geburt oder nicht. Man stritt sich um die Beute, um Weiber und Waffen, wahrscheinlich gab es auch verfeindete Horden, die sich die besten Wohnhöhlen streitig machten. Es gab Angst vor Steppenbränden und Gewitter, vor Sturm und Hagelschlag, man freute sich über das Neugeborene und über sein Jagdglück.  

Die durchschnittliche Lebenserwartung war gering, sie betrug vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre. 

Und das blieb über viele Jahrhunderttausende so.
Erst sehr viel später komplizierte sich das Leben. 

Seßhaft geworden, begann der Mensch, allmählich über seine naturgegebenen Möglichkeiten hinaus­zuwachsen. Der Hebel vervielfachte seine Körperkraft, das Rad ließ ihn Lasten leichter und weiter transportieren, Land- und Wasserfahrzeuge entstanden, Pfeil und Bogen erleichterten die Jagd. Man fing an, feste Bauwerke zu errichten, schließlich kamen Schießpulver, Elektrizität, Dampfkraft und Benzinmotor, Fernrohre und Mikroskope, und endlich hielten Elektronik, Chemie, Atomtechnik und Weltraumfahrt Einzug in sein Leben.

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Und all das trug dazu bei, daß der Homosapiens sich dem brutalen, aber biologisch sinnvollen Auslesegesetz in der Natur mehr und mehr entzog und daß er die Natur immer überlegener zu beherrschen verstand.

Seit gut einem Jahrhundert beschleunigt sich diese Entwicklung in einem atemberaubenden Tempo. Aus der Zeit der Kerzenbeleuchtung und der Pferdefuhr­werke sind wir förmlich hineingeschleudert worden in eine Gegenwart mit Fernsehen, Überschallflug, Raketen und Gentechnik, mit Organ­verpflanzungen und einer Bevölkerung, die jedes Jahr um über 90 Millionen wächst. Und nach wie vor ist das erstaunlich flexible und anpassungsfähige Gehirn dabei, neue technische und kulturelle Höchstleistungen zu vollbringen — man denke nur an die stürmisch sich entwickelnde Computertechnik mit Hilfe von Mikrochips. Seine Potenz für Erfindungen und Entdeckungen ist seit der Zeit von Schleuder und Faustkeil ungebrochen, und zunehmend benutzen wir nun auch technische Hilfen, um theoretische Aufgaben zu lösen, bei deren Bewältigung sich das Geistesorgan schwer tut.

Trotzdem stößt das Großhirn, dieses »Wunder der Evolution«, zunehmend an seine Grenzen.

Was ihm fehlt, ist beispielsweise die Fähigkeit, sich von seinem Urzeitdrang zum Tüfteln, nach Erkenntnis, nach fortgesetztem Verändern auch des bereits Bewährten, nach dem Vermehren materieller Güter gegebenenfalls zu lösen, wo es die Umstände erfordern. Dagegen ist dem Menschen vieles recht, was diesen Drang befriedigt. Dafür nimmt er Feindschaften in Kauf und führt Kriege.

Vor allem gelingt es ihm nicht mehr, die immer komplizierter werdenden Verhältnisse auf der übervölkerten Erde noch kontinuierlich zu durchschauen, im Griff zu behalten und die ungezählten ineinander, gegeneinander und voneinander wirkenden Kräfte in ein gefahrlos sich entfaltendes Gefüge zu bringen, sie also sinnvoll zu lenken. 

Das ungeheuer verwickelte Wirkungsgefüge des menschlichen Lebens in einer einst vorgegebenen, heute massiv veränderten und teilweise zerstörten Natur und in überregionalen gesellschaftlichen Strukturen ist ein Novum für dieses Organ, für das es nicht geschaffen ist, und auch die besten Computer zur Systemanalyse können ihm da nur insoweit helfen, wie sie von ihm selber programmiert worden sind — Wunder vollbringen können sie nicht.

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Deshalb können schon heute relativ geringfügige Anlässe einen alles vernichtenden Atom- oder Giftgas-Krieg auslösen und hat sich ein riesiges Vernichtungs­potential an Atomwaffen angesammelt. Darum auch lassen sich Wirtschaftskrisen offenbar weder vermeiden noch lokal begrenzen, und aus diesem Grund fällt es so schwer, Arbeitslosigkeit und soziales Elend zu verhindern. Es ist noch immer nicht möglich, sich in den Krisengebieten politisch zu einigen und — beispielsweise — die Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten in den Entwicklungsländern erfolgreich zu organisieren.

Allzu viele variable Faktoren, ähnlich wie bei einer langfristigen Wettervorhersage, wären für wirklich »weise« Entscheidungen einzukalkulieren und durch­zusetzen. Mit anderen Worten: Wir sehen uns mittlerweile in einer Situation, in der zukunftsbezogene Aktivitäten immer häufiger fehlgehen, weil deren Sekundär-, Tertiär- und Quartärfolgen nicht abgeschätzt werden und zumeist auch gar nicht bedacht werden können. 

Das Problemlösevermögen unseres Großhirns sei nicht unterschätzt, doch wird es von seinen selbstgeschaffenen Verhältnissen auf der Erde zunehmend überfordert wie ein untauglicher Computer von einer schwierigen Systemanalyse.

 

Daß dies keine bloßen Behauptungen sind, ergab vor einigen Jahren ein Versuch an der Bamberger Universität, den der dortige Psychologe Dietrich Dörner mit seinen Studenten durchführte. Er benutzte einen speziell programmierten Rechner, mit dem er verschiedene Einflußgrößen auf das Leben und Ergehen einer kleinen Stadt simulieren konnte. Indem man sie veränderte, konnte man zum Gedeihen oder zum Niedergang der Gemeinde beitragen. Die Versuchsteilnehmer sollten dies tun, sie konnten das Wirkungsgefüge der Kleinstadt praktisch nach ihrem Gutdünken manipulieren.

Die Ausgangslage war so gewählt, daß es der Gemeinde schlecht ging. Es gab Schulden, die Wirtschaft lag darnieder, die Bewohner waren unzufrieden. Der jeweilige Prüfling sollte daher als fiktiver Bürgermeister sanierende Maßnahmen ergreifen. Er konnte etwa die Steuern neu festsetzen, den Wohnungs- oder Straßenbau fördern oder bremsen, die Löhne anheben, Kredite aufnehmen, Fremdenverkehrswerbung betreiben und dergleichen mehr.

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Dörner erläuterte: »Die Versuchspersonen müssen mit einem sehr komplexen, also merkmals- und beziehungsreichen System umgehen, welches sich aufgrund eigener Gesetzmäßigkeiten fortentwickelt, <dynamisch> ist. Dieses System ist ihnen teilweise unbekannt und nicht bezüglich aller Merkmale durchsichtig.«

Der Versuch verlief wie erwartet, denn fast alle eingesetzten »Bürgermeister« versagten. Dörner kommentierte: »Sie sehen nur den Haupteffekt. Dies hat zur Folge, daß die Maßnahmen zwar das eine Übel beseitigen, dafür aber zwei neue schaffen.« Bestimmte Fehlleistungen waren fast allen Versuchs­teilnehmern unterlaufen. Dazu gehörte vor allem »lineares« Denken in Ursache-Wirkungsketten, statt in Wirkungsnetzen. Die fiktiven Stadtoberhäupter berücksichtigten fast alle nicht, daß ihre Maßnahmen nicht nur die gewünschten, sondern auch Fern- und Nebenwirkungen hatten, die keineswegs erstrebenswert waren.

Nun kann man natürlich fragen, ob ein solcher Versuch repräsentativ genug ist, um ihn auf die Entscheidungsträger im Weltgeschehen und die Situation der Menschheit auf der Erde zu übertragen. Denn es gibt immerhin Kleinstädte genug, die dank geschickt agierender Bürgermeister und Gemeinderäte blühen und gedeihen.

Man darf aber nicht vergessen, daß erstens die weltweiten und landesinternen Probleme auf der Erde wesentlich komplizierter sind als die in einer Kleinstadt, und vor allem, daß an ihrer Lösung sich ungezählte ideologisch festgelegte Machthaber mit unterschiedlichen Vorstellungen von der Richtigkeit ihres Rezeptes, unterschiedlicher Weit- und Einsicht und auch individuellen Machtansprüchen beteiligen.

Was aus alledem folgt, ist eine einfache Erkenntnis:

Wir Menschen haben uns in Abhängigkeit von einem aus der Urzeit unseres Geschlechts überkommenen Organ und unter Anführung der Industrie­nationen in eine Lage hineinmanövriert, in der ein Überleben — auf lange Sicht — nicht einmal mehr durch einen tief­greifenden Wandel unseres Wesens — hin zu anspruchs­loseren, weniger vermehrungsfreudigen und extrem umweltbewußten Erdenbürgern — vorstellbar wäre. 

Selbst wenn ein solcher Wandel möglich sein sollte, so würde dies den Automatismus — den <Countdown> — kaum noch aufhalten, der die Endphase der Menschen­existenz auf der Erde bereits überschattet. 

Zu viele gravierende Prozesse sind nicht mehr zu stoppen — so die Vermehrungsrate (ungezählte Mädchen in den Entwicklungsländern stehen gerade jetzt vor dem fortpflanzungs­fähigen Alter), der Erbverfall (humanerweise darf die Medizin nicht müde werden, auch den Erbkranken zu helfen), der Raubbau an Rohstoffen oder die Umweltbelastung, deren Stopp ganze Industrien lahmlegen und wirtschaft­liche Katastrophen heraufbeschwören würde —, die keine Regierung verantworten, geschweige denn überstehen könnte.

Wann und wie das Ende kommt und die Stunde der Insekten schlägt, darüber läßt sich nur spekulieren. Das letzte Wort wird da die Natur haben. Daß es in einer stammesgeschichtlich ganz kurzen Zeit soweit ist, liegt auf der Hand. 

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Ende 

 

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Theo Löbsack 1989 Das unheimliche Heer