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Der Mitmensch als »Sache«

 

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Wem wäre es nicht schon aufgefallen, wie sich Menschen in der Masse verhalten, wie unter Pferchungsbedingungen das Gefühl für den Mitmenschen leidet, ja verloren geht? Aber wem würde es einfallen, auch hier ein Wildheitsrelikt zu vermuten?

Worüber wir sprechen wollen, ist die Neigung, fremden Menschen erst einmal mit einer gewissen Distanz zu begegnen, auch über das zunächst vorhandene Mißtrauen gegenüber dem Unbekannten, schließlich die »Verdinglichung« des Individuums in Situationen drangvoller Enge. All dies sind Phänomene, die zugleich gepaart sind mit dem Bedürfnis nach Geborgenheit.

Zunächst jedoch einige Vorbemerkungen.

Wir heutigen Menschen leben ja eigentlich ganz untypisch für unsere Art. Die längste Zeit unserer Existenz auf der Erde haben wir als Jäger und Sammler in kleinen Horden oder Sippenverbänden zugebracht. Setzt man das Alter des Menschengeschlechts mit rund drei Millionen Jahren an und geht davon aus, daß wir erst vor 10.000 bis 15.000 Jahren seßhaft geworden und vom Wildbeuter- und Sammlerdasein zur produz­ier­enden Lebensweise übergegangen sind, so kann man einen interessanten Vergleich anstellen.

Nehmen wir an, besagte drei Millionen Jahre wären auf eine Stunde geschrumpft und der Minutenzeiger begänne zu laufen, als der Urmensch von den Bäumen stieg und die Steppe zu bevölkern begann, dann ist dieser Aufrechtgeher weit mehr als 59 Minuten seines Daseins als Jäger und Sammler tätig gewesen. Seit wenigen Sekunden erst ist er seßhaft, und nicht einmal seit einer Zehntelsekunde vermehrt er sich mit jener rasenden Geschwindigkeit, die uns heute zum Alp­traum geworden ist. Seit weniger als einer Zehntelsekunde bedient er sich der bedrohlichsten Techniken und zerstört in selbstmörderischer Kurzsichtigkeit seine Umwelt. Das sind die zeitlichen Dimen­sionen, mit denen wir es zu tun haben.

Gemessen an heutigen Maßstäben war das altsteinzeitliche Leben hart, die Lebens­erwartung dürfte kaum mehr als 25 Jahre betragen haben. Es forderte den ganzen Mann, die ganze Frau. Doch die Erde bot noch viel Platz für den Menschen. Die Männer gingen auf die Jagd, die Frauen versorgten die Kinder, sammelten Beeren und Früchte, säuberten die Wohnhöhlen und hüteten das Feuer.

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Man benutzte vergleichsweise primitive Holz-, Geweih- und Steinwerkzeuge und entsprechende Waffen. Der »Kampf ums Dasein« gegen Wind und Wetter, Steppen­brände, Dürre, Über­schwemmungen, Raubtiere und womöglich feindliche Sippschaften, die es auf die Wohnhöhlen abgesehen hatten – dies alles beherrschte den Jahreslauf.

Und diese Lebensweise änderte sich über Jahrmillionen kaum. Erst vor ein paar tausend Jahren wandelte sich das Bild. Heute bevölkern viel zu viele Menschen die Erde, und immer mehr leben innerhalb industrieller Massengesellschaften mit allen ihren Problemen.

Ein Lebewesen aber, das über Jahrmillionen durch Auslese mit Merkmalen für ein Jäger- und Sammlerdasein innerhalb kleiner Verbände »programmiert« ist, kann diese Merkmale nicht innerhalb weniger Jahrhunderte zugunsten von Eigenschaften abschütteln, die einem von Atomtechnik, Medienschwemme und Computern beherrschten Leben inmitten einer demnächst Sechs-Milliarden-Weltbevölkerung gemäßer wären. Dazu arbeitet die Evolution zu langsam. Es finden zwar nichterbliche Anpassungen statt, doch im Innern unseres Wesens ist vieles beim alten.

Wenn dem Menschen damals die Mitglieder seiner Horde vertraut waren, wenn er wußte, welche Aufgaben diesem oder jenem zufielen und wie sie sich in alltäglichen oder gefährlichen Lebenslagen verhielten, so sieht er sich heute vor allem in den rasch wachsenden Großstädten weitgehend Fremden gegenüber. Er kennt sie nicht, er weiß nicht, wo sie herkommen und hingehen und was sie vorhaben. Das alles irritiert ihn zwar nicht sonderlich, doch irgendwie fühlt er sich vereinzelt. Ein Hauch von Unsicherheit rührt ihn an, wie er sich da seinen Weg durch das Menschengewühl sucht. Etwas mehr Distanz wäre ihm lieber, aber die ist ihm versagt. So versucht er, zumindest innere Distanz zu halten.

Das Bild des Menschengewimmels in unseren Fußgängerzonen oder auf Bürger­steigen spiegelt dies anschaulich. Man blickt sich kaum an oder tut dies nur mehr oder weniger unbeteiligt und beiläufig. Man meidet den Kontakt, ja, man bekommt ihn erst gar nicht. Sucht man ihn dennoch durch Ansprechen, so wäre das zumindest ungewöhnlich, außer man fragt nach einer Straße oder dem Bahnhof.

Dieses im Gegensatz zum Leben in kleinen Gruppen ganz und gar artfremde Verhalten im Gedränge belastet unbewußt auch die Psyche. Es kann krank machen und sensible Menschen auf vielerlei Weise abnorm reagieren lassen, zum Beispiel mit der »Sonntagsneurose« oder der »Einsamkeit in der Masse«.

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Hinzu kommt: Die uns überkommene Neigung zu freier individueller Entfaltung wird von den massenweise anwesenden anderen Individuen gebremst und behindert. Die Devise heißt: Die eigene Freiheit und die eigenen Rechte hören da auf, wo die der anderen anfangen. Und diese Rechte der anderen fangen heute schon in der unmittelbaren eigenen Umgebung an. Mit anderen Worten: Die allgegenwärtigen Kreise anderer, die des Nachbarn, Arbeitskollegen oder Fremden, sind nicht zu stören. Die eigenen Kreise, die eigenen Entfaltungs­möglichkeiten grenzen sich mit der wachsenden »Masse Mensch« immer mehr ein.

Wo sich aber individuelle Wünsche und Pläne nicht ungehindert verwirklichen lassen, wo sie oft schon im Ansatz scheitern, da kommt es zu Frustrationen, Unzufriedenheit, schlimmstenfalls zu Neurosen.

Wir nähern uns, ob wir es zugeben wollen oder nicht, einer Art Ameisenstaat, in dem das einzelne Individuum kaum noch etwas bedeutet. Wir sind dabei, zu »verameisen«.

Alles, was uns die Zukunft beschert, wird im Schatten der Springflut mensch­lichen Lebens stehen, deren Zeugen wir heute sind. Die Zahlen, um die es geht, sind sattsam bekannt, aber man kann sie nicht eindringlich genug wiederholen. Nur wenige Jahre noch, und die menschliche Massenvermehrung hat die Sechs-Milliarden-Grenze überschritten. Tag für Tag vermehrt sich die Erdbevölkerung um mehr als 250.000 Menschen (Geburten abzüglich Sterbefälle), das ist die Einwohnerzahl einer Stadt wie Saarbrücken. Wie wäre es, wenn die Fernsehsprecher allabendlich darauf hinwiesen? Etwa so: »Auch heute hat sich die Erdbevölkerung wieder um mehr als 250.000 Köpfe vermehrt. ..«

Ob es gelingen wird, diese Lawine mit humanen Mitteln wie der Empfängnis­verhütung in absehbarer Zeit aufzuhalten, dazu gibt es wenige optimistische und viele pessimistische Stimmen.

Unheimlich bleibt ein Gesichtspunkt, auf den der schottische Psychiater George Carstairs hingewiesen hat. Man sollte, so warnte er, die irrationalen Kräfte nicht unterschätzen, die in einem Menschenkollektiv ausbrechen können, wenn die her­gebrachten Sozialstrukturen bei ungehemmter Massenvermehrung zusammen­brechen.

Das Bevölkerungsproblem wird nach Carstairs viel zu einseitig als Ernährungs­problem verstanden. Viel zu wenig werde auf die drohende Demoralisierung von Menschen hingewiesen, die unter Pferchungsbedingungen leben müßten, und zugleich etwa noch politische Turbulenzen wie in der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS), der ehemaligen Sowjetunion, die Ordnungsgefüge brüchig machen.

In diesen Zusammenhang fällt ein bemerkenswertes Experiment, das der amerikanische Verhaltensforscher John Calhoun vom National Institute of Mental Health in Maryland (USA) mit Mäusen unternommen hat. Calhoun war der Frage nachgegangen, was auf uns zukomme, wenn um das Jahr 2010 bei einer Erdbevölkerungszahl von etwa acht Milliarden ein kritischer Wert erreicht werde, über den hinaus sich die Menschheit nicht mehr so unbekümmert vermehren könne, wie sie es seit den Tagen ihres Seßhaftwerdens getan hat.

In einem Drahtkäfig hatte Calhoun versucht, die apokalyptische Situation zu simulieren. Seine Mäuse lebten mit allem denkbaren Komfort. Für Wasser, Nahrung und Nistgelegenheiten, auch für Kletterpartien war reichlich gesorgt – nur eines fehlte: die Ellenbogenfreiheit. Rund 2600 Tiere waren gezwungen, auf einer Fläche von rund drei mal drei Metern miteinander auszukommen.

Welche Folgen das hatte, wurde sichtbar, als die Mäuse sich selbst überlassen blieben. Zunächst bildete sich eine »Hackordnung«, eine Rangfolge von starken, beherrschenden Tieren bis hinab zu schwächeren und schwächsten. Die kräftigsten Mäuse besetzten sogleich die den Wasser- und Nahrungsbehältern nächstgelegenen Nistplätze. Weniger starke gaben sich mit ungünstigeren Nestern zufrieden, den schwächsten blieb nur der offene Käfigraum.

Nach einiger Zeit zeigten alle Mäuse bemerkenswerte Verfallserscheinungen, die Calhoun als »Withdrawal-Syndrom« zusammenfaßte: »Abbau der Persönlichkeit«, könnte man vermenschlichen. Was war typisch dafür? Die rangniederen Tiere reagierten selbst dann kaum noch, wenn sie von anderen gebissen wurden. Die stärksten benahmen sich zwar friedlich und behielten ihr glattes Fell, aber auch sie wirkten bedrückt und lethargisch. Alle tranken, fraßen und schliefen, aber die Männchen kopulierten nicht mehr mit den Weibchen. Sie bauten weder an den Nestern noch kämpften sie, noch stöberten sie nach Mäuseart umher. »Sie haben aufgehört, richtige Mäuse zu sein«, kommentierte Calhoun.

Für alle Tierversuche gilt, daß der Schluß auf den Menschen fragwürdig bleibt. Aber der Hinweis von George Carstairs auf

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den Menschen gibt doch zu denken. Und so mögen denn Calhouns Mäuse doch ein Zeichen setzen: Wenn es nicht gelingen sollte, die menschliche Massenvermehrung rechtzeitig zu stoppen, dann wird die Natur vermutlich nicht zögern, sich des Problems auf ihre Weise anzunehmen.

Vorboten für den Streß, den großes Menschengedränge, ja auch nur die unerwünschte Nähe einzelner mit sich bringt, erleben wir schon heute.

Wenn uns ein Fremder aus weniger als einem halben Meter Entfernung anspricht, weichen wir zurück. Abgesehen von dem bewußt gesuchten Körperkontakt beim Tanzen oder im Umgang mit vertrauten Menschen fühlen wir uns durch allzu große körperliche Nähe eines Fremden unangenehm berührt. Wir lassen uns nicht gern »zu nahe treten«. Das läßt sich sogar zahlenmäßig ausdrücken.

Untersuchungen haben gezeigt, daß der einzuhaltende Mindestabstand von anderen Menschen von Kulturkreis zu Kulturkreis verschieden ist. Die Japaner brauchen etwa 90 Zentimeter, die Südamerikaner weniger, die Europäer mehr.

Das Bedürfnis nach körperlicher Distanz gehört damit ebenso zu den Resten unserer altsteinzeitlichen Erbausstattung wie das nach »Geborgenheit«, nach der »schützenden Höhlenwand« im Rücken.

Wo beide abhanden kommen, passieren gelegentlich merkwürdige Dinge. Die Betroffenen versuchen dann, sich gegen den Entzug dieser Elementar-Ansprüche zu wehren.

Der japanische Soziologe Hidetoshi Kato aus Kyoto hat dazu aufschlußreiche Beobachtungen gemacht. Es habe den Anschein, als würden sich die Menschen in weniger dicht besiedelten Gebieten mehr füreinander interessieren, schreibt er und fährt fort:

»In dicht besiedelten Städten dagegen sind wir an anderen Menschen nicht interessiert und können es auch nicht sein. Da jeder einzelne sich noch nicht einmal den Mindestraum sichern kann, und da Stadtbewohner ständig gegenseitig ihren persönlichen Umraum verletzen, ist das einzig mögliche Ergebnis beim Individuum ein schwerer Streß, wenn er sich für andere Menschen als >Personen< interessiert. Der beste und sogar einzige Ausweg aus der Streßlage ist, eine Person nicht als Person zu betrachten, sondern als >Sache<. Es ist für einen Menschen unerträglich, eine Person lange Zeit hindurch auf eine Entfernung von 30 Zentimetern wahrzunehmen. Das Vorhandensein einer Sache, etwa Gestein, auf dieselbe Entfernung erträgt er dagegen. Sachen sind in Ordnung, aber nicht Menschen. Daher versuchen wir, die Menschen um uns herum zu >verdinglichen<.«

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Kato bezieht sich auf einen Journalisten, der das Verhalten der Fahrgäste in einem überfüllten Pendlerzug beobachtet hat und herausfand, daß sie sich ausnahmslos »privat« beschäftigten:

»Sie lesen ein Taschenbuch, dösen oder starren aus dem Fenster. Wenn ein Passagier nicht nach draußen schauen kann, senkt er die Augen oder ist jedenfalls bemüht, den Blick nicht mit anderen zu kreuzen. Für das Individuum müssen die anderen eben >Sachen< sein. Steinen braucht man kein menschliches Interesse entgegenzubringen. Menschen vom Lande, die in die Großstadt kommen, >berauschen< sich an den Menschen, weil sie psychologische Bindungen zu anderen eingehen. Der Stadtbewohner hat ein großes Geschick, die zahllosen Menschen um sich herum als eine bloße riesige Anhäufung nichtssagender >Sachen< wahrzunehmen, wie auf einem Müllplatz.«

Da dieses Beispiel wie vielleicht manch andere schon am Rande dessen liegen mag, was wir als eine von einst überkommene Verhaltensbereitschaft des Menschen deuten können, müssen wir einmal grundsätzlich fragen, ob es überhaupt zulässig ist, das Verhalten eines Menschen auf seine stammes­geschichtlichen Bezüge hin abzuklopfen.

Einer der Gründe für verbreitete Zweifel daran ist sicher der weithin anzutreffende Glaube, daß alle Menschen »gleich« seien, daß sie als gewissermaßen unbeschriebene Blätter (»Tabula rasa«) geboren würden und ihr Verhalten im Leben allein als Ergebnis von Umwelteinflüssen zu verstehen sei, als Produkt einer »Konditionierung«, wie man auch sagt.

Zu einem guten Teil geht diese Auffassung sicher auf eine allzu vordergründige Auslegung der Tierversuche des russischen Physiologen Ivan Petrowitsch Pawlow zurück, der den »bedingten Reflex« entdeckte: Hunde, die ihr Futter nach einem vorausgehenden Signal erhalten, etwa dem Läuten einer Glocke, reagieren nach einiger Übung bereits auf das Glockenläuten allein mit der Absonderung von Verdauungssäften beziehungsweise Speichel.

Mittlerweile sind viele ähnliche, teils experimentell, teils im täglichen Leben erfahrbare bedingte Reflexe bekannt geworden. So wird die Bluse mancher schon einige Zeit stillender Mutter über den Brustwarzen bereits dann feucht, wenn sie ihren Säugling schreien hört, und sensible, phantasiebegabte Männer können einen Orgasmus bereits beim Anblick pornographischer Darstellungen erleben.

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Pawlows Versuchsergebnisse konnten damals den Eindruck erwecken, als würden Tiere, wenn man sie nur in geeigneter Weise beeinflußt, sich jeweils so verhalten, wie der Versuchsleiter es sie gelehrt hatte oder eben die »Umweltverhältnisse« es programmierten. Den damaligen Machthabern im Kreml kam solche Sicht der Dinge nur allzu gelegen, ermöglichte sie doch jene Doktrin, wonach alle Menschen gleich und durch entsprechende Indoktrination beliebig manipulierbar seien.

Die so geweckten Hoffnungen uferten sogar dahin aus, solche »erworbenen Eigenschaften« könnten erblich sein, und es müßte demnach gelingen, ganze Bevölkerungen für politische Zwecke zu »konditionieren«. Die wenigsten erkannten damals, daß dies im Grunde eine intrigante Verdrehung jenes löblichen Grundsatzes war, wonach alle Menschen die gleichen Chancen zu ihrer Entfaltung bekommen sollten. Nach Jahren erst begriff man, daß sich menschliches wie auch tierisches Verhalten - unbeschadet des erwähnten Grundsatzes - nur im Rahmen der erblich vorgegebenen Möglichkeiten entwickelt und individuell formbar bleibt. EJaß die arteigenen Muster, die im Lauf der Stammesentwicklung entstanden und in den Erbanlagen festgelegt sind, die Grenzen dafür setzen, was ein Lebewesen aus sich machen kann.

Ein dem Pawlowschen ähnliches Experiment führte in den USA John Broadus Watson durch, der Begründer des amerikanischen »Behaviorismus« (von behaviour, Verhalten).

Behaviorismus ist jene Schule, die Verhaltensweisen allein auf erlernte Reaktionen auf Umwelteinflüsse zurückführen will. Watson führte der staunenden Fachwelt dazu sein berühmt gewordenes Kleinkind »Albert« vor. Von dem Jungen war bekannt, daß er regelmäßig beim Geräusch von Schlägen an eine Metallstange erschrak. Als »Albert« die furchterregenden Schläge eine Zeitlang stets hörte, nachdem man ihm verschiedene bepelzte Gegenstände gegeben hatte, reagierte er schon bald allein beim Anblick dieser Gegenstände mit Furcht. Solche Furcht vor Pelzgegenständen, wie etwa Teddybären oder lebenden Pelztieren, so behauptete Watson, könnten beim Menschen jeden Alters durch Konditionierung hervorgerufen werden, wie er es bei »Albert« gezeigt habe.

Daß auch hier allzu vereinfachend vorgegangen und entsprechend argumentiert worden ist, zeigen zwei Probleme, die bei

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Watsons Schlußfolgerungen offenbar zu kurz gekommen sind. Einmal war zu fragen, wie viele Kinder sich vor Tieren aufgrund einer Versuchsanordnung ängstigen, die auch nur annähernd jener gleicht, wie sie bei »Albert« gewählt worden war. Und zweitens, was hat eigentlich die ursprüngliche Angst oder Furcht vor den Schlägen an die Metallstange hervorgerufen?

Namentlich die zweite Frage ist hier bedeutsam, denn sie bezieht sich auf das weite Feld der sogenannten angeborenen Ängste. Wie kommen sie zustande? Einen interessanten Hinweis darauf lieferten gegen Ende der vierziger Jahre Versuche des kanadischen Psychologen Donald Hebb. Er konnte zeigen, daß Schimpansenjunge extreme Furcht beim Anblick von Schlangen, Schimpansen-Totenmasken, von toten Schimpansenföten und anderen Objekten zeigen, obgleich die Tiere diese Dinge vorher nie gesehen hatten. Sie waren also auch nicht vorher zu dem Zweck, Angst zu empfinden, auf sie »konditioniert« worden. Die Angst der Schimpansen als Folge eines Lernprozesses schied also aus.

Hebb machte sich damals viele Gedanken über dieses Phänomen und schrieb eine bemerkenswerte Abhandlung, in der er eine mögliche Erklärung anbot.

Wie wäre es, meinte er, wenn die Angst der jungen Schimpansen das Ergebnis von Erfahrungen mit ganz anderen Objekten ist? Das klang zwar paradox, doch sah Hebb die Sache möglicherweise richtig. Er hatte überlegt, daß die nie gesehenen, angstauslösenden Objekte für die Tiere in keines der in ihrem Gehirn gespeicherten Muster von Dingen paßten, die sie schon kannten, sondern einfach neu waren. Sollten ihre Gehirne vielleicht erblich darauf angelegt sein, fragte er, beim Anblick eines neuen, nicht in ein vorhandenes Schema passenden Objektes grundsätzlich Angst oder zumindest Mißtrauen zu empfinden?

Der niederländische Zoologe Nicolaas Tinbergen brachte zusammen mit Konrad Lorenz noch mehr heraus.

Die beiden nutzten den Duck-Reflex wildlebender Vogelküken, der immer erfolgt, wenn ein Greifvogel wie etwa ein Habicht über das Nest fliegt. Die Küken ducken sich nur dann, wenn sie die gefahrkündende Silhouette des Vogels über sich gewahren. Ließen die Wisssenschaftler im Versuch eine Vogelattrappe mit langem Schwanenhals und kurzem Schwanz über dem Nest erscheinen, so blieb der Duck-Reflex aus.

Die Tatsache, daß es sich bei diesem Versuch um wildlebende Vogelküken handelte, ließ allerdings den Einwand zu, es könn-

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