4. Der Wettlauf mit sich selbst
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Zu Beginn des 1. Kapitels habe ich auseinandergesetzt, daß und warum zur Aufrechterhaltung eines stetigen Zustandes (steady state) in lebendigen Systemen die Funktion von Regelkreisen oder negativen Rückkoppelungen unentbehrlich ist, ferner, daß und warum Kreiswirkungen positiver Rückkoppelung stets die Gefahr des lawinenartigen Anschwellens einer Einzelwirkung heraufbeschwören.
Ein spezieller Fall positiver Rückkoppelung tritt dann ein, wenn Individuen derselben Art miteinander in einen Wettbewerb treten, der durch Selektion einen Einfluß auf ihre Entwicklung ausübt. Im Gegensatz zu der von außer-artlichen Umweltfaktoren verursachten, bewirkt die intra-spezifische Selektion Veränderungen im Erbgut der betreffenden Art, die ihre Überlebensaussichten nicht nur nicht vermehren, sondern ihnen in den meisten Fällen deutlich abträglich sind.
Ein schon von Oskar Heinroth zur Illustration der Folgen intraspezifischer Selektion herangezogenes Beispiel betrifft die Schwungfedern des männlichen Argusfasans, Argusianus argus L.
Sie werden bei der Balz in analoger Weise entfaltet und dem Weibchen zugewandt wie das Rad des Pfaues, das bekanntlich aus den Oberschwanzdecken gebildet ist. Wie beim Pfau sicher nachgewiesen, liegt offenbar auch beim Argus die Wahl des Partners ausschließlich beim Weibchen, und die Fortpflanzungsaussichten des Hahnes stehen in einem ziemlich geraden Verhältnis zu der Stärke des Reizes, den sein Balzorgan auf die Hennen ausübt. Während aber das Rad des Pfaues sich im Fluge zu einem mehr oder weniger stromlinienförmigen Heck zusammenfaltet und kaum hinderlich ist, macht die Verlängerung der Schwungfedern den männlichen Argus nahezu flugunfähig.
Daß er dies nicht völlig geworden ist, liegt sicher an der Selektion, die bodenbewohnende Raubtiere in der Gegenrichtung ausüben und die somit die notwendige regelnde Wirkung übernimmt.
Mein Lehrer Oskar Heinroth pflegte in seiner drastischen Art zu sagen: »Nächst den Schwingen des Argushahnes ist das Arbeitstempo der modernen Menschheit das dümmste Produkt intraspezifischer Selektion.« Diese Aussage war zur Zeit, da sie gemacht wurde, ausgesprochen prophetisch, heute aber ist sie eine krasse Untertreibung, ein klassisches <Understatement>.
Beim Argus, wie bei vielen Tieren mit analogen Bildungen, verhindern Umwelteinflüsse, daß sich die Art durch intraspezifische Selektion in monströse und letzten Endes zur Katastrophe führende Entwicklungswege hineinsteigert. Keine derartigen heilsam regelnden Gewalten sind an der Kulturentwicklung der Menschheit wirksam: Sie hat – zu ihrem Unglück – alle Mächte ihrer außerartlichen Umwelt zu beherrschen gelernt, weiß aber über sich selbst so wenig, daß sie den satanischen Wirkungen der intraspezifischen Selektion hilflos preisgegeben ist.
»Homo homini lupus« – »der Mensch ist für den Menschen das Raubtier« – ist ebenso wie der berühmte Ausspruch Heinroths ein »Understatement«. Der Mensch als einziger die weitere Entwicklung seiner eigenen Art bestimmender Selektionsfaktor wirkt leider keineswegs so harmlos wie ein Raubtier, und sei es das gefährlichste. Der Wettbewerb des Menschen mit dem Menschen wirkt, wie kein biologischer Faktor es vor ihm je getan hat, »der ewig regen, der heilsam schaffenden Gewalt« direkt entgegen und zerstört so ziemlich alle Werte, die sie schuf, mit kalter Teufelsfaust, deren Tun ausschließlich von wertblinden, kommerziellen Erwägungen bestimmt ist.
Was für die Menschheit als Ganzes, ja selbst, was für den Einzelmenschen gut und nützlich ist, wurde unter dem Druck zwischenmenschlichen Wettbewerbs bereits völlig vergessen.
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Als Wert wird von der erdrückenden Mehrzahl der heute lebenden Menschen nur mehr das empfunden, was in der mitleidslosen Konkurrenz erfolgreich und geeignet ist, den Mitmenschen zu überflügeln. Jedes Mittel, das diesem Zwecke dienlich ist, erscheint trügerischerweise als ein Wert in sich. Man kann den vernichtend sich auswirkenden Irrtum des Utilitarismus als die Verwechslung der Mittel mit dem Zweck definieren. Geld ist ursprünglich ein Mittel; die Umgangssprache weiß dies noch, man sagt etwa: »Er hat ja die Mittel.«
Wie viele Menschen aber gibt es heute noch, die einen überhaupt verstehen, wenn man ihnen erklären will, daß Geld an sich keinen Wert darstellt?
Genau dasselbe gilt für die Zeit: »Time is money« besagt für jeden, der das Geld für einen absoluten Wert hält, daß für jede Sekunde ersparter Zeit gleiches gelte. Wenn man ein Flugzeug bauen kann, das den Atlantik in einer etwas kürzeren Zeit überfliegen wird als alle bisherigen, so fragt kein Mensch, um welchen Preis der nun nötigen Verlängerung der Landungsbahn, der vergrößerten Lande- und Abflugsgeschwindigkeit und der damit erhöhten Gefahr, dem größeren Lärm usw. dies erkauft werde.
Der Gewinn von einer halben Stunde ist in den Augen aller ein Wert an sich, den zu erringen kein Opfer zu groß sein kann. Jede Automobilfabrik muß dafür sorgen, daß die neue Type ein wenig schneller ist als die vorhergehende, jede Straße muß verbreitert, jede Kurve ausgebaut werden, vorgeblich um der größeren Sicherheit willen, in Wirklichkeit aber nur, damit man noch ein bißchen schneller – und damit gefährlicher – fahren könne.
Man muß sich fragen, was der heutigen Menschheit größeren Schaden an ihrer Seele zufügt: die verblendende Geldgier oder die zermürbende Hast.
Welches von beiden es auch sei, es liegt im Sinne der Machthabenden aller politischen Richtungen, beides zu fördern und jene Motivationen bis zur Hypertrophie zu steigern, die den Menschen zum Wettbewerb antreiben.
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Meines Wissens liegt noch keine tiefenpsychologische Analyse dieser Motivationen vor, ich halte es aber für sehr wahrscheinlich, daß neben der Gier nach Besitz oder nach höherer Rangordnungs-Stellung, oder nach beidem, auch die Angst eine sehr wesentliche Rolle spielt, Angst im Wettlauf überholt zu werden, Angst vor Verarmung, Angst, falsche Entscheidungen zu treffen und der ganzen aufreibenden Situation nicht oder nicht mehr gewachsen zu sein.
Angst in jeglicher Form ist ganz sicher der wesentlichste Faktor, der die Gesundheit moderner Menschen untergräbt und ihnen arteriellen Hochdruck, genuine Schrumpfniere, frühen Herzinfarkt und ähnliche schöne Dinge zufügt. Der hastende Mensch ist sicher nicht nur von Gier gelockt, die stärksten Lockungen würden ihn nicht zu so energischer Selbstbeschädigung veranlassen können, er ist getrieben, und was ihn treibt, kann nur Angst sein.
Ängstliche Hast und hastende Angst tragen dazu bei, den Menschen seiner wesentlichsten Eigenschaften zu berauben.
Eine von ihnen ist die Reflexion. Wie ich in meiner Arbeit <Innate Bases of Learning> auseinandergesetzt habe, hat es sehr wahrscheinlich bei dem rätselhaften Vorgang der Menschwerdung eine ausschlaggebende Rolle gespielt, daß ein seine Umwelt neugierig explorierendes Wesen eines Tages sich selbst in das Blickfeld seines Forschens bekam. Diese Entdeckung des eigenen Selbst braucht noch durchaus nicht mit jenem Erstaunen über das bisher Selbstverständliche einhergegangen zu sein, das der Geburtsakt der Philosophie ist.
Schon die Tatsache, daß etwa die tastende und greifende Hand neben den betasteten und ergriffenen Dingen der Außenwelt als ein Ding der Außenwelt gesehen und verstanden wurde, muß eine neue Verbindung geknüpft haben, deren Auswirkungen epochemachend wurden.
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Ein Wesen, das um die Existenz seines eigenen Selbst noch nicht weiß, kann unmöglich begriffliches Denken, Wortsprache, Gewissen und verantwortliche Moral entwickeln. Ein Wesen, das aufhört zu reflektieren, ist in Gefahr, all diese spezifisch menschlichen Eigenschaften und Leistungen zu verlieren.
Eine der bösesten Auswirkungen der Hast oder vielleicht unmittelbar der Hast erzeugenden Angst ist die offenkundige Unfähigkeit moderner Menschen, auch nur kurze Zeit mit sich selbst allein zu sein. Sie vermeiden jede Möglichkeit der Selbstbesinnung und Einkehr mit einer ängstlichen Beflissenheit, als fürchteten sie, daß die Reflexion ihnen ein geradezu gräßliches Selbstbildnis entgegenhalten könnte, ähnlich dem, das Oscar Wilde in seinem klassischen Schauer-Roman <The Picture of Dorian Gray> beschreibt.
Für die um sich greifende Sucht nach Lärm, die bei der sonstigen Neurasthenie moderner Menschen geradezu paradox ist, gibt es keine andere Erklärung als die, daß irgend etwas übertäubt werden muß.
Auf einem Waldspaziergang hörten einst meine Frau und ich unerwartet das rasch sich nähernde Geplärre eines Kofferradios, das ein etwa 16jähriger einsamer Radfahrer auf dem Gepäckträger mit sich führte. Meine Frau bemerkte: »Der hat Angst, er könnte die Vögel singen hören!«
Ich glaube, er hatte nur Angst, einen Augenblick in Gefahr zu kommen, sich selbst zu begegnen. Weshalb ziehen wohl sonst durchaus intellektuell anspruchsvolle Menschen die geradezu hirnerweichten Werbesendungen des Fernsehens der eigenen Gesellschaft vor? Ganz sicher nur deshalb, weil es ihnen hilft, Reflexion zu verdrängen.
Die Menschen leiden also unter den nervlichen und seelischen Beanspruchungen, die der Wettlauf mit ihresgleichen ihnen auferlegt. Obwohl sie von frühester Kindheit an darauf dressiert werden, in allen wahnsinnigen Auswüchsen des Wettbewerbes Fortschritte zu sehen, schaut den gerade fortschrittlichsten unter ihnen die sie treibende Angst am deutlichsten aus den Augen und die tüchtigsten und am meisten »mit der Zeit gehenden« sterben besonders früh an Herzinfarkt.
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Selbst wenn man die unberechtigt optimistische Annahme macht, daß die Übervölkerung der Erde nicht in dem heute drohenden Maße weiter zunähme, muß man den wirtschaftlichen Wettlauf der Menschheit mit sich selbst für allein hinreichend betrachten, um sie völlig zugrunde zu richten.
Jeder Kreisprozeß mit positiver Rückkoppelung führt früher oder später zur Katastrophe, und der hier in Rede stehende Vorgang enthält deren mehrere.
Außer der kommerziellen intraspezifischen Selektion auf ein ständig sich verschnellerndes Arbeitstempo, ist noch ein zweiter gefährlicher Kreisprozeß am Werke, auf den Vance Packard in mehreren seiner Bücher aufmerksam gemacht hat und der eine progressive Steigerung der Bedürfnisse der Menschen im Gefolge hat.
Aus naheliegenden Gründen sucht jeder Produzent das Bedürfnis der Konsumenten nach den von ihm erzeugten Waren nach Möglichkeit in die Höhe zu treiben. Viele »wissenschaftliche« Forschungsinstitute beschäftigen sich ausschließlich mit der Untersuchung der Frage, welche Mittel zur Erreichung dieses durchaus verwerflichen Zieles am besten geeignet seien.
Die große Masse der Konsumenten ist, vor allem infolge der im 1. und im 7. Kapitel besprochenen Erscheinungen, dumm genug, um sich die Lenkung mittels der durch Meinungs- und Werbungsforschung ausgearbeiteten Methoden gefallen zu lassen. Niemand revoltiert zum Beispiel dagegen, mit jeder Tube Zahnpasta oder jeder Rasierklinge eine werbedienliche Verpackung mitbezahlen zu müssen, die häufig soviel oder mehr kostet als die gekaufte Ware.
Die Luxusbildungen, die als Folge des Teufelskreises einer rückgekoppelten Produktions- und Bedürfnissteigerung auftreten, werden den westlichen Ländern, vor allem den USA, früher oder später dadurch zum Verderben werden, daß ihre Bevölkerung gegen die weniger verwöhnte und gesündere der östlichen Länder nicht mehr konkurrenzfähig sein wird.
Seitens kapitalistischer Machthaber ist es daher äußerst kurzsichtig, das bisherige Verfahren beizubehalten, das darin besteht, den Konsumenten durch Erhöhung seines »Lebensstandards« dafür zu belohnen und so darauf zu »konditionieren«, daß er in seinem blutdruckerhöhenden, nervenzermürbenden Wettlauf mit seinem Nächsten fortfährt.
Außerdem aber führen diese Luxusbildungen zu einem Kreis verderblicher Erscheinungen besonderer Art, die im nächsten Kapitel besprochen werden.
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