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7. Abreißen der Tradition

 

 

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Die Entwicklung einer menschlichen Kultur zeigt einige bemerkenswerte Analogien zur phyletischen Artent­wicklung. Die kumulierende Tradition, die aller Kultur­entwicklung zugrunde liegt, beruht auf wesensmäßig neuen, bei keiner Tierart vorhandenen Leistungen, vor allem auf begrifflichem Denken und Wortsprache, die durch die Fähigkeit, freie Symbole zu bilden, dem Menschen eine nie vorher dagewesene Möglichkeit zur Verbreitung und Überlieferung individuell erworbenen Wissens eröffnen. 

Diese »Vererbung erworbener Eigenschaften«, die als Folge hiervon auftritt, ist ihrerseits der Grund dafür, daß sich die geschichtliche Entwicklung einer Kultur um mehrere Zehnerpotenzen schneller vollzieht als die Phylogenese einer Art.

Sowohl die Verfahren, durch welche eine Kultur neues, systemerhaltendes Wissen hinzuerwirbt, als auch diejenigen, durch die sie es festhält, sind von denen des Artenwandels verschieden. Die Methode jedoch, mit welcher unter dem vielen Angebotenen das Festzuhaltende ausgewählt wird, ist offenbar in Art- und Kultur­entwicklung dieselbe, nämlich Auswahl nach gründlicher Erprobung. Gewiß, die Selektion, durch die Strukturen und Funktionen einer Kultur bestimmt werden, ist nicht ganz so streng wie diejenige, die im Artenwandel am Werke ist, weil sich der Mensch durch die ständig wachsende Beherrschung der umgebenden Natur einem selektierenden Faktor nach dem anderen entzieht. 

Bei Kulturen findet man daher öfters, was bei Arten kaum vorkommt: sogenannte Luxusbildungen, d.h. Strukturen, deren Form sich nicht aus einer system­erhaltenden Leistung, auch nicht aus einer früheren, ableitet. Der Mensch kann es sich eben erlauben, mehr unnützen Ballast mitzuschleppen als ein wildes Tier.

Merkwürdigerweise ist es offenbar die Selektion allein, die darüber entscheidet, was als traditionelle, »geheiligte« Sitte und Gewohnheit in den dauernden Wissensschatz einer Kultur eingeht. Es will nämlich scheinen, als ob auch Erfindungen und Entdeckungen, die durch Einsicht und rationale Exploration gemacht werden, den Charakter des Rituellen, ja Religiösen annehmen, wenn sie durch längere Zeit tradiert worden sind. Darauf werde ich im nächsten Kapitel noch zurückkommen müssen. Untersucht man die herkömmlichen sozialen Verhaltensnormen einer Kultur, so wie sie im Augenblick vorgefunden werden, also ohne Einführung einer historisch vergleichenden Betrachtungsweise, so kann man unter ihnen solche, die zufällig entstandenem »Aberglauben« entstammen, nicht von solchen unterscheiden, die echten Einsichten und Erfindungen ihren Ursprung verdanken. 

Überspitzt könnte man sagen: Alles, was über längere Zeiträume durch kulturelle Tradition überliefert wird, nimmt schließlich den Charakter eines »Aberglaubens« oder einer »Doktrin« an.

Dies mag zunächst als ein »Konstruktionsfehler« des Mechanismus erscheinen, der in menschlichen Kulturen Wissen erwirbt und speichert. Bei längerem Nachdenken aber wird man finden, daß größte Konservativität im Festhalten des einmal Erprobten zu den lebensnotwendigen Eigenschaften des Apparates gehört, dem in der Kulturentwicklung eine analoge Aufgabe zufällt, wie sie im Artenwandel vom Genom geleistet wird. Das Festhalten ist nicht nur ebenso wichtig, sondern sehr viel wichtiger als das Hinzu­erwerben, und man muß sich vor Augen halten, daß wir ohne ganz speziell darauf gerichtete Untersuchungen durchaus nicht wissen können, welche von den Sitten und Gebräuchen, die uns von der Tradition unserer Kultur überliefert werden, entbehrlicher, überalterter Aberglaube und welche unentbehrliches Kulturgut sind.

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Auch bei Verhaltens­normen, deren üble Auswirkung selbstverständlich scheint, wie etwa beim Kopfjagen mancher Stämme Borneos und Neuguineas, ist durchaus nicht abzusehen, welche Rückwirkungen ihre radikale Abschaffung auf das System sozialer Verhaltens­normen ausüben wird, das die betreffende Kulturgruppe zusammenhält. Ein solches System stellt nämlich gewissermaßen das Skelett jeglicher Kultur dar, und ohne Einsicht in die Vielzahl seiner Wechselwirkungen ist es höchst gefährlich, willkürlich ein Element aus ihm zu entfernen.

Der Irrglaube, daß nur das rational Erfaßbare oder gar nur das wissenschaftlich Nachweisbare zum festen Wissensbesitz der Menschheit gehöre, wirkt sich verderblich aus. Er führt die »wissenschaftlich aufgeklärte« Jugend dazu, den ungeheuren Schatz von Wissen und Weisheit über Bord zu werfen, der in den Traditionen jeder alten Kultur wie in den Lehren der großen Welt­religionen enthalten ist. 

Wer da meint, all dies sei null und nichtig, gibt sich folgerichtig auch einem anderen, ebenso verderblichen Irrtum hin, indem er in der Überzeugung lebt, Wissenschaft könne selbstverständlich eine ganze Kultur mit allem Drum und Dran auf rationalem Wege und aus dem Nichts erzeugen. Dies ist nur um ein weniges weniger dumm als die Meinung, unser Wissen reiche hin, um durch Eingriffe in das menschliche Genom den Menschen willkürlich zu »verbessern«. Eine Kultur enthält ebensoviel »gewachsenes«, durch Selektion erworbenes Wissen wie eine Tierart, die man bekanntlich bisher auch noch nicht »machen« kann!

Die gewaltige Unterschätzung des nicht-rationalen, kulturellen Wissensschatzes und die gleiche Überschätzung dessen, was der Mensch als Homofaber mittels seiner Ratio auf die Beine zu stellen vermag, sind aber keineswegs die einzigen Faktoren, die unsere Kultur mit Vernichtung bedrohen, ja nicht einmal die ausschlaggebenden.

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Eine überhebliche Aufklärung hätte keinen Grund, der überkommenen Tradition ausgesprochen feindselig entgegenzutreten. Sie würde sie allenfalls so behandeln wie etwa ein Biologe eine alte Bäuerin, die ihm eindringlich versichert, daß Flöhe dadurch entstünden, daß Sägespäne mit Urin befeuchtet würden. 

Die Einstellung eines großen Teiles der heutigen jüngeren Generation gegen die ihrer Eltern hat zwar ein gerütteltes Maß von überheblicher Verachtung, aber nichts von Milde. 

Die Revolution der heutigen Jugend ist von Haß getragen, und zwar von einem solchen, der dem gefährlichsten und am schwersten zu überwindenden aller Haßgefühle, dem Nationalhaß, aufs nächste verwandt ist. Mit anderen Worten, die revoltierende Jugend reagiert auf die ältere Generation in derselben Weise, in der sonst eine Kulturgruppe oder »ethnische« Gruppe auf eine fremde und feindliche reagiert.

Es war Erik Erikson, der als erster darauf hingewiesen hat, wie weitgehend analog die divergierende Entwicklung unabhängiger ethnischer Gruppen in der Kulturgeschichte derjenigen ist, die Unterarten, Arten und Gattungen in ihrer Stammesgeschichte durchlaufen. Er sprach von »pseudo-speciation«, von »Schein-Artenbildung«. Es sind kulturhistorisch entstandene Riten und Normen sozialen Verhaltens, die einerseits kleinere und größere kulturelle Einheiten in sich zusammenhalten, sie andererseits aber voneinander absetzen.  

Eine bestimmte Art von »Manieren«, ein spezieller Gruppendialekt, eine Art, sich zu kleiden usw. können zum Symbol einer Gemeinschaft werden, das in ähnlicher Weise geliebt und verteidigt wird wie eben diese Gruppe persönlich bekannter und geliebter Menschen. Wie ich anderen Ortes (1967) auseinander­gesetzt habe, geht diese Hoch­schätzung aller Symbole der eigenen Gruppe mit einer entsprechenden Abwertung derjenigen jeder anderen, vergleich­baren kulturellen Einheit einher.

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Je länger sich zwei ethnische Gruppen unabhängig voneinander entwickelt haben, desto größer werden die Unterschiede, und man kann aus ihnen, in analoger Weise wie aus den Merkmal-Verschiedenheiten von Tierarten, den Gang der Entwicklung rekonstruieren. Hier wie dort kann man mit Sicherheit annehmen, daß die weiter verbreiteten, größeren Einheiten zukommenden Merkmale die älteren seien.

Jede genügend scharf umschriebene Kulturgruppe neigt dazu, sich tatsächlich als eine eigene Spezies zu betrachten, insofern nämlich, als sie die Mitglieder anderer, vergleichbarer Einheiten nicht für vollwertige Menschen hält. In sehr vielen Einge­borenen­sprachen bedeutet die Bezeichnung des eigenen Stammes ganz einfach »Mensch«. Ein Mitglied des Nachbar­stammes totzuschlagen bedeutet somit keinen wirklichen Mord! Diese Konsequenz der Schein-Artenbildung ist höchst gefährlich, weil durch sie die Hemmung, einen Artgenossen zu töten, weitgehend beseitigt wird, während die durch Artgenossen, und nur durch diese, ausgelöste intraspezifische Aggression wirksam bleibt. Man hat auf die »Feinde« eine Wut, wie man sie nur auf andere Menschen haben kann, selbst auf das böseste Raubtier nicht, und man darf ruhig auf sie schießen, denn es sind ja keine wirklichen Menschen. Selbstverständlich gehört es zur bewährten Technik aller Kriegshetzer, dieser Meinung Vorschub zu leisten.

Es ist eine recht beunruhigende Tatsache, daß die heutige jüngere Generation ganz unzweideutig beginnt, die ältere als eine fremde Pseudospezies zu behandeln. Dies drückt sich in vielerlei Symptomen aus. Konkurrierende und feindliche ethnische Gruppen pflegen in betonter Weise verschiedene Trachten auszubilden oder ad hoc zu schaffen. In Mitteleuropa sind ortskenn­zeichnende Bauern­trachten längst verschwunden, nur in Ungarn sind sie überall dort in vollster Ausbildung erhalten geblieben, wo ungarische und slowakische Dörfer dicht nebeneinanderliegen.

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Dort trägt man seine Tracht mit Stolz, und zwar ganz eindeutig mit der Absicht, die Mitglieder der anderen ethnischen Gruppen zu ärgern. Genau dies tun sehr viele selbst­konstituierte Gruppen rebellierender Jugendlicher, wobei es ganz erstaunlich ist, wie sehr sich bei ihnen – trotz angeblicher größter Ablehnung alles Militärischen – der Drang zur Uniformierung durchsetzt. Die verschiedenen Untergruppen der Beatniks, Teddyboys, Rocks, Mods, Rockers, Hippies, Gammler usw. sind dem »Fachmann« an ihrer Tracht ebenso sicher erkennbar, wie die Regimenter des kaiserlich-königlich österreichischen Heeres es einmal waren.

In Sitten und Gebräuchen sucht die rebellierende Jugend sich ebenfalls so scharf wie nur möglich von der Elterngeneration zu distanzieren, und zwar nicht etwa dadurch, daß sie deren herkömmliches Verhalten einfach ignoriert, sondern indem sie jede kleinste Einzelheit wohl beachtet und in das genaue Gegenteil verkehrt. Darin liegt zum Beispiel eine der Erklärungen für das Auftreten sexueller Exzesse bei Menschengruppen, deren allgemeine sexuelle Potenz anscheinend erniedrigt ist. Ebenfalls nur aus dem intensiven Wunsch nach Durchbrechung elterlicher Verbote zu erklären ist es, wenn rebellierende Studenten öffentlich urinieren und defäkieren, wie das an der Wiener Universität vorgekommen ist.

Die Motivation all dieser merkwürdigen, ja bizarren Verhaltensweisen ist den betreffenden jungen Menschen völlig unbewußt, und sie geben die verschiedensten, oft recht überzeugend klingenden Pseudo-Rationalisierungen für ihr Benehmen an: Sie protestieren gegen die allgemeine Gefühllosigkeit ihrer reichen Eltern für Arme und Hungernde, gegen den Krieg in Vietnam, gegen die Eigenmächtigkeit der Universitäts­behörden, gegen sämtliche »Establishments« aller Richtungen – wenn auch merkwürdig selten gegen die Vergewaltigung der Tschechoslowakei durch die Sowjetunion.

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In Wirklichkeit aber richtet sich der Angriff ziemlich wahllos gegen alle älteren Menschen, ohne irgend­welche Berücksichtigung ihres politischen Bekenntnisses. Die links­radikalsten Professoren werden von linksradikalen Studenten nicht merklich weniger beschimpft als rechts orientierte; H. Marcuse wurde einmal von kommunistischen Studenten unter der Führung Cohn-Bendits in der gröblichsten Weise beschimpft und mit wahrhaft hirn­erweichten Anschuldigungen überhäuft, zum Beispiel wurde ihm vorgeworfen, daß er vom CIA bezahlt werde. Der Angriff war nicht dadurch motiviert, daß er einer anderen politischen Richtung, sondern ausschließlich dadurch, daß er einer anderen Generation angehört.

Ebenso unbewußt und gefühlsmäßig versteht die ältere Generation die angeblichen Proteste als das, was sie wirklich sind, als haßerfüllte Kampfansagen und Beschimpfung. So kommt es zu einer rapiden und gefährlichen Eskalation eines Hasses, der – wie schon gesagt – wesensverwandt mit dem Haß verschiedener ethnischer Gruppen, d.h. mit nationalem Haß ist. 

Selbst als geübter Ethologe finde ich es schwer, auf die schöne blaue Bluse des wohlsituierten Kommunisten Cohn-Bendit nicht mit Zorn zu reagieren, und man braucht nur den Gesichtsausdruck solcher Leute zu beobachten, um zu wissen, daß diese Wirkung erwünscht ist. All dies verringert die Aussichten auf eine Verständigung auf ein Minimum.

 

Sowohl in meinem Buch über Aggression (1963) wie in öffentlichen Vorträgen (1968, 1969) habe ich die Frage diskutiert, worin wahrscheinlich die ethologischen Ursachen des Generationen­krieges zu suchen seien, ich kann mich daher hier auf das Aller­nötigste beschränken. Dem ganzen Erscheinungs­kreise liegt eine Funktionsstörung des Entwicklungsvorganges zugrunde, der sich beim Menschen in der Pubertätszeit abspielt.

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Während dieser Phase beginnt sich der junge Mensch von den Traditionen des Elternhauses zu lösen, sie kritisch zu prüfen und Umschau nach neuen Idealen zu halten, nach einer neuen Gruppe, der er sich anschließen und deren Sache er zu der seinen machen kann. Der instinktive Wunsch, für eine gute Sache auch kämpfen zu können, ist für die Objektwahl ausschlaggebend, besonders bei jungen Männern. In dieser Phase erscheint das Altüberkommene langweilig und alles Neue anziehend, man könnte von einer physiologischen Neophilie sprechen.

Ohne allen Zweifel hat dieser Vorgang einen hohen Arterhaltungswert, um dessentwillen er in das phylogenetisch entstandene Programm menschlicher Verhaltensweisen aufgenommen wurde. Seine Funktion liegt darin, der sonst allzu starren Überlieferung kultureller Verhaltensnormen einige Anpassungsfähigkeit zu verleihen, und ist hierin etwa der Häutung eines Krebses zu vergleichen, der sein starres Außenskelett abwerfen muß, um wachsen zu können. Wie bei allen festen Strukturen, muß auch bei der kulturellen Überlieferung die unentbehrliche Stützfunktion durch den Verlust von Freiheitsgraden erkauft werden, und wie bei allen anderen bringt der Abbau, der um jeder Umkonstruktion willen nötig wird, bestimmte Gefahren mit sich, da zwischen Ab- und Neuaufbau notwendigerweise eine Periode der Halt- und Schutzlosigkeit liegt. Dies ist bei dem sich häutenden Krebs und beim pubertierenden Menschen in analoger Weise der Fall.

Normalerweise folgt auf die Periode der physiologischen Neophilie ein Wiederaufleben der Liebe zum Althergebrachten. Das kann ganz allmählich vor sich gehen, die meisten von uns Älteren können Zeugnis davon ablegen, daß man mit Sechzig eine weit höhere Meinung von vielen Anschauungen seines Vaters hat als mit Achtzehn. A. Mitscherlich nennt dieses Phänomen treffend den »späten Gehorsam«.

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Die physiologische Neophilie und der späte Gehorsam bilden zusammen ein System, dessen system­erhalt­ende Leistung darin liegt, ausgesprochen veraltete und neuer Entwicklung hinderliche Elemente der überlieferten Kultur auszumerzen, ihre wesentliche und unent­behrliche Struktur indessen weiter zu bewahren. Da die Funktion dieses Systems notwendigerweise vom Zusammenspiel sehr vieler äußerer und innerer Faktoren abhängig ist, ist sie begreiflicherweise leicht störbar.

Entwicklungshemmungen, die durch Umweltfaktoren, sicher aber auch genetisch bedingt sein können, haben je nach dem Zeitpunkt ihres Auftretens sehr verschiedene Folgen. Steckenbleiben in einem frühen infantilen Stadium kann persistierende Eltern­bindungen und ein totales Verharren in den Traditionen der älteren Generation zur Folge haben. Solche Menschen kommen dann sehr schlecht mit ihren Alters­genossen aus und werden oft Sonderlinge. Unphysiologisches Verharren auf dem Stadium der Neophilie führt zu ganz charakteristischem, nachträgerischem Ressentiment gegen die manchmal längst verstorbenen Eltern und ebenfalls zu einer Art von Absonderlichkeit. Beide Phänomene sind den Psycho­analytikern wohl bekannt.

Die Störungen aber, die zu Haß und Krieg zwischen den Generationen führen, haben andere Ursachen, und zwar zweierlei.

Erstens werden die geforderten anpassenden Veränderungen des überlieferten Kulturgutes von Generation zu Generation immer größer. Zu Abrahams Zeiten war die vom Sohn vorzunehmende Abänderung der Verhalt­ens­normen, die er von seinem Vater übernommen hatte, so unwahrnehmbar gering, daß es – wie Thomas Mann in seinem wunderbaren psychologischen Roman >Joseph und seine Brüder< so überzeugend darstellt – manchen der damaligen Menschen überhaupt unmöglich wurde, die eigene Person von der des Vaters zu unterscheiden, was die vollkommenste denkbare Form der Identifikation bedeutet.

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Das Entwicklungs­tempo, das der heutigen Kultur von ihrer Technologie aufgezwungen wird, hat zur Folge, daß von dem, was eine Generation an traditionellem Gut noch besitzt, ein sehr beträchtlicher Teil von der kritischen Jugend mit Recht als obsolet erkannt wird. Der schon (S. 70) besprochene Irrglaube, der Mensch könne eine neue Kultur willkürlich und rational aus dem Boden stampfen, führt dann zu der völlig irrsinnigen Folgerung, daß es am besten sei, die elterliche Kultur totalzuvernichten, um »schöpferisch« neu aufbauen zu können. Man könnte das in der Tat, aber nur, indem man beim Vor-Cromagnon-Menschen neu beginnt!

Das heute von der Jugend weithin für durchaus richtig gehaltene Bestreben, »die Eltern mit dem Bade auszuschütten«, hat aber noch andere Ursachen. Die Veränderungen, denen die Struktur der Familie im Zuge der fortschreitenden Technisierung der Menschheit unterworfen ist, wirken samt und sonders in der Richtung, den Kontakt zwischen Eltern und Kindern zu schwächen.  

Dies beginnt schon in der Säuglings­zeit. Da die Mutter heutzutage niemals ihre volle Zeit dem Kleinkind widmen kann, entstehen in stärkerem oder geringerem Grade fast stets die Erscheinungen der von René Spitz so genannten Hospitalisierung. Ihr bösestes Symptom ist eine schwer oder nicht reversible Schwächung der menschlichen Kontaktfähigkeit. Dieser Effekt summiert sich in gefährlicher Weise mit der schon (S. 21) besprochenen Störung der menschlichen Anteilnahme.

In etwas späterem Alter macht sich, vor allem bei Knaben, der Ausfall des väterlichen Vorbildes störend bemerkbar. Außer in bäuerlichem und handwerklichem Milieu sieht ein Junge heute seinen Vater fast nie bei der Arbeit, noch weniger hat er Gelegen­heit, ihm dabei zu helfen und dabei die Überlegenheit des Mannes eindruckvoll zu erfahren. Auch fehlt in der modernen Kleinfamilie die Rangordnungs-Struktur, die den »alten Mann« unter ursprünglicheren Bedingungen respekteinflößend erscheinen ließ.

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Ein 5-Jähriger kann keineswegs unmittelbar die Überlegenheit seines 40jährigen Vaters ermessen, wohl aber imponiert ihm die Kraft eines 10-Jährigen, und er versteht die Verehrung, die dieser dem 15jährigen Bruder entgegenbringt, und zieht gefühlsmäßig die richtigen Schlüsse, wenn er bemerkt, wie der 15jährige, der schon klug genug ist, um die geistige Überlegenheit des Alten anzuerkennen, diesen respektiert.

Anerkennung rangordnungsmäßiger Überlegenheit ist kein Hindernis für Liebe. Die Erinnerung sollte jedem Menschen sagen, daß er als Kind solche Menschen, zu denen er emporsah und denen er sich eindeutig unterwarf, nicht weniger, sondern mehr geliebt hat als Gleichrangige oder Untergeordnete. Ich weiß noch mit großer Sicherheit, daß ich meinem frühverstorbenen Freund Emmanuel la Roche, der, um vier Jahre älter als ich, als unbestrittener Häuptling eine gerechte, aber strenge Herrschaft über unsere wilde Bande von 10- bis 16jährigen Kindern ausübte, durchaus nicht nur Respekt zollte oder nur darauf aus war, durch kühne Taten seine Anerkennung zu erringen, sondern ich erinnere mich noch ebenso deutlich der Liebe, die ich für ihn empfand.

Dieses Gefühl war eindeutig von der gleichen Qualität wie jenes, das ich später bestimmten sehr verehrten älteren Freunden und Lehrern entgegengebracht habe. Es ist eines der größten Verbrechen der pseudodemokratischen Doktrin, das Bestehen einer natürlichen Rangordnung zwischen zwei Menschen als frustrierendes Hindernis für alle wärmeren Gefühle zu erklären: Ohne sie gibt es nicht einmal die natürlichste Form von Menschenliebe, die normalerweise die Mitglieder einer Familie miteinander verbindet; Tausende von Kindern sind durch die bekannte »Non-frustration«-Erziehung zu unglücklichen Neurotikern gemacht worden.

Wie ich schon in den erwähnten Schriften auseinandergesetzt habe, befindet sich das Kind in einer der Rangordnung entbehrenden Gruppe in einer durchaus unnatürlichen Situation.

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Da es nämlich sein eigenes, instinktmäßig programmiertes Streben nach hoher Rangstellung nicht unterdrücken kann und selbstverständlich die widerstandslosen Eltern tyrannisiert, sieht es sich in die Rolle des Gruppenführers gedrängt, in der ihm gar nicht wohl ist. Ohne einen stärkeren »Vorgesetzten« fühlt es sich schutzlos in einer durchaus feindseligen Welt, denn Non-frustration-Kinder sind nirgends beliebt. Wenn es in begreiflicher Gereiztheit die Eltern herauszufordern trachtet, »um Watschen bettelt«, wie man im Bayrisch-Österreichischen so schön sagt, findet es nicht die instinktmäßig erwartete und unterbewußt erhoffte Gegenaggression, sondern stößt auf die Gummiwand ruhiger, pseudo-rationalisierender Phrasen.

Kein Mensch aber identifiziert sich je mit einem sklavischen Schwächling, niemand ist bereit, sich von ihm Normen des Verhaltens vorschreiben zu lassen, und am allerwenigsten ist man bereit, als kulturelle Werte anzuerkennen, was jener verehrt. Nur wenn man einen Menschen aus tiefstem Seelengrunde liebt und gleichzeitig zu ihm aufblickt, ist man überhaupt imstande, seine kulturelle Tradition zu seiner eigenen zu machen. Eine solche »Vaterfigur« fehlt nun ganz offensichtlich einer erschreck­enden Mehrzahl der heute aufwachsenden jungen Menschen. Der leibliche Vater versagt allzuoft, und der Massen­betrieb an Schulen und Universitäten verhindert es, daß ein verehrter Lehrer ihn ersetzt.

Zu diesen rein ethologischen Gründen, die elterliche Kultur abzulehnen, kommen nun aber bei vielen intelligenten Jugendlichen auch echt ethische. An unserer heutigen westlichen Kultur mit ihrer Vermassung, ihrer Verwüstung der Natur, ihrem wertblind-geldgierigen Wettlauf mit sich selbst, ihrer erschreckenden Gefühls-Verarmung und ihrer Verdummung durch Indoktrination ist fürwahr das Nicht-Nachahmenswerte so augenfällig, daß es allzuleicht den Gehalt an tiefer Wahrheit und Weisheit vergessen läßt, der auch unserer Kultur innewohnt.

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Die Jugend hat in der Tat triftige und rationale Gründe, sämtlichen »Establishments« den Kampf anzusagen. Es ist indessen sehr schwer, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie groß unter den rebellierenden Jugendlichen – auch unter den Studenten – der Anteil derjenigen ist, die tatsächlich aus diesen Gründen handeln. 

Was bei öffentlichen Auseinandersetzungen tatsächlich geschieht, ist ganz offensichtlich von ganz anderen, unbewußt ethologischen Antrieben verursacht, unter denen der ethnische Haß zweifellos an erster Stelle steht. Leider sind die nach­denk­lichen und aus rationalen Motiven handelnden jungen Leute die weniger gewalttätigen, so daß das äußere Bild der Rebellion überwiegend von den Symptomen neurotischer Regression beherrscht ist. Aus einer falsch verstandenen Loyalität sind die vernünftigen Jugendlichen offenbar nicht imstande, sich von den triebmäßig handelnden zu distanzieren. In Diskussionen mit Studenten habe ich den Eindruck gewonnen, daß der Anteil der Vernünftigen gar nicht so gering ist, wie man nach dem äußeren Erscheinungs­bild der Rebellion schließen könnte.

Allerdings darf man bei diesen Überlegungen nicht vergessen, daß vernünftige Erwägungen einen weit schwächeren Antrieb darstellen als die elementare, instinktmäßige Urgewalt der tatsächlich dahinter­steckenden Aggression. Noch weniger darf man die Folgen vergessen, die das restlose Abwerfen der elterlichen Tradition für die Jugendlichen selbst nach sich zieht. Diese Folgen können vernichtend sein. Während der Phase der »physiologischen Neophilie« ist der Pubertierende von einem überwältigenden Drang besessen, sich einer ethnischen Gruppe anzuschließen und, vor allem, an ihrer kollektiven Aggression teilzuhaben.

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Dieser Drang ist so stark wie nur irgendein anderer phylogenetisch programmierter Antrieb, so stark wie Hunger oder Sexualität. Wie diese kann er von Einsicht und Lernvorgängen bestenfalls seine Fixierung auf ein bestimmtes Objekt erhalten, niemals aber kann er als Ganzes von der Vernunft beherrscht oder gar unterdrückt werden. Wo dies scheinbar gelingt, wird die Gefahr einer Neurose heraufbeschworen.

Der in diesem ontogenetischen Stadium »normale«, d.h. im Interesse der Systemerhaltung einer Kultur sinnvolle Vorgang ist dann – wie schon gesagt – darin zu sehen, daß die Jugendlichen einer ethnischen Gruppe sich im Dienst mancher neuer Ideale zusammen­finden und dementsprechend wesentliche Reformen an den traditionellen Verhaltensnormen vornehmen, ohne indessen das gesamte Gut der elterlichen Kultur über Bord zu werfen. Der junge Mensch identifiziert sich also eindeutig mit der jungen Gruppe einer alten Kultur. Es liegt im tiefsten Wesen des Menschen als des natürlichen Kulturwesens begründet, daß er eine voll befriedigende Identifizierung nur in und mit einer Kultur zu finden vermag.

Wenn ihm dies durch die im vorangehenden besprochenen Hindernisse unmöglich gemacht wird, so befriedigt er seinen Drang nach Identifizierung und Gruppenzugehörigkeit nicht anders, als er es etwa mit unbefriedigtem Geschlechtstrieb tun würde, an einem Ersatzobjekt. Die Wahllosigkeit, mit der gestaute Triebe an erstaunlich unpassenden Objekten abreagiert werden, ist der Instinktforschung schon sehr lange bekannt, es gibt aber kaum ein eindrucksvolleres Beispiel für sie als die Objektwahl, die nach Gruppenzugehörigkeit lechzende Jugendliche nicht selten treffen. 

Alles ist besser, als gar keiner Gruppe anzugehören, und sei es die Mitgliedschaft in der traurigsten aller Gemeinden, nämlich derjenigen der Rauschgiftsüchtigen. Aristide Esser, der Fachmann auf diesem Gebiet, konnte zeigen, daß neben der Langeweile, von der im V. Kapitel die Rede war, vor allem der Drang nach Gruppenzugehörigkeit eine ständig wachsende Zahl von Jugendlichen in die Rauschgiftsucht treibt.

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Wo eine Gruppe fehlt, der man sich anschließen kann, besteht immer die Möglichkeit, eine »nach Maß angefertigte« zu konstituieren. Halb oder ganz kriminelle Banden Jugendlicher, wie sie z. B. in dem mit Recht berühmten Musical <West Side Story> so treffend dargestellt sind, repräsentieren in geradezu schematischer Einfachheit das phylogenetische Programm der ethnischen Gruppe, nur leider ohne die überlieferte Kultur, die natürlich gewordenen, nicht-pathologischen Gruppen zu eigen ist.

Wie in diesem Musical dargestellt, bilden sich häufig zwei Banden gleichzeitig aus, mit keinem anderen Ziele, als geeignete Objekte für kollektive Aggression zu bieten. Die englischen »Rocks and Mods« sind, wenn sie noch existieren, ein typisches Beispiel. Diese aggressiven Doppelgruppen sind immerhin noch eher tragbar als zum Beispiel die Hamburger Rocker, die sich das Verprügeln wehrloser Greise zur Lebens­aufgabe gemacht haben.

Die gefühlsmäßige Erregung hemmt die rationale Leistung, der Hypothalamus blockiert den Cortex. Für keine wie immer geartete Emotion gilt dies in so hohem Maße wie für den kollektiven, ethnischen Haß, den wir als Nationalhaß allzugut kennen. Man muß sich klarmachen, daß der Haß der jüngeren Generation gegen die ältere aus gleichen Quellen kommt. Schlimmer als totale Blind- oder Taubheit wirkt Haß, indem er jede Nachricht, die man zu übermitteln trachtet, fälscht und in ihr Gegenteil verkehrt. 

Was immer man der rebellierenden Jugend sagen mag, um sie am Zerstören ihrer eigenen wichtigsten Güter zu verhindern, wird einem in voraus­sagbarer Weise als hinterlistiger Versuch ausgelegt, das verhaßte »Establishment« zu stützen. Haß macht nicht nur blind und taub, er macht auch unglaublich dumm.

Es wird schwer sein, denen, die uns hassen, die Wohltat zu erweisen, die ihnen not tut. Es wird schwer sein, ihnen beizubringen, daß das in der kulturellen Entwicklung Entstandene ebenso unersetzlich und ehrfurcht­gebietend ist wie das in der Stammesgeschichte Gewordene, es wird schwer sein, ihnen beizubringen, daß eine Kultur ausgelöscht werden kann wie eine Kerzenflamme.

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