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8. Indoktrinierbarkeit 

 

 

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Mein Lehrer Oskar Heinroth, Erznaturforscher und Erzspötter der Geisteswissenschaften, pflegte zu sagen: »Was man denkt, ist meistens falsch, aber was man weiß, ist richtig.« 

Dieser erkenntnistheoretisch unbelastete Satz drückt ganz ausgezeichnet den Entwicklungs­gang alles menschlichen Wissens, vielleicht allen Wissens überhaupt aus. Zuerst »denkt man sich« irgend etwas, dann vergleicht man es mit der Erfahrung und mit den weiteren einlaufenden Sinnesdaten, um dann aus Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung auf Richtigkeit oder Unrichtigkeit dessen, was man »sich gedacht« hat, zu schließen. 

Dieser Vergleich zwischen einer inneren, in irgendeiner Weise im Organismus entstandenen Regelhaftigkeit mit einer zweiten, die in der Außenwelt obwaltet, ist wahrscheinlich die wichtigste Methode überhaupt, mittels deren ein lebender Organismus zu Erkenntnissen gelangt. »Pattern matching« wird diese Methode von Karl Popper und Donald Campbell genannt, beide Worte trotzen der genauen Übersetzung ins Deutsche.

In einfachster Verwirklichung spielt sich dieser Vorgang des Wissenserwerbs schon auf der niedrigsten Ebene von Lebens­vorgängen in prinzipiell gleicher Weise ab, in der Physiologie der Wahrnehmung findet er sich auf Schritt und Tritt, und im bewußten Denken des Menschen nimmt er die Form von Vermutung und anschließender Bestätigung an. Was man sich, zunächst vermutungsweise, gedacht hat, erweist sich bei der Probe aufs Exempel sehr oft als falsch, aber wenn es diese Probe genügend oft bestanden hat, weiß man es. In der Wissenschaft nennt man diese Vorgänge Hypothesebildung und Verifikation.

Leider sind nun diese beiden Schritte der Erkenntnis nicht so scharf voneinander geschieden und das Ergebnis des zweiten keineswegs so klar, wie es nach dem Ausspruch meines Lehrers Heinroth erscheinen möchte. Die Hypothese ist am Bau der Erkenntnis ein Baugerüst, von welchem der Bauherr von vornherein weiß, daß er es im Fortschreiten seines Vorhabens wieder abreißen wird. Sie ist eine vorläufige Annahme, die zu machen überhaupt nur dann einen Sinn hat, wenn die praktische Möglichkeit besteht, sie durch extra zu diesem Zwecke gesuchte Tatsachen zu widerlegen.

Eine Hypothese, die jeglicher »Falsifikation« unzugänglich ist, ist auch nicht verifizierbar und damit zur experimentellen Arbeit unbrauchbar. Der Hypothesebildner muß jedem Dank wissen, der ihm neue Wege zeigt, auf denen seine Hypothese als unzureichend erwiesen werden kann, denn alle Verifizierung besteht ja nur darin, daß die Hypothese sich Widerlegungs­versuchen gegenüber als widerstandsfähig erweist. In der Suche nach solcher Bewährung besteht im Grunde genommen die Arbeit jedes Naturforschers; deshalb spricht man ja auch von Arbeitshypothesen, und eine solche ist um so brauchbarer, je mehr Gelegenheit zur Überprüfungsarbeit sie bietet: Die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit steigt ja mit der Zahl der beigebrachten Tatsachen, die sich einordnen ließen.

Es ist ein auch unter Erkenntnistheoretikern verbreiteter Irrtum, daß eine Hypothese durch eine einzige oder einige wenige Tatsachen, die sie nicht einzuordnen vermag, endgültig widerlegt werde. Wäre dem so, so wären sämtliche existierenden Hypothesen widerlegt, denn es gibt kaum eine, die allen einschlägigen Tatsachen gerecht wird. All unsere Erkenntnis ist nur eine Annäherung an die außersubjektive Wirklichkeit, die wir zu erkennen trachten, allerdings eine fortschreitende Annäherung. Widerlegt wird eine Hypothese niemals durch eine einzige widersprechende Tatsache, sondern immer nur durch eine andere Hypothese, die mehr Tatsachen einzuordnen vermag als sie selbst. »Wahrheit« ist somit diejenige Arbeitshypothese, die am besten geeignet ist, den Weg zu jener anderen zu bahnen, die mehr zu erklären vermag.

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Dieser theoretisch unbezweifelbaren Tatsache vermag sich aber unser Denken und Fühlen nicht zu beugen. Wir mögen uns noch so eifrig vor Augen halten, daß all unser Wissen, alles, was unsere Wahrnehmung uns von der außersubjektiven Wirklichkeit mitteilt, nur ein grob vereinfachendes, annäherungsweises Bild des an sich Bestehenden darstellt, wir können doch nicht verhindern, daß wir gewisse Dinge einfach für wahr halten und von der absoluten Richtigkeit dieses Wissens überzeugt sind.

Diese Überzeugung ist, wenn man sie psychologisch und vor allem phänomenologisch richtig betrachtet, einem Glauben in jedem Sinne dieses Wortes gleichzusetzen. Wenn der Naturforscher eine Hypothese so weit verifiziert hat, daß sie den Namen einer Theorie verdient, und wenn diese Theorie so weit gediehen ist, daß sie voraussagbar nur mehr durch Zusatzhypothesen, nicht aber in ihren Grundzügen geändert werden wird, so »glauben« wir »fest« an sie. Dieser Glauben stiftet auch weiter keinen Schaden, da eine derartige »abgeschlossene« Theorie in ihrem Geltungsbereich ihre »Wahrheit« auch dann behält, wenn sich dieser als weniger allumfassend erweisen sollte, als man zu der Zeit glaubte, da die Theorie aufgestellt wurde. Dies gilt z.B. für die gesamte klassische Physik, die durch die Quantenlehre zwar in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt, nicht aber im eigentlichen Sinne widerlegt wurde.

Im gleichen Sinne wie an die Thesen der klassischen Mechanik »glaube« ich an eine ganze Reihe von Theorien, die bis an die Grenze der Sicherheit wahrscheinlich gemacht wurden: So bin ich zum Beispiel fest überzeugt, daß das sogenannte Kopernik­anische Weltbild richtig ist, zumindest wäre ich geradezu maßlos erstaunt, wenn sich die berüchtigte Hohlwelttheorie als richtig herausstellen sollte oder daß die Planeten nun doch, wie man zu Zeiten des Ptolemäus meinte, in merkwürdigen epizyklischen Schlingen an der Zimmerdecke umherkriechen.

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Es gibt aber auch Dinge, die ich ebenso fest glaube wie erwiesene Theorien, ohne auch nur den geringsten Nachweis dafür zu haben, daß meine Überzeugung richtig ist. So glaube ich zum Beispiel, daß das Universum von einem einzigen Satz von untereinander widerspruchsfreien Naturgesetzen regiert wird, die nie durchbrochen werden. Diese Überzeugung, die für mich persönlich geradezu axiomatischen Charakter hat, schließt außernatürliche Geschehnisse aus, mit anderen Worten, ich halte alle von den Parapsychologen und von den Spiritisten beschriebenen Erscheinungen für Selbsttäuschung.

Diese Meinung ist völlig unwissenschaftlich, außernatürliche Vorgänge könnten ja erstens sehr selten und zweitens von geringem Ausmaße sein, und die Tatsache, daß ich derlei nie überzeugend zu Gesicht bekommen habe, berechtigt mich selbstverständlich zu keiner Aussage über ihre Existenz oder Nichtexistenz. Es ist eingestandenermaßen mein rein religiöser Glaube, daß es nur ein großes Wunder und keine Wunder im Plural gibt oder, wie der Dichterphilosoph Kurd Laßwitz es ausgedrückt hat, daß Gott es nicht nötig hat, Wunder zu tun.

Ich habe gesagt, daß diese Überzeugungen – wissenschaftlich begründete wie gefühlsmäßige – phänomen­ologisch einem Glauben gleich sind. Um seinem Erkenntnisstreben auch nur eine scheinbar feste Basis zu verleihen, kann der Mensch gar nicht anders, als gewisse Tatsachen als feststehend anzunehmen und sie seinen Schlußfolgerungen als archimedische Punkte zu »unterstellen«. Bei der Hypothesebildung fingiert man bewußt die Sicherheit einer solchen Unterstellung, man »tut, als ob« sie wahr wäre, nur um zu sehen, was dabei herauskommt.

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Je länger man dann auf solchen fiktiven archimedischen Punkten weitergebaut hat, ohne daß das Gebäude in sich widerspruchsvoll wird und zusammenbricht, desto wahrscheinlicher wird nach dem Prinzip der gegenseitigen Erhellung die ursprünglich tollkühne Annahme, daß die hypothetisch unterstellten archimedischen Punkte wirkliche seien.

Die hypothetische Annahme, daß gewisse Dinge einfach wahr seien, gehört also zu den unentbehrlichen Verfahren menschlichen Erkenntnisstrebens. Ebenso gehört es zu der motivationsmäßigen Voraussetzung menschlichen Forschens, daß man hofft, die Annahme sei wahr, die Hypothese sei richtig. Es gibt nur verhältnismäßig wenige Naturforscher, die es vorziehen, »per exclusionem« vorzuschreiten, indem sie eine Erklärungsmöglichkeit nach der anderen experimentell ausschließen, bis die allein übrigbleibende die Wahrheit enthalten muß.

Die meisten von uns – dessen müssen wir uns bewußt sein – lieben ihre Hypothesen, und es ist, wie ich einmal sagte, eine zwar schmerzhafte, aber jung und gesund erhaltende Turnübung, täglich, gewissermaßen als Frühsport, eine Lieblingshypothese über Bord zu werfen. Zum »Lieben« einer Hypothese trägt natürlich auch die Zeitdauer bei, während deren man sie vertreten hat; Denkgewohnheiten werden genauso leicht zu »lieben« Gewohnheiten wie irgendwelche anderen. Besonders aber tun sie das, wenn man sie nicht selbst geschaffen, sondern von einem großen und verehrten Lehrer übernommen hat. Wenn dieser der Entdecker eines neuen Erklärungsprinzips gewesen war und daher viele Schüler hatte, so gesellt sich zu dieser Anhänglich­keit noch die Massenwirkung einer von vielen Menschen geteilten Meinung.

Alle diese Erscheinungen sind an sich noch nichts Schlimmes, sondern haben sogar ihre Berechtigung. Eine gute Arbeitshypothese gewinnt tatsächlich an Wahrscheinlichkeit, wenn in langer, selbst jahrelanger Forschung keine Tatsachen zutage kommen, die ihr widersprechen.

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Das Prinzip der gegenseitigen Erhellung gewinnt mit der Dauer der verflossenen Zeit an Wirksamkeit. Auch ist es berechtigt, das Wort eines verantwortlichen Lehrers sehr ernst zu nehmen, da ein solcher an alles, was er seinen Schülern weitergibt, einen besonders strengen Maßstab anlegt oder aber die hypothetische Natur des Gesagten sehr stark betont. Ein solcher Mann überlegt gründlich, ehe er eine seiner Theorien als »lehrbuchreif« betrachtet. Ebensowenig ist es unbedingt verdammenswert, wenn man sich in seiner Meinung dadurch bestärken läßt, daß andere sie teilen. Vier Augen sehen mehr als zwei, und besonders, wenn der andere von einer andersartigen Induktionsbasis ausgegangen und dabei zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangt ist, bedeutet dies eine eindeutige Bestätigung.

Alle diese eine Überzeugung festigenden Wirkungen können aber leider auch ohne die eben erwähnten Berechtigungen auftreten. Zunächst einmal kann, wie schon S. 85 erwähnt, eine Hypothese so beschaffen sein, daß die von ihr diktierten Versuche sie von vornherein nur bestätigen können. Die Hypothese zum Beispiel, daß der Reflex die einzige untersuchenswerte Elementarleistung des Zentralnervensystems darstelle, führte ausschließlich zu solchen Versuchen, in denen die Antwort des Systems auf eine Zustands-Änderung registriert wurde. Daß das Nervensystem auch anderes kann, als passiv auf Reize zu reagieren, mußte bei dieser Versuchsanordnung verborgen bleiben. Es bedarf ebensowohl der Selbstkritik als eines phantasievollen Gedanken­reichtums, um nicht in den Fehler zu verfallen, der die Hypothese als Arbeitshypothese entwertet, so »fruchtbar« sie auch im Herbeischaffen von »Information« – im informations­theoretischen Sinne – sein mag. Neue Erkenntnisse bringt sie dann nämlich nicht mehr oder nur ausnahmsweise.

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Auch das Vertrauen in die Lehren des Meisters, so wertvoll es bei der Gründung einer »Schule«, d.h. einer neuen Forschungsrichtung, sein kann, bringt die Gefahr der Doktrinenbildung mit sich. Das große Genie, das ein neues Erklärungsprinzip entdeckt hat, neigt erfahrungsgemäß dazu, dessen Geltungsbereich zu überschätzen. Jacques Loeb, Iwan Petrovitsch Pawlow, Sigmund Freud und viele andere von den ganz Großen haben das getan. Wenn dann noch hinzukommt, daß die Theorie allzu plastisch ist und wenig zur Falsifikation anreizt, dann kann dies im Verein mit der Verehrung für den Meister dazu führen, daß die Schüler zu Jüngern werden und die Schule zu einer Religion und einem Kult, wie dies so mancherorts mit der Lehre Sigmund Freuds passiert ist.

Der entscheidende Schritt zur Bildung einer Doktrin im engeren Sinne des Wortes aber besteht darin, daß zu den beiden eben besprochenen, die Theorie zur Überzeugung festigenden Faktoren noch die allzugroße Zahl ihrer Anhänger kommt. Die Verbreitungs­möglichkeit, die heute einer solchen Lehre durch die sogenannten Massenmedien: Zeitung, Radio und Fernsehen, geboten ist, führt sehr leicht dazu, daß eine Lehre, die nicht mehr als eine unverifizierte wissenschaftliche Hypothese ist, nicht nur zur allgemeinen wissenschaftlichen, sondern überhaupt zur öffentlichen Meinung wird.

Von da an treten unglücklicherweise alle jene Mechanismen in Tätigkeit, die zum Festhalten erprobter Traditionen dienen und von denen im VI. Kapitel ausführlich die Rede war. Die Doktrin wird nun mit derselben Zähigkeit und derselben Affekt­betontheit verteidigt, die am Platze wäre, wenn es gälte, die wohlerprobten Weisheiten, das durch Selektion geklärte Wissen einer alten Kultur, vor der Vernichtung zu bewahren. Wer mit der Meinung nicht konform geht, wird als Ketzer gebrand­markt, verleumdet und nach Möglichkeit diskreditiert. Die höchst spezielle Reaktion des »Mobbing«, des sozialen Hasses, wird auf ihn entladen.

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Eine solche, zur allumfassenden Religion gewordene Doktrin gewährt ihren Anhängern die subjektive Befriedigung einer endgültigen Erkenntnis von Offenbarungs­charakter. Alle Tatsachen, die ihr widersprechen, werden geleugnet, ignoriert oder aber, was am häufigsten vorkommt, im Sinne Sigmund Freuds verdrängt, d.h. unter die Schwelle des Bewußtseins verbannt. 

Der Verdrängende setzt jedem Versuch, das Verdrängte wieder bewußt zu machen, einen erbitterten, aufs äußerste affektbesetzten Widerstand entgegen, der um so größer ist, je größer die Änderung wäre, die dies in seinen Anschauungen erheischen würde, vor allem in jenen, die er über sich selbst gebildet hat. 

»Wann immer Menschen mit widersprechenden Doktrinen aufeinandertrafen«, sagt Philip Wylie, »entstand stärkster Widerwille auf jeder Seite, jede war überzeugt, die andere sei in Irrtum befangen, heidnisch, ungläubig und barbarisch und bestehe überhaupt aus räuberischen Eindringlingen. Damit begann dann regelmäßig der heilige Krieg

All dies ist oft genug geschehen, wie Goethe sagt: »Zuletzt, bei allen Teufelsfesten wirkt der Parteihaß doch am besten bis in den allerletzten Graus.« Wirklich satanisch aber wirkt sich die Indoktrinierung erst dann aus, wenn sie ganz große Menschenmengen, ganze Kontinente, ja vielleicht sogar die ganze Menschheit in einem einzigen bösen Irrglauben vereinigt. Eben diese Gefahr aber droht uns jetzt. 

Als um das Ende des vorigen Jahrhunderts Wilhelm Wundt den ersten ernstlichen Versuch unternahm, die Psychologie zu einer Naturwissenschaft zu wandeln, orientierte sich die neue Forschungsrichtung merkwürdigerweise nicht nach der Biologie. Obwohl die Erkenntnisse Darwins damals schon allgemein bekannt waren, blieben vergleichende Methoden und stammesgeschichtliche Fragestellungen der neuen experimentellen Psychologie völlig fremd. Sie richtete sich nach dem Vorbild der Physik, in der zu jener Zeit die Atomtheorie gerade ihre Siege feierte.

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Sie nahm an, daß das Verhalten der Lebewesen wie alles Materielle aus selbständigen und unteilbaren Elementen zusammengesetzt sein müsse. Dabei führte das an sich richtige Bestreben, die kompen­satorischen Aspekte des Physiologischen und des Psychologischen bei der Untersuchung des Verhaltens gleichzeitig zu berücksichtigen, notwendigerweise dazu, den Reflex als wichtiges, ja als einziges Element aller, auch der komplexesten Nerven­vorgänge zu betrachten. Gleichzeitig ließen die Erkenntnisse I. P. Pawlows den Vorgang der Ausbildung bedingter Reflexe als einleuchtendes physiologisches Korrelat zu den von Wundt untersuchten Assoziations­vorgängen erscheinen. 

Es ist die Prärogative des Genies, den Geltungsbereich neugefundener Erklärungsprinzipien zu überschätzen, und so nimmt es kaum wunder, wenn diese wahrhaft epochemachenden und untereinander so überzeugend übereinstimmenden Entdeckungen nicht nur ihre Entdecker, sondern die gesamte wissenschaftliche Welt zu dem Glauben verführten, man könne auf der Basis des Reflexes und der bedingten Reaktion »alles« tierische und menschliche Verhalten erklären.

Die gewaltigen und durchaus anzuerkennenden Anfangserfolge, die von der Reflexlehre wie von der Untersuchung der bedingten Reaktion zu verzeichnen waren, die bestechende Einfachheit der Hypothese und die scheinbare Exaktheit der Versuche machten beide zu wahrhaft weltbeherr­schenden Forschungs­richtungen. Der große Einfluß aber, den beide auf die öffentliche Meinung gewannen, ist anders zu erklären. Wenn man ihre Theorien nämlich auf den Menschen anwendet, sind sie geeignet, alle jene Besorgnisse zu zerstreuen, die aus der Existenz des Instinktiven und des Unterbewußten im Menschen entspringen. Die orthodoxen Anhänger der Lehre behaupten klipp und klar, daß der Mensch als ein unbeschriebenes Blatt geboren werde und daß alles, was er denkt, fühlt, weiß und glaubt, das Resultat seiner »Konditionierung« (wie leider auch deutsche Psychologen sagen) sei.

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Aus Gründen, die Philip Wylie sehr klar erkannt hat, fand diese Meinung allgemeinen Anklang. Selbst religiöse Menschen konnten zu ihr bekehrt werden, denn wenn das Kind als »tabula rasa« geboren wird, kommt jedem Gläubigen die Pflicht zu, dafür zu sorgen, daß es – und wenn möglich alle anderen Kinder auch – in seiner eigenen, einzig wahren Glaubenslehre erzogen werde. So bestärkt das behavioristische Dogma jeden Doktrinär in seiner Überzeugung und tut nichts zur Versöhnung religiöser Doktrinen. Die liberalen und intellektuellen Amerikaner, auf die eine handfeste, einfache und leichtverständliche und vor allem mechanistische Lehre große Anziehungskraft ausübt, bekannten sich nahezu ausnahmslos zu dieser Doktrin, vor allem auch deshalb, weil sie es verstand, sich fälschlicherweise für ein freiheitliches und demokratisches Prinzip auszugeben.

Es ist eine unbezweifelbare ethische Wahrheit, daß alle Menschen das Recht auf gleiche Entwicklungs­möglich­keiten besitzen. Allzuleicht aber läßt sich diese Wahrheit in die Unwahrheit verdrehen, daß alle Menschen potentiell gleichwertig seien. Die behavioristische Doktrin geht noch einen Schritt weiter, indem sie behauptet, alle Menschen würden einander gleich werden, wenn sie sich unter gleichen äußeren Bedingungen entwickeln könnten, und zwar würden sie zu ganz idealen Menschen werden, wenn nur diese Bedingungen ideal wären. Daher können oder, besser gesagt: dürfen die Menschen keinerlei ererbte Eigen­schaften besitzen, vor allem aber keine solchen, die ihr soziales Verhalten und ihre sozialen Bedürfnisse bestimmen.

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Die Machthabenden Amerikas, Chinas und der Sowjetunion sind heute in dem einen Punkte durchaus gleicher Meinung, daß unbegrenzte Konditionierbarkeit des Menschen in höchstem Grade wünschenswert sei. Ihr Glaube an die pseudo­demokratische Doktrin ist – wie Wylie behauptet – von dem Wunsche getragen, daß sie wahr sei, denn diese Manipulanten sind keineswegs etwa satanisch kluge Übermenschen, sondern selbst allzu menschliche Opfer der eigenen unmenschlichen Doktrin.

Dieser aber ist alles spezifisch Menschliche unwillkommen, alle in dieser Abhandlung besprochenen Erscheinungen, die zum Verlust des Menschentums beitragen, sind im Interesse besserer Manipulierbarkeit der Massen außerordentlich erwünscht. »Fluch der Individualität!« ist die Parole. Dem kapitalistischen Großproduzenten wie dem sowjetischen Funktionär muß gleicherweise daran gelegen sein, die Menschen zu möglichst uniformen, ideal widerstandslosen Untertanen zu konditionieren, gar nicht viel anders als es Aldous Huxley in seinem so schauerlichen Zukunftsroman <The brave New World> dargestellt hat.

Der Irrglaube, daß man dem Menschen, richtige »Konditionierung« vorausgesetzt, schlechterdings alles zumuten, schlechterdings alles aus ihm machen kann, liegt den vielen Todsünden zugrunde, welche die zivilisierte Menschheit gegen die Natur, auch gegen die Natur des Menschen und gegen die Menschlichkeit begeht. Es muß eben übelste Auswirkungen haben, wenn eine weltum­fassende Ideologie samt der sich aus ihr ergebenden Politik auf einer Lüge begründet ist. Die pseudodemokratische Doktrin trägt auch unzweifelhaft einen erklecklichen Teil der Schuld an dem drohenden moralischen und kulturellen Zusammen­bruch der Vereinigten Staaten, der höchst wahrscheinlich die ganze westliche Welt mit in seinen Strudel reißen wird.

A. Mitscherlich, der sehr wohl die Gefahr erkennt, daß die Menschheit mit einem falschen, nur ihren Manipulanten willkommenen Wertkodex indoktriniert werde, sagt merkwürdigerweise: »Wir dürfen doch keineswegs annehmen, die Menschen seien in unserer Zeit mehr durch ein ausgeklügeltes System von Manipulationen an ihrer individuellen Realisierung gehindert als in früherer Zeit.«

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Ich bin völlig davon überzeugt, daß sie das sind! Noch nie waren so große Menschenmassen auf wenige ethnische Gruppen verteilt, noch nie war Massen­suggestion so wirksam, noch nie hatten die Manipulanten eine so gute, auf wissenschaftlichem Experimentieren aufgebaute Werbetechnik, noch nie verfügten sie über so eindringliche »Massenmedien« wie heute.

Entsprechend der grundsätzlichen Gleichheit der Zielsetzung sind auch auf der ganzen Welt die Methoden gleich, mittels deren die verschiedenen »Establishments« ihre Untertanen zu idealen Repräsentanten des American Way of Lire, idealen Funktionären und Sowjetmenschen oder sonstwas Idealem machen wollen. Wie sehr wir angeblich freien westlichen Kulturmenschen von den kommerziellen Beschlüssen der Großproduzenten manipuliert werden, ist uns gar nicht mehr bewußt. 

Wenn wir in die Deutsche Demokratische Republik oder in die Sowjetunion reisen, so fallen uns allenthalben die roten Spruch­bänder und Transparente auf, die eben durch ihre Allgegenwart eine suggestive Tiefenwirkung ausüben sollen, ganz wie Aldous Huxleys »babbling machines«, die leise, eindringlich und ununterbrochen die zu propagierenden Glaubenssätze murmeln. Angenehm dagegen empfinden wir die Abwesenheit von Lichtreklamen und von aller Verschwendung. Nichts, was noch brauchbar ist, wird weggeworfen, Zeitungs­papier wird zum Verpacken von Einkaufsgütern verwendet, und uralte Autos werden liebevoll gepflegt. Da wird einem ganz allmählich klar, daß die im großen betriebene Werbung der Produzenten keineswegs unpolitischer Natur ist, sondern – mutatis mutandis* – genau dieselbe Funktion erfüllt, die im Osten den Spruchbändern zufällt.

 

* OD: mit den notwendigen Abänderungen (bei angestellten Vergleichen); eigtl.: nach Änderung des zu Ändernden

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Man kann verschiedener Meinung darüber sein, ob alles das, wofür die roten Transparente werben, dumm und schlecht sei. Das Wegschmeißen kaum angebrauchter Güter zwecks Erwerbung neuer, das lawinenartige Anwachsen von Produktion und Verbrauch aber ist nachweislich und zweifellos ebenso dumm wie schlecht – im ethischen Sinne dieses Wortes. In dem Maße, in dem das Handwerk durch die Konkurrenz der Industrie ausgerottet wird und in dem der kleinere Unternehmer, einschließlich des Bauern, existenz­unfähig wird, sind wir alle ganz einfach gezwungen, uns in unserer Lebensführung den Wünschen der Großproduzenten zu fügen, die Nahrungsmittel zu fressen und die Kleidungsstücke anzuziehen, die sie für uns für gut befinden, und was das Aller­schlimmste ist, wir merken kraft der uns zuteil gewordenen Konditionierung gar nicht, daß sie dies tun.

Die am unwiderstehlichsten wirkende Methode, große Menschenmassen durch Gleichschaltung ihres Strebens manipulierbar zu machen, liefert die Mode. Ursprünglich entspringt sie wohl einfach dem allgemein menschlichen Bestreben, die eigene Zugehörigkeit zu einer kulturellen oder ethnischen Gruppe äußerlich sichtbar zu machen, man denke etwa an die verschiedenen Trachten, die infolge typischer Schein-Artenbildung besonders in Gebirgstälern wundervolle »Arten«, »Unterarten« und »Lokalformen« ausbildeten. Über ihre Beziehungen zur kollektiven Aggression zwischen Gruppen habe ich schon S. 71 gesprochen. Eine zweite, für unsere Betrachtung wesentlichere Wirkung der Mode trat wohl erst dort auf den Plan, wo sich innerhalb größerer, städtischer Gemeinschaften das Bestreben bemerkbar machte, die eigene Rangstellung, den »Stand«, in Merkmalen der Kleidung öffentlich kundzutun.

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In seinem Beitrag zum Symposion des Institute of Biology in London 1964 hat Laver sehr schön gezeigt, daß es die jeweils höheren Stände waren, die darauf achteten, daß sich die tieferen nur ja nicht Rangabzeichen anmaßten, die ihnen »standesgemäß« nicht zukamen. Es gibt kaum ein Gebiet der Kulturgeschichte, auf dem sich die zunehmende Demokratisierung der europäischen Länder so deutlich ausdrückt wie auf dem der Kleidermoden.

 

In ihrer ursprünglichen Funktion hat die Mode wahrscheinlich einen stabilisierenden, konservativen Einfluß auf die Kultur­entwicklung. Es waren die Patrizier und die Aristokraten, die ihre Gesetze vorschrieben. Wie Otto Koenig gezeigt hat, hielten sich in der Geschichte der Uniformen alte, noch aus der Ritterzeit herstammende Merkmale, die aus der Mannschafts­uniform längst verschwunden waren, noch sehr lange als Abzeichen hoher und höchster Offiziersränge. Diese Wertung des Althergebrachten in der Mode erlitt eine Umkehrung der Vorzeichen, sowie sich die schon (S. 75) besprochenen Erscheinungen der Neophilie fühlbar machten. Von nun ab wurde es bei den großen Massen der Menschen zum Abzeichen hohen Ranges, bei allen »modern« werdenden Neuerungen an der Spitze zu marschieren. Selbstverständlich lag es im Interesse des Großproduzenten, die öffentliche Meinung zu bestärken, es sei »fortschrittlich«, ja patriotisch, dies zu tun. 

Vor allem scheint es ihnen gelungen zu sein, die große Masse der Verbraucher davon zu überzeugen, daß der Besitz der allerneuesten Kleider, Möbel, Autos, Waschmaschinen, Geschirrspülmaschinen, Fernsehapparate usw. das untrüglichste (und auch die Kreditfähigkeit am wirksamsten steigernde) »Statussymbol« sei. Lächerlichste Kleinigkeiten können zu einem solchen gemacht und vom Produzenten finanziell ausgeschrotet werden, wie folgendes tragikomische Beispiel zeigt: Wie sich ältere Autokenner erinnern werden, hatten die Buickwagen früher an den Seiten der Motorhaube völlig funktionslose, bullaugen-ähnliche Öffnungen mit verchromtem Rahmen, und zwar hatte der Achtzylinder an jeder Seite 3, der billigere Sechszylinder aber nur 2 dieser Löcher.

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Als die Firma nun eines Tages dazu überging, auch dem Sechszylinder 3 Bullaugen zu verleihen, hatte diese Maßnahme den erwarteten Erfolg, den Verkauf dieser Type ganz erheblich zu steigern, was die Firma über unzählige Beschwerdebriefe tröstete, in denen sich Achtzylinderbesitzer bitter darüber beklagten, daß das nur ihren Wagen zustehende Statussymbol an rang-inferiore Autos verliehen worden war.

Die schlimmsten Auswirkungen aber hat die Mode auf dem Gebiete der Naturwissenschaften. Es wäre ein großer Irrtum, zu meinen, daß die berufsmäßigen Wissenschaftler frei von den Kulturkrankheiten seien, die der Gegenstand vorliegender Abhandlung sind. Nur die Vertreter der unmittelbar einschlägigen Wissenschaften, etwa die Ökologen und die Psychiater, bemerken überhaupt, daß etwas faul ist in der Spezies Homo sapiens L., und gerade sie besitzen in der Rangordnung, die von der heutigen öffentlichen Meinung den verschiedenen Wissenschaften zuerkannt wird, nur einen äußerst inferioren Status, wie George Gaylord Simpson in seinem satirischen Aufsatz über die »Peck order« der Wissenschaften jüngst so prächtig dargestellt hat.

Nicht nur die öffentliche Meinung über die Wissenschaft, sondern auch die Meinung innerhalb der Wissen­schaften neigt ganz zweifellos dazu, diejenigen für die wichtigsten zu halten, die es nur vom Standpunkt einer zur Masse degradierten, natur­entfremdeten, nur an kommerzielle Werte glaubenden, gefühlsarmen, verhaustierten und der kulturellen Tradition verlustigen Menschheit aus zu sein scheinen. Im großen Durchschnitt betrachtet, ist auch die öffentliche Meinung der Natur­wissenschaften von sämtlichen Verfalls­erscheinungen angekränkelt, die in den vorangehenden Kapiteln besprochen wurden.

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»Big Science« ist keineswegs etwa die Wissenschaft von den größten und höchsten Dingen auf unserem Planeten, ist keineswegs die Wissenschaft von der menschlichen Seele und dem menschlichen Geiste, sondern vielmehr ausschließlich das, was viel Geld oder große Energiemengen einbringt oder aber große Macht verleiht, und sei es auch nur die Macht, alles wahrhaft Große und Schöne zu vernichten.

Der Primat, der unter den Naturwissenschaften der Physik tatsächlich zusteht, soll keineswegs geleugnet werden. In dem wider­spruchsfreien Schachtelsystem der Naturwissenschaften bildet die Physik die Basis. Jede gelungene Analyse auf jeder, auch der höchsten Integrationsebene natürlicher Systeme ist ein Schritt »nach unten«, zur Physik hin. Analyse heißt zu deutsch Auflösung, und was durch sie aufgelöst und aus der Welt geschafft wird, das sind nicht etwa die Eigengesetzlichkeiten der spezielleren Naturwissenschaft, sondern ausschließlich ihre Grenzen gegen die nächst-allgemeinere.

Eine wirkliche Grenz­auflösung dieser Art ist bisher nur einmal gelungen: Die physikalische Chemie konnte tatsächlich die Naturgesetze ihres Forschungsgebietes auf allgemeinere physikalische zurückführen. In der Biochemie bahnt sich eine analoge Auflösung der Grenzen zwischen Biologie und Chemie an. Wenn auch derartige spektakuläre Erfolge in den übrigen Naturwissenschaften kaum zu verzeichnen sind, so ist doch das Prinzip der analytischen Forschung überall das gleiche: Man versucht, die Erscheinungen und Gesetzlichkeiten eines Wissensgebietes, einer »Schichte des realen Seins«, wie Nicolai Hartmann sagen würde, auf diejenigen zurückzuführen, die im nächst-allgemeineren Gebiet obwalten, und aus der spezielleren Struktur zu erklären, die der höheren Seins-Schichte allein zu eigen ist.

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Wir Biologen halten zwar die Erforschung dieser Strukturen und ihrer Historie für genügend wichtig und auch für genügend schwierig, um die Biologie nicht wie Crick als einen ziemlich einfachen Nebenzweig der Physik (a rather simple extension of physics) zu halten, und wir betonen auch, daß die Physik ihrerseits auch auf einer Grundlage ruht und daß diese Grundlage eine biologische Wissenschaft, nämlich die Wissenschaft vom lebendigen menschlichen Geiste ist. Aber wir sind doch im oben dargestellten Sinne gute »Physikalisten« und erkennen die Physik als die Basis an, auf die unsere Forschung hinstrebt.

Ich behaupte jedoch, daß es nicht die berechtigte Hochschätzung der Physik als Grundlage aller Natur­wissen­schaften ist, die ihr die öffentliche Anerkennung als »größte« aller Wissenschaften eingetragen hat, sondern vielmehr die vorher erwähnten, durchaus üblen Gründe. Die merkwürdige Beurteilung der Wissenschaften durch die heutige öffentliche Meinung, die – wie Simpson völlig zu Recht behauptet – von jeder einzelnen Wissenschaft um so weniger hält, je höher, komplexer und wertvoller ihr Forschungs­gegenstand ist, läßt sich nur aus diesen Gründen – und einigen weiteren, nun zu besprechenden – erklären.

Es ist für Naturwissenschaftler völlig legitim, das Forschungsobjekt auf einer beliebigen Schicht des realen Seins, auf einer beliebig hohen Integrationsebene des Lebensgeschehens zu wählen. Auch die Wissenschaft vom menschlichen Geiste, vor allem die Erkenntnistheorie, beginnt zu einer biologischen Naturwissenschaft zu werden. Die sogenannte Exaktheit der Naturforschung hat mit der Komplikation und der Integrations­ebene ihres Gegenstandes nicht das geringste zu tun und hängt ausschließlich von der Selbstkritik des Forschers und der Reinlichkeit seiner Methoden ab.

Die gebräuchliche Bezeichnung von Physik und Chemie als »exakte Naturwissenschaften« ist eine Verleumdung aller anderen. Bekannte Aussprüche, wie etwa der, daß jede Naturforschung so weit Wissenschaft sei, als sie Mathematik enthalte, oder daß Wissenschaft darin bestehe, »zu messen, was meßbar ist, und meßbar zu machen, was nicht meßbar ist«, sind erkenntnis-theoretisch wie menschlich der größte Unsinn, der je von den Lippen derer kam, die es besser hätten wissen können.

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Obwohl nun diese Pseudo-Weisheiten nachweisbar falsch sind, beherrschen ihre Auswirkungen auch heute noch das Bild der Wissenschaft. Es ist jetzt Mode, sich möglichst physikähnlicher Methoden zu bedienen, und zwar gleichgültig, ob diese für die Erforschung des betreffenden Objektes Erfolg versprechen oder nicht. Jede Naturwissenschaft, auch die Physik, beginnt mit der Beschreibung, schreitet von da zur Einordnung der beschriebenen Erscheinungen und von da erst zur Abstraktion der in ihnen obwaltenden Gesetzlichkeiten vor.

Das Experiment dient zur Verifizierung der abstrahierten Naturgesetze und kommt somit in der Reihe der Methoden als letzte. Diese schon von Windelband als die deskriptiven, die systematischen und die nomothetischen bezeichneten Stadien müssen von jeder Naturwissenschaft durchlaufen werden. Weil nun die Physik schon lange beim nomothetischen und experimentellen Stadium ihrer Entwicklung hält und weil sie außerdem so weit ins Un-Anschauliche vorgedrungen ist, daß sie ihre Objekte im wesentlichen nach den Operationen definieren muß, durch die sie von ihnen Kenntnis erhält, glauben manche Leute, diese Methoden auch auf solche Forschungsgegenstände anwenden zu müssen, denen gegenüber zunächst und auf dem gegenwärtigen Stande des Wissens einzig und allein die schlichte Beobachtung und Beschreibung am Platze wären.

Je komplexer und höher integriert ein organisches System ist, desto strenger muß die Windelbandsche Reihen­folge der Methoden eingehalten werden, und deshalb treibt gerade auf dem Gebiet der Verhaltens­forschung der moderne, verfrüht experimentelle Operationalismus seine absurden Blüten. Unterstützt wird diese Fehlhaltung begreiflicherweise durch den Glauben an die pseudo-demokratische Doktrin, die besagt, daß das Verhalten von Tier und Mensch durch keinerlei stammesgeschichtlich entstandene Strukturen des Zentralnervensystems, sondern ausschließlich durch Umgebungseinflüsse und Lernen bestimmt sei.

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Der grundsätzliche Irrtum der von der behavioristischen Doktrin diktierten Denk- und Arbeitsweise liegt in eben dieser Vernachlässigung der Strukturen: Ihre Beschreibung wird für schlechthin überflüssig erachtet, allein operationistische und statistische Methoden gelten als legitim. Da alle biologischen Gesetzlichkeiten sich aus der Funktion von Strukturen ergeben, ist es ein vergebliches Bemühen, ohne deskriptive Erforschung der Struktur der Lebewesen zur Abstraktion der Gesetzlichkeiten zu gelangen, von denen ihr Verhalten beherrscht wird.

So leicht diese elementaren Grundregeln der Wissenschaftslehre einzusehen sind (die eigentlich jedem Abiturienten klar sein müßten, ehe er das Universitätsstudium beginnt), so hartnäckig und unbelehrbar setzt sich die Mode des Nachäffens der Physik in nahezu aller modernen Biologie durch. Dies wirkt sich um so schädlicher aus, je komplexer das untersuchte System ist und je weniger man von ihm weiß. Das neurosensorische System, das bei höheren Tieren und beim Menschen das Verhalten bestimmt, darf den Anspruch erheben, in beiden Hinsichten an erster Stelle zu stehen. Die modische Neigung, die Forschung auf niedrigeren Integrationsebenen für die »wissenschaftlichere« zu halten, führt dann allzuleicht zum Atomismus, d.h. zu Teiluntersuchungen untergeordneter Systeme ohne die obligate Berücksichtigung der Art und Weise, in der diese dem Aufbau der Ganzheit eingefügt sind.

Der methodische Fehler liegt also nicht etwa in dem allen Naturforschern gemeinsamen Bestreben, selbst die Lebens­erscheinungen höchster Integrationsebene auf basale Naturgesetze zurückzuführen und aus ihnen zu erklären – in diesem Sinne sind wir alle »Reduktionisten« –, der methodische Fehler, den wir als Reduktionismus bezeichnen, liegt darin, bei diesem Erklärungsversuche die unermeßlich komplexe Struktur außer acht zu lassen, in der sich die Untersysteme zusammenfügen und aus der allein die Systemeigenschaften des Ganzen verständlich gemacht werden können.

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Wer sich über die Methodologie der system­gerechten Naturforschung näher informieren will, der lese Nicolai Hartmanns <Aufbau der realen Welt> oder Paul Weiss' <Reductionism stratified>. In beiden Werken steht im wesentlichen dasselbe; daß es von sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet wird, läßt das Dargestellte besonders plastisch erscheinen.

 

Ihre bösesten Wirkungen erreicht die heutige wissenschaftliche Mode erst dadurch, daß sie, genau wie Kleider- oder Automoden, Statussymbole schafft, denn erst dadurch entsteht die von Simpson verspottete Rangordnung der Wissenschaften. Der richtige moderne Operationalist, Reduktionist, Quantifikator und Statistiker blickt mit mitleidiger Verachtung auf jeden der Altmodischen, die glauben, man könne durch Beobachtung und Beschreibung tierischen und menschlichen Verhaltens, ohne Experimente und selbst ohne zu zählen, neue und wesentliche Einblicke in die Natur tun.

Die Beschäftigung mit hoch integrierten lebenden Systemen wird nur dann als »wissenschaftlich« anerkannt, wenn von den strukturgebundenen Systemeigenschaften durch absichtliche Maßnahmen – »simplicity filters«, wie Donald Griffin sie treffend nannte – der trügerische Schein »exakter«, d.h. äußerlich physikähnlicher Einfachheit erweckt wird, oder aber, wenn die statistische Auswertung eines zahlenmäßig imponierenden Datenmaterials die Tatsache vergessen läßt, daß die untersuchten »Elementarteilchen« Menschen und nicht Neutronen sind, kurz gesagt nur dann, wenn alles aus der Betrachtung fortgelassen wird, was hoch integrierte organische Systeme, einschließlich des Menschen, wirklich interessant macht. Vor allem gilt dies für das subjektive Erleben, das wie etwas höchst Unanständiges im Freudschen Sinne verdrängt wird.

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Wenn jemand das eigene subjektive Erleben zum Gegenstand der Untersuchung macht, fällt er als subjektivistisch der größten Verachtung anheim, erst recht, wenn er es wagt, die Isomorphie psychologischer und physiologischer Vorgänge als Wissensquelle zum Verständnis der letzteren auszuschöpfen. Die Doktrinäre der pseudodemokratischen Doktrin haben die »Psychologie ohne Seele« offen auf ihr Banner geschrieben, wobei sie völlig vergessen, daß sie selbst ja bei ihren »objektivsten« Forschungen nur auf dem Wege ihres eigenen subjektiven Erlebens von den zu erforschenden Objekten Kenntnis haben. 

Wer nun gar die Behauptung aufstellt, daß auch die Wissenschaft vom menschlichen Geiste als Naturwissenschaft betrieben werden kann, wird schlechthin als Irrer betrachtet.

Alle diese Fehleinstellungen heutiger Wissenschaftler sind grundsätzlich unwissenschaftlich. Nur der ideologische Druck des Consensus sehr großer, fest indoktrinierter Menschenmassen vermag sie zu erklären, jener Druck, der auch in anderen Gebieten des menschlichen Lebens häufig ganz unglaubliche Modetorheiten hervorzubringen imstande ist.

Die besondere Gefährlichkeit der modischen Indoktrinierung auf dem Gebiete der Wissenschaft liegt nun darin, daß sie den Wissensdrang allzu vieler, wenn auch zum Glück nicht aller modernen Naturforscher in eine Richtung lenkt, die derjenigen gerade entgegengesetzt ist, die zum eigentlichen Ziele alles menschlichen Erkenntnisstrebens hinführt, nämlich zur besseren Selbsterkenntnis des Menschen.

Die von der heutigen Mode den Wissenschaften vorgeschriebene Tendenz ist unmenschlich im bösesten Sinne dieses Wortes. So manche Denker, die mit klarem Auge die überall wie maligne Tumoren vordringend­en Erscheinungen der Entmenschlichung sehen, neigen zu der Meinung, daß das wissenschaft­liche Denken als solches inhuman sei und die Gefahr der »Dehumanisierung« heraufbeschworen habe.

Wie aus dem schon Gesagten hervorgeht, bin ich nicht dieser Ansicht. Ich glaube ganz im Gegenteil, daß die heutigen Wissenschaftler als Kinder ihrer Zeit von Dehumanisations­erscheinungen befallen sind, die primär in der nicht-wissenschaftlichen Kultur allüberall auftreten. Es bestehen nicht nur deutliche und bis in Einzelheiten gehende Entsprechungen zwischen diesen allgemeinen und den speziell die Wissenschaft betreffenden Kultur­krankheiten, sondern die ersteren erweisen sich bei näherer Betrachtung eindeutig als Ursache und nicht als Folge der letzteren.

Die gefährliche modische Indoktrinierbarkeit der Wissenschaft, die der Menschheit die letzte Stütze zu rauben droht, hätte nie zustande kommen können, wenn nicht die in den ersten vier Kapiteln besprochenen Kulturkrankheiten ihr den Weg gebahnt hätten. Die Übervölkerung mit ihrer unvermeidlichen Entindividualisierung und Uniformierung, die Naturentfremdung mit dem Verlust der Fähigkeit zur Ehrfurcht, der kommerzielle Wettlauf der Menschheit mit sich selbst, der in utilitaristischer Denkungsart das Mittel zum Selbstzweck macht und das ursprüngliche Ziel vergessen läßt, und nicht zuletzt die allgemeine Verflachung des Gefühls, sie alle finden in den die Wissenschaften betreffenden Dehumanisations­erscheinungen ihren Nieder­schlag, sie sind deren Ursachen und nicht deren Folge.

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