6. Die Frage nach nicht-teleonom programmierten Wertempfindungen Lorenz-1983
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Gibt es an sich Schönes?
Bei allen bisher besprochenen Wertempfindungen des Menschen ist die Vermutung berechtigt, daß sie eine für das Individuum vorteilhafte Leistung fördern, und damit auch, daß ihr Programm durch die Selektion dieser Leistungen auf typischem Wege evoluiert ist.
Es gibt aber Schönes, bei dem man an einer solchen Genese zweifeln muß, ja, bei dem die Erklärung durch Selektion stark gekünstelt erscheint. Hier muß an vieles erinnert werden, was im 3. Kapitel über schöpferische Evolution und über den Homo ludens, den schöpferischen Menschen, gesagt wurde. Der Mensch ist zweifellos imstande, nie dagewesene Harmonien zu schaffen, gleichzeitig auch dazu, sie wahrzunehmen. Auch die Wahrnehmung ist, wie schon Karl Bühler betont hat, eine Aktivität des Menschen. In der menschlichen Kunst gibt es ohne Zweifel Schönes, dessen Existenz nicht im definierten Sinne teleonom ist.
Viel schwerer zu beantworten ist die Frage, warum es selbst auf den niedrigeren Ebenen pflanzlichen und tierischen Lebens soviel für uns Schönes gibt, das offensichtlich keinen Arterhaltungswert zu haben scheint. Viele Schmetterlinge haben eine wunderschöne farbige Zeichnung mit unzähligen Einzelheiten, die ganz sicher weder vom Artgenossen gesehen wird noch Feinde abschrecken kann.
Die Zeichnungen der Federn von Fasanenhennen und anderen schutzfarbigen Vögeln sind, aus der Nähe betrachtet, sehr farbenprächtig und regelmäßig, wiewohl der Selektionsdruck, der sie hervorbrachte, darauf gerichtet war, sie der unregelmäßig chaotischen Färbung des Hintergrundes möglichst ähnlich zu machen. Sind sie so schön und regelmäßig, wie es der Selektionsdruck erlaubt? Wo der Selektionsdruck bunte Farben und Formen begünstigt, die durch ihre Regelhaftigkeit noch auffallender gemacht werden, will es scheinen, als ob sich die Organismen in tollen Kunstwerken »ausleben« würden.
Schönheit und teleonome Zweckmäßigkeit sind also keine Widersprüche, aber gerade weil es in der organischen Natur aus der Sicht des Menschen echte Schönheit gibt, die keinerlei Teleonomie zu besitzen scheint, ist es wesentlich, ihre Existenz zur Kenntnis zu nehmen. Wenn man jedoch wie Adolf Portmann die märchenhafte Buntheit von Hinterkiemenschnecken als »Selbstdarstellung« der Organismen erklärt, verschleiert man die Tatsache, daß diese mit Kleptokniden ausgestatteten Wesen aus ihrer Farbenpracht Gewinn ziehen: Jeder Freßfeind, der je zu seinem Schaden versuchte, sie ins Maul zu nehmen, behält ihre prägnanten Farben unweigerlich im Gedächtnis.
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Das Problem des nicht zweckgebundenen Schönen wird mir täglich durch ein anderes Phänomen nahegebracht: durch das Lied eines Vogels.
E. Tretzel (1965] berichtet über eine Leistung, die zu tiefstem Nachdenken Anlaß gibt. Eine Haubenlerche [Galerida cristata L.) ahmte die Pfiffe eines Schäfers nach, der damit seinem Hund Befehle erteilte. Die Pfiffe des Schäfers fielen so verschieden aus, daß sie, im Sonagramm übereinander gezeichnet, wegen ihrer »Entgleisungen« und abweichenden Intonationen ein völlig verwirrendes Bild ergaben. Die Lerche vollbrachte nun folgende Leistung: Sie transponierte die Pfiffe in eine ihr leichterfallende, höhere Tonlage und »abstrahierte« aus den stark variierenden und in den Intervallen oft stark unharmonischen Pfiffen des Schäfers jene Form, die, wie Tretzel sagt, »unserem musikalischen Empfinden am nächsten kommt. Fast möchte man sagen, sie hat die >Idee<, die Idealgestalt dieses Motives erfaßt und pfiff es so, wie der Schäfer es wohl gedacht hat, aber nur selten zustande bringt. Die Lerche trug alle Schäferpfiffe außerdem viel reiner und musikalischer vor, schlanker im Ton und eleganter in der Tonfolge. Sie hat die Pfiffe gleichsam musikalisch veredelt.«
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Seit mehr als einem Vierteljahrhundert teile ich mein Zimmer mit Schamas, einer Vogelart, die nach Aussage meines Lehrers Oskar Heinroth und nach meiner eigenen Erfahrung unter allen Singvögeln der größte »Künstler« ist. Die Schama [Copsychus malabaricus) wird meist fälschlich als Schamadrossel bezeichnet. Johannes Kneutgen hat über den Gesang dieses Vogels und seine Analogie zur menschlichen Kunst gearbeitet. Es ist eine erstaunliche Tatsache, daß dieser Vogel die komplexesten und schönsten Harmonien hervorbringt, wenn er spielt. Der Gesang aller Sperlingsvögel hat eine gewisse Verwandtschaft zum Spiel, und zwar um so mehr, je besser die betreffende Art zur Nachahmung befähigt ist. Der in Ruhe dasitzende, in lockerer Gefiederhaltung beinahe schläfrig wirkende Vogel »spielt« mit immer neuen Kombinationen gekonnter Laute. Auch diese einzelnen, schon für sich genommen schönen Töne sind von Lernvorgängen abhängig. M. Konishi hat nachgewiesen, daß viele Singvögel überhaupt keine reinen Töne zustande bringen, wenn sie in früher Jugend taub gemacht werden und sich selbst nicht hören können.
So wie das menschliche Kunstschaffen entscheidende Wertverluste erleidet, wenn es irgendwelchen Zwecken dienstbar gemacht wird, so verliert auch der Gesang der Schama ganz gewaltig an Schönheit, wenn der Vogel bei der Revierverteidigung oder Balz in hohe Erregung gerät, wenn also der Gesang in zweckgerichtetes Verhalten eingebaut und diesem dienstbar gemacht wird.
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Dann wiederholt er die lautesten und keineswegs die schönsten Strophen in einförmiger Folge. Das lernende Spielen mit Neukombinationen von Motiven nennen die Vogelliebhaber mit bemerkenswerter Einsicht »Dichten«. Joachim Ringelnatz aber besingt den Gesang der Nachtigall mit den Worten »Nur Eins schuf mir Verlegenheit, daß sie dasselbe Schluchzen sang, das schon in der Vergangenheit den Dichtern in die Verse drang. Doch hatten alle Jene recht, die sie besangen, gut und schlecht.« Ich gestehe, daß ich mich in derselben Verlegenheit befinde.
Die Empfindung für Harmonien ^^^^
Die Empfindung für Harmonien ist ganz sicher eine Leistung jener Organisation unserer Sinnesorgane und Gehirnstrukturen, die wir als Gestaltwahrnehmung kennen. Diese nicht rationale, sondern im Sinne von Egon Brunswik ratiomorphe Funktion ist eine der wichtigsten Erkenntnisweisen des Menschen. Obwohl ihre Mechanismen der Selbstbeobachtung nicht zugänglich sind, wissen wir durch die Arbeiten von Karl Bühler und Egon Brunswik genug über diese Vorgänge, um an ihrer natürlichen Verursachung nicht zu zweifeln. Weil sie der Selbstbeobachtung nicht zugänglich ist, erscheint die Gestaltwahrnehmung vielen Denkern als eine Eingebung von außen.
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Für Goethe ist sie Offenbarung, für viele andere »Intuition«. Dennoch gleicht das Funktionieren der Gestaltwahrnehmung in außerordentlich vielen Punkten dem eines Rechenapparates. Wenn es ein Gebiet der Physiologie oder Psychologie gibt, auf dem der Rechenapparat mehr als ein bloßes Gleichnis ist, dann ist es das der Gestaltwahrnehmung.
Ihre Aufgabe ist es, Beziehungen aufzufinden, die zwischen Sinnesdaten oder auch zwischen höheren Einheiten der Wahrnehmung bestehen. Diese Leistung ist an sich ein kleiner schöpferischer Akt. Die Integration von zwei bereits existenten und für sich allein funktionsfähigen Systemen in ein übergeordnetes System schafft eine neue Einheit, der Systemeigenschaften zukommen, die vor der Integration schlechterdings nicht existierten. In meinem Buch »Die Rückseite des Spiegels« habe ich für diesen Vorgang, der für wesentliche Evolutionsschritte charakteristisch ist, den Ausdruck »Fulguration« geprägt.
Wahrnehmung ist eine Aktivität, und die Zusammenschau zweier Einheiten, zwischen denen man bis dahin keine Beziehungen wahrgenommen hatte, entspricht auf Seiten unserer menschlichen Erkenntnis sehr genau einem analogen Vorgang, der sich in der außersubjektiven Schöpfung abspielt. Der Ausdruck »Fulguration« paßt zum Vorgang des Erkenntnisfortschrittes fast noch besser als für den Evolutionsschritt. Wir sprechen von einem »Gedankenblitz«, oder wir sagen: »Mir ist ein Licht aufgegangen«, wenn es uns gelungen ist, zwei bereits unabhängig von-
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einander existente Gedankengänge zueinander in Beziehung zu bringen, und nun plötzlich einem neuen Gedankensystem gegenüberstehen, das überraschende, vorher nicht dagewesene Erkenntnisleistungen ermöglicht.
Einerseits steht die Gestaltwahrnehmung also an der vordersten Front der menschlichen Erkenntnis, sie ist die Speerspitze, die der menschliche Geist ins Unbekannte vorstößt. Gleichzeitig ist sie Hüter des schon Erkannten, ein Speicher geduldig gesammelten Tatsachenmaterials, dessen Inhalt um ein Vielfaches größer ist als jener, den unser Gedächtnis zu speichern vermag.
Auf dieser Fähigkeit beruht auch das menschliche Empfinden für Harmonien, deren Komplikation so groß ist, daß es den Umfang dessen, was wir verstandesmäßig zu überblicken vermögen, um ein Vielfaches übertrifft. Kein Wunder, daß die Ergebnisse der Gestaltwahrnehmung dem Menschen wie eine Offenbarung vorkommen; verstandesmäßig hätte er sie tatsächlich nie erreicht.
Die Gestaltwahrnehmung ist jedoch kein Wunder; ihre durchaus irdische, mechanische Natur zeigt sich in ihrem Bedarf an Datenmaterial. Wenn dieses ungenügend ist oder im Experiment absichtlich verfälscht wird, trifft sie haushoch daneben. Das Sammeln von Daten ist grundsätzlich ein Lernvorgang; wie unentbehrlich dieser ist, läßt sich an der Wahrnehmung jener komplexen Harmonien nachweisen, die uns die Kunstwerke der Musik zugänglich machen.
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Unsere klassische europäische Musik ist bekanntlich den Gesetzlichkeiten des Wohltemperierten Klaviers angepaßt, die ganz bestimmte Abweichungen von den strengen mathematischen Beziehungen zwischen Schwingungszahlen tolerieren. Wie viele komplexe Gestalten bedarf auch die Wahrnehmung der musikalischen Gesetzlichkeiten des Lernens.
Es müssen Sinnesdaten, in denen die wahrzunehmenden Gesetzlichkeiten obwalten, wiederholt geboten werden, bis unser Wahrnehmungsapparat fähig ist, die fragliche Gesetzlichkeit zu erfassen.
Wir alle haben seit frühester Kindheit diese Art von Harmonien gelernt, und deshalb erscheinen uns diese selbstverständlich und eindeutig.
Die orientalische Musik, die auch in Nordafrika gespielt wird, kennt nur ganze Töne und ist, was die mathematischen Beziehungen ihrer Schwingungszahlen anlangt, weit strenger gesetzmäßig als die europäische. Dennoch sind wir Europäer, wenn wir in der Türkei oder in Nordafrika Musik hören, zunächst völlig außerstande, ihre harmonische Gesetzmäßigkeit herauszuhören; sie ist für uns chaotisch und wenig melodisch. Natürlich kann jeder Europäer die Fähigkeit zur gestaltenden Wahrnehmung orientalischer Musik durch wiederholtes Hören erlangen. Nach »Einspeisung« eines ausreichenden Datenmaterials löst sich die Gestalt, wie sie es auch sonst zu tun pflegt, vom Hintergrund des vorher nur Chaotisch-Akzidentiellen.
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Daß es dem Orientalen mit unserer europäischen Musik nicht anders geht, beweist ein Geschichtchen, das ich schon in meiner Kindheit zu hören bekam. Der damalige König von Siam war bei Kaiser Franz Joseph zu Gast und wurde als besondere Ehre in die Hofoper zu einer Wagneroper geführt. Als man den Monarchen anschließend befragte, was ihm am besten gefallen hätte, antwortete er, dies sei das Stück ganz zu Anfang gewesen. Es stellte sich heraus, daß er damit nicht die Ouvertüre meinte, sondern das vorhergehende Stimmen der Instrumente.
Es gibt Harmonien ganz verschiedener Art; unsere Gestaltwahrnehmung ist imstande, höchst komplizierte »polyphone« Wechselwirkungen als Harmonien wahrzunehmen und auf geringe Störungen ähnlich empfindsam zu reagieren wie der Dirigent auf den kleinsten Mißton unter den vielen Stimmen seines Orchesters. Ein naturverbundener Mensch, dem aus eigener Anschauung eine größere Zahl verschiedener gesunder Landschaften vertraut ist, bildet sich unfehlbar ein unreflektiertes, aber wichtiges Werturteil: Er findet nämlich jene Landschaften schön, die sich in einem ausgewogenen ökologischen Gleichgewicht befinden, also für eine längere Zukunft lebensfähig sind. Daß nur Landschaften, die vom Menschen unberührt sind, schön sein können, ist ein Irrtum mancher romantischer Naturschützer. Richtig ist, daß an der Störung der ökologischen Harmonie meistens der Mensch die Schuld trägt. Auch Landschaften, in denen der Mensch lebt, können schön sein,
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wofern in ihnen eine einigermaßen ökologische Lebensgemeinschaft aufrechterhalten ist. Selbst solche, deren Charakter fast völlig von menschlicher Tätigkeit geprägt ist, können schön sein, wie etwa das Rheintal mit seinem Weinbau oder die wogenden Getreidefelder des Tullnerfeldes. Als häßlich empfinden wir hingegen riesige Monokulturen, wo eine Pflanzenart das ganze Land bis zum Horizont bedeckt.
Die relative »Höhe« von Harmonien
Schönheit läßt sich nicht quantifizieren, dennoch empfinden wir Wertunterschiede zwischen höheren und niedrigeren Harmonien. Die Organisation eines Pilzes stellt, für sich gesehen, ein wundervolles harmonisches Ganzes dar, wenn wir aber einen Rosenstock vom Pilz befallen sehen, so zögern wir nicht, zugunsten der höheren Harmonie der Rose einzugreifen. Ein Wimpertierchen mit Groß- und Kleinkern, Silberliniensystem und in wohlgeordnetem Takt schlagenden Wimpern erregt unsere Bewunderung. Sobald wir jedoch ein von dem parasitischen Wimpertierchen Ichthyophtirius befallenen Fisch sehen, empfinden wir die Störung in der Harmonie des Wirtes und kein Mitleid mit dem Parasiten, wenn wir zum heilenden Medikament greifen.
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Die Wahrnehmung pathologischer Störungen
Eine der wichtigsten Leistungen der Gestaltwahrnehmung besteht darin, daß sie uns befähigt, Gesundes von Krankem zu unterscheiden. Ein einigermaßen mit Gestaltwahmehmung begabter Beobachter, der mit einer bestimmten Art von Lebewesen genugsam vertraut ist, sieht ganz einfach, wann mit diesem Organismus etwas nicht in Ordnung ist. Die moderne Medizin, vor allem die moderne medizinische Erziehung, pflegt im allgemeinen die Leistungen der Gestaltwahmehmung gewaltig zu unterschätzen. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß der »klinische Blick« durch eine wenn auch noch so große Zahl von quantifizierenden Daten und deren elektronischer Auswertung völlig ersetzt werden könne, so unentbehrlich diese heute zu seiner Ergänzung geworden sind. Ich rede gar nicht von der persönlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient, die ich für unerläßlich halte, sondern im speziellen davon, daß der Arzt im Massenbetrieb der großen Klinik den einzelnen Patienten nicht genau genug kennenlernen kann. Der Hausarzt alter Prägung, der jeden seiner Patienten als Einzelwesen und in allen seinen individuellen Eigenschaften kennt, hat es unvergleichlich leichter, schon kleinste Krankheitserscheinungen festzustellen.
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Die wirklich apriorische Wertempfindung
Bei allen bisher besprochenen Wertempfindungen, mit denen unsere Gestaltwahrnehmung uns auf Harmonien ansprechen läßt, ist es nicht ganz auszuschließen, daß ihr Programm phylogenetisch entstanden ist: unter dem Selektionsdruck einer Leistung. Es könnte der Sinn für Harmonien sein, der die Hausfrau veranlaßt, alle Verfallserscheinungen in Haus und Hof zu bekämpfen; es könnte sich teleonom auswirken, wenn der Bauer an seinen Haustieren und Nutzpflanzen leichteste Störungen der Gesundheit wahrnimmt und vorbeugende Maßnahmen treffen kann. Diese allgemeine Fähigkeit könnte auch unsere Wertung des nichtteleonomen Schönen erklären.
Ich glaube aber, daß es Wertempfindungen gibt, die im strengsten Sinne apriorisch sind - nicht wie die apriorischen Denk- und Anschauungsformen Immanuel Kants, von denen wir mit ziemlicher Sicherheit annehmen können, daß sie im Laufe der Stammesgeschichte und in Auseinandersetzung mit außersubjektiven Gegebenheiten evoluiert sind. Spekulationen über Fragen, die wir nicht beantworten können, sind erlaubt, und die evolutionäre Erkenntnistheorie bestätigt uns dieses Menschenrecht ausdrücklich. Wir wissen, wie schon gesagt, daß es unzählige durchaus natürliche Dinge und Vorgänge gibt, die sich der Abbildung durch unseren »Weltbildapparat« entziehen und immer entziehen werden, weil sie für seine Fähigkeit der Wiedergabe zu komplex sind.
Wir empfinden die Unvoraussagbarkeit des organischen Geschehens als Freiheit, wir empfinden die Schöpfung als Wert, weil wir selbst schöpferisch sind. In unserem begrifflichen Denken sind Vorgänge am Werke, die denen der Evolution zumindest weitgehend analog, wahrscheinlich aber nur ein spezieller Fall von ihnen sind.
Im Geiste des Menschen gibt es gedankliche Einheiten, Ideen, Traditionen, Hypothesen, Dogmen usw., deren jede in sich genügende Geschlossenheit und Einheitlichkeit besitzt, um mit einer anderen in Wechselwirkung zu treten - nicht viel anders, als dies die verschiedenen Arten der Lebewesen im Verlauf der Evolution getan haben.
Wie Karl Popper gesagt hat, können solche Einheiten miteinander in Wettbewerb treten, so daß die Selektion auf dem Gebiet der Erkenntnis eine ebensowichtige Rolle spielt wie in der Evolution der Lebewesen.
Vor etwa 40 Jahren habe ich geschrieben: »Ich glaube, daß eine Struktur, die dem Lebendigen seinem innersten und eigentlichen Wesen nach anhängt, im Menschen zu einer Wertung von Werten führt,... die im verwegensten Sinne des Wortes >apriorisch< und >denknotwendig< sind, und zwar nicht nur für den Menschen, sondern auch für alle denkbaren übermenschlichen Lebewesen, wofern ihnen mit uns nur jene Art von Leben gemein ist, die wir mit den Einzellern gemein haben.«
Diese Sätze halte ich auch heute noch für richtig. Zur Zeit sind diese, in unseren Wertempfindungen sich abspielenden Schöpfungsvorgänge die einzigen, die auf unserem Planeten noch eine wesentliche Rolle spielen.
Es ist unsere Pflicht, ihnen Wirklichkeit zuzuerkennen und den im wahrsten Sinne kategorischen Befehlen zu folgen, die sie an uns richten.
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