12. Berechtigung zum Optimismus
Nachwort
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Wie schon eingangs gesagt wurde, ist es die Gesamtaufgabe dieses Buches, den Abbau des Menschlichen als einen Komplex von Krankheitserscheinungen aufzufassen und nach Ursachen und Gegenmaßnahmen zu suchen. Als berufsbewußte Ärzte sind wir moralisch verpflichtet, so zu handeln, als ob wir Optimisten wären. Zu diesem Optimismus haben wir indessen auch einige Berechtigung. Zwar ist die Menschheit in höchster Gefahr, mit Hilfe ihrer atomaren, biologischen oder chemischen Waffen Selbstmord zu begehen, zwar ist sie auf dem Wege, alle jene Eigenschaften und Leistungen zu verlieren, die wahres Menschsein bedeuten: Selbst wenn wir dem raschen Menschheits-Selbstmord entgehen sollten, droht eine nicht mehr menschliche Weltordnung. Es gibt aber auch deutliche Anzeichen dafür, daß eine rettende Gegenbewegung am Werke ist. Die öffentliche Meinung unterliegt bekanntlich Schwingungen, und ich glaube, daß der Kulminationspunkt der technokratischen Entwicklung überschritten ist. Ich habe schon im vorhergehenden Kapitel gesagt, daß sich bei der heutigen Jugend ein Umschwung der Meinungen ankündigt, der zu gesundem Denken zurückführt.
Was ein Mensch für wirklich hält, wird, wie schon ausgeführt, zum großen Teil von der Tradition der Kultur bestimmt, in der er aufwächst. Diese »soziale Konstruktion der Wirklichkeit« (P. Berger und Th. Luckmann) ist der sogenannten Prägung insofern verwandt, als ihre Folgen nur schwer oder in manchen Fällen gar nicht rückgängig gemacht werden können. Es besteht daher wenig Hoffnung, Menschen, die von früher Jugend an die Werte des technokratischen Systems in sich aufgenommen haben, von der Tatsache zu überzeugen, daß die Menschheit gerade von diesen Wertungen mit ständig wachsender Geschwindigkeit auf den Abgrund der Unmenschlichkeit zugetrieben wird. Diese Tatsache wird von einer Vielzahl junger Menschen voll eingesehen. Der Anteil älterer Leute, die diese Überzeugung teilen, ist geringer; die Abkehr von den Werten der technokratischen Gesellschaft und die Offenheit für neue Werte ist aus den oben erwähnten Gründen bei älteren Menschen schwer zu erreichen.
Dazu kommen gegenwärtig drängende Sach-zwänge, die den im Konkurrenzkampf Befangenen den Blick in die Zukunft verwehren. Meine Hoffnung, daß meine Argumente Gehör finden, gründet sich daher auf die jungen Leute.
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Man muß sich vor Augen halten, wie jung unsere Einsichten in die Gefährdung der Menschheit sind. Ich kann an der Geschichte meiner eigenen wissenschaftlichen Entwicklung illustrieren, daß vor gar nicht langer Zeit auch ein biologisch denkender Mensch sich nicht über die drohenden Gefahren im klaren war. Wie schon erwähnt, war ich von der Predigt William Vogts gegen unvorsichtige Zerstörung ökologischer Gleichgewichtszustände keineswegs überzeugt; die Welt erschien mir damals noch unerschöpflich groß und William Vogt als das, was man in Österreich einen »Miesmacher« nennt. Im wesentlichen ist es wohl Rachel Carsons Buch »The Silent Spring« [Der schweigende Frühling) gewesen, das meine Aufmerksamkeit erregt und mich zum Kampf gegen die Technokratie aufgerüttelt hat.
Meine plötzliche Einsicht in die Gefahr entsprang, wie es Erkenntnisse so oft tun, dem plötzlichen Zustandekommen einer Gedankenverbindung. Ich sah auf einmal die nahen Beziehungen zwischen den mir bekannten typischen Neurosen und der epidemisch verbreiteten neurotisch-hektischen Wesensart der zivilisierten Menschheit. Mir wurde auf einmal klar, wie naiver Fortschrittsglaube, Überorganisation, Zusammenballung von Menschenmassen, kurz, alle im 7. und 8. Kapitel besprochenen Vorgänge, sich zu einem gewaltigen Teufelskreis positiver Rückwirkungen zusammenschließen und wie eng die Beziehungen zwischen dem Schwund der Menschlichkeit und der Selbstvernichtung der
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Menschheit tatsächlich sind. Meine im Zweiten Weltkrieg als Arzt erworbenen Kenntnisse über Neurosen trugen dazu bei, daß ich in dem Abbau der Eigenschaften und Leistungen, die das Menschentum ausmachen, plötzlich Krankheitserscheinungen sah, die ich in meinem Buch »Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit« geschildert habe.
So kurz die seitdem vergangene Zeit zu sein scheint, kommt mir dieses Buch heute recht veraltet vor, vor allem stört mich der dort von mir angeschlagene Ton: Es ist der eines einsamen Predigers in der Wüste. Angesichts der vielen seitdem erschienenen Bücher, deren Autoren ähnliche Ziele anstreben, wirkt dieser Ton ausgesprochen arrogant, er läßt nämlich die Meinung des Autors durchblicken, er stünde mit seinen Erkenntnissen allein auf weiter Flur. In Wirklichkeit ist die Zahl der Menschen, die sich über die menschheitsbedrohenden Gefahren im klaren sind, gewaltig angestiegen, und sie steigt noch, und zwar, wie ich glaube, in einer ständig steiler werdenden Kurve. Es steht zu hoffen, daß die Mehrheit der Menschen die Bedrohung der Menschheit als Spezies und vor allem ihres Menschentums erkennt, ehe wir uns die Möglichkeit verbaut haben, eine Gesellschaftsordnung zu erreichen, die menschlicher ist als unsere jetzige.
Einen Grund zum Optimismus sehe ich in der Schwingung der öffentlichen Meinung. Der Glaube an die allein seligmachende Wirkung des
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Messens und Zählens hat zwar der Menschheit eine nie dagewesene Macht verliehen, aber die Erkenntnis, daß auf dieser Macht kein Segen ruht, beginnt sich durchzusetzen. Schon melden sich ernst zu nehmende Denker zu Wort, die, wie im 6. Kapitel erwähnt, die Naturwissenschaften als solche für verfehlt halten. Wenn diese Humanisten auch über das Ziel hinausschießen, haben sie doch sehr wesentlich zu dem Widerstand beigetragen, der sich nicht nur gegen Wirtschaftswachstum und Ausnutzung der Atomenergie, sondern gegen das technokratische System als solches richtet. Wenn man diese Kurve der Erkenntnis extrapoliert, so wächst die Hoffnung auf einen Umschwung der öffentlichen Meinung. Ich vermeine jetzt schon zu merken, wie das besprochene »unterirdische« Wachstum der wesentlichen Erkenntnisse unreflektiert, aber unaufhaltsam um sich greift.
Erreichbare Ziele der Erziehung ^^^^
Da unsere Hoffnung auf einen derartigen Meinungsumschwung sich, wie gesagt, auf die jüngeren Generationen richtet, liegt es nahe, dem verderblichen Einfluß der technokratischen Gesellschaftsordnung auf die Erziehung unserer Kinder entgegenzuwirken. Unser erstes und dringlichstes Anliegen wäre die Verhinderung jeglicher Hospitalisierung.
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Es ist noch eine offene Frage, ob es nicht eine ganze Reihe anderer menschlicher Fähigkeiten gibt, die in gleicher Weise schwinden, wenn sie während einer bestimmten kritischen Phase der individuellen Entwicklung nicht geübt werden. Der Mensch ist, wie Arnold Gehlen gesagt hat, »von Natur aus ein Kulturwesen«. Seine Empfänglichkeit für Harmonien, von der im 9. Kapitel die Rede war, muß ebenfalls rechtzeitig erweckt und geübt werden. Wie schon erörtert wurde, bedarf die Gestaltwahrnehmung, also unser Organ für die Empfindung von Harmonien, der »Einspeisung« von einer großen Menge von Daten, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen soll. Es ist eine lebensnotwendige Aufgabe der Erziehung, dem heranwachsenden Menschen ein ausreichendes Material anschaulicher Tatsachen zu bieten, die es ihm ermöglichen, die Werte des Schönen und des Häßlichen, des Guten und des Bösen, des Gesunden und des Kranken überhaupt wahrzunehmen.
Die beste Schule, in der ein junger Mensch lernen kann, daß die Welt einen Sinn hat, ist der unmittelbare Umgang mit der Natur selbst. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein normal veranlagtes Menschenkind, dem eine nahe und vertraute Berührung mit Lebewesen, d. h. mit den großen Harmonien der Natur, vergönnt ist, die Welt als sinnlos empfinden sollte. Dabei kommt es nicht darauf an, mit welchen Lebewesen das Kind in vertraute, persönliche Beziehung tritt. Ein Tier zu besitzen, zu pflegen und auch die Verantwortung für sein Wohlergehen zu tragen, würde unzähligen Kindern Freude machen. Ein-
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fache Mittel können einem Menschen die Freude an der Schöpfung und an ihrer Schönheit ins Herz pflanzen. Mit der Freude an der lebenden Schöpfung entsteht, wie ich behaupten möchte, bei jedem Menschenkind, das überhaupt zu tieferen Empfindungen befähigt ist, die Liebe zu allen lebendigen Wesen. »Ich liebe, was da lebt«, läßt Widmann in seinem kleinen Drama »Der Heilige und die Tiere« den Messias sagen. Ich behaupte, daß dies jeder tut, der genügend viel von der organischen Schöpfung gesehen und erlebt hat.
In der Tat müßten den heutigen jungen Menschen die Größe und die Schönheit dieser Welt sehr gründlich zugänglich gemacht werden, um sie an der gegenwärtigen Lage der Menschheit nicht verzweifeln zu lassen. Es ist als ein Symptom des Entkommenwollens, des sogenannten Escapismus, zu werten, wenn sich jugendliche Menschen heute von allem Verstandesmäßigen abkehren wollen, wenn einige von ihnen psychedelische Drogen nehmen oder gar der Rauschgiftsucht verfallen. Es müßte doch möglich sein, der Jugend verständlich zu machen, daß auch das Wahre nicht nur schön, sondern voll von Geheimnissen ist, daß man kein Mystiker werden muß, um Wunderbares zu erleben.
In einer Zeit, in der es zur Mode geworden ist, die Wissenschaft als eine essentiell wertindifferente Unternehmung zu betrachten, ist es begreiflich, daß der Wissenschaftler sich gezwungen fühlt, sich selbst eine wertfreie Einstellung zu seinem Gegenstand abzuverlangen. Ich halte das jedoch für eine gefährliche Selbsttäuschung. Alle Biologen, die ich kenne, sind unleugbar Liebhaber ihres Objektes in genau demselben Sinne, in dem ein Aquarienliebhaber ein solcher ist.
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Jeder Mensch, der an der Schöpfung und ihrer Schönheit Freude empfindet, ist gegen jeden Zweifel an ihrem Sinn gefeit. Die Frage nach dem Sinn der organischen Schöpfung erscheint ihm ebenso unverständlich wie einem musikliebenden Menschen die nach dem Sinn der Neunten Symphonie von Beethoven. Ein Mensch, der diese Frage stellt, hat offenbar nie Gelegenheit gehabt, von den großen Harmonien dieser Welt so viel in sich aufzunehmen, wie nötig ist, um sie seiner Gestaltwahrnehmung zugänglich zu machen. Ich glaube, daß für die Entwicklung der meisten anderen kognitiven Leistungen des Menschen, vor allem für die der Gestaltwahrnehmung, frühkindliche Erlebnisse wesentlich sind.
Von den Schönheiten des Kosmos zu sprechen ist ein Pleonasmus, da die Schönheit im Wortsinn von »Kosmos« eingeschlossen ist. Die Vertrautheit mit dem Schönen beugt dem im 5. Kapitel besprochenen Irrglauben vor, daß nur das exakt Definierbare und Quantifizierbare wirklich sei.
In der letzten Zeit haben viele Philosophen die Frage diskutiert, was der »Sinn des Sinnes« sei; ein Philosoph in Oxford schrieb ein Buch »The Meaning of the Meaning«. Es läge eigentlich an einer gesunden Erziehung, dem heranwachsenden Menschen beizubringen, daß es sehr wohl möglich ist, Sinnvolles von Sinnlosem zu unterscheiden.
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Wir besitzen ein wohlfundiertes Tatsachenmaterial, aufgrund dessen man berechtigte Aussagen darüber machen kann, wann ein sprachliches Symbol falsch und wann es richtig angewendet ist. Dennoch wird Kindern und Jugendlichen niemals beigebracht, wie man Wahres von Falschem, Sinnloses von Sinnvollem unterscheiden kann. Das kann man nämlich! Daß diese im höchsten Maße bedeutungsvolle und für die Freiheit des menschlichen Denkens so überaus wichtige Frage in der Erziehung unserer Kinder vernachlässigt wird, daß dieses Thema nicht als Unterrichtsgegenstand gelehrt wird, ist zu beklagen.
Die Mächtigen der überbevölkerten und überorganisierten Welt werden alle bekannten und viele neue Techniken der Manipulation und Gleichmachung der Menschen fortsetzen. Es steht zu befürchten, daß sie auch nicht zögern werden, diese Methoden der nicht-rationalen Überredung durch ökonomische Zwänge, ja, durch die Drohung von Gewalt zu unterstützen. Wenn wir diese Art der Tyrannis verhindern wollen, die bei einer bestimmten Größe der Staaten sich unabhängig von ihrem politischen Glaubensbekenntnis entwickelt, müssen wir sofort damit beginnen, unsere Kinder gegen die Manipulation ihrer seelischen und geistigen Entwicklung immun zu machen. Diese Immunisierung kann ausschließlich dadurch erreicht werden, daß jeder heranwachsende Mensch die Technik der Propaganda gründlich zu durchschauen lernt.
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Wir sind an die in unserer eigenen Gesellschaft üblichen Propagandamethoden so gewöhnt, daß wir eine gefährliche Toleranz gegen leere Versprechungen und andere institutionalisierte Formen der Lüge erworben haben. Wenn wir mit den Diktaten anderer Regierungssysteme in Berührung kommen, bemerken wir sofort die Zwangsjacke, in der ihre Untertanen stecken. Wie sehr dasselbe für uns selbst, für unsere »demokratische« Regierungsform gilt, übersehen wir allzu leicht. Als ich einst auf einem Kongreß im ostdeutschen Weimar war, empfand ich die Abwesenheit aller Lichtreklamen als außerordentlich lobenswert und angenehm. Dagegen ärgerte ich mich über die allgegenwärtigen Transparente, auf denen die Freundschaft mit der Sowjetunion, die Gemeinsamkeit aller arbeitenden Menschen und dergleichen gepriesen wurden. Damals in Weimar wurde mir schlagartig klar, daß die sozialistischen Transparente und die westlichen Lichtreklamen analoge Organe zweier verschiedener Herrschaftssysteme sind. Gleichzeitig begann ich zu verstehen, wie ungemein schwer es ist, einer Doktrin entgegenzutreten, ohne dabei einer Gegendoktrin anheimzufallen.
Ein großangelegter Versuch, eben dies zu unternehmen, ist in den dreißiger Jahren des Jahrhunderts mißglückt. Ein Philanthrop namens Fi-lene hat im Jahre 1937, als nationalsozialistische Propaganda in die Vereinigten Staaten einzudringen begann, ein Institut für Propaganda-Analyse
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gegründet. Dort wurde besonders die nicht den Verstand, sondern Gefühle ansprechende Propaganda analysiert, und es entstanden mehrere Arbeiten, die Mittelschüler und Studenten über das Wesen dieser Art von Werbung aufklären sollten. Dann brach der Krieg aus, und da auch die alliierten Regierungen ungehemmt »psychologische Kriegführung« trieben, erschien es ausgesprochen taktlos, diese Art der Propaganda analysieren zu wollen. Aber auch schon vor Ausbruch des Krieges gab es viele, denen die Aktivität des Institutes im höchsten Grade unerwünscht war. Bestimmte Erzieher z. B. fanden, die Analyse der Werbemethoden mache heranwachsende Menschen in unerwünschter Weise zynisch. Ebenso unwillkommen war die Einsicht in Propagandamethoden der höheren Militärbehörden; sie bekamen Angst, die Rekruten könnten beginnen, die Äußerungen der sie ausbildenden Unteroffiziere zu analysieren. Auch die Kirchen waren gegen Propaganda-Analyse, weil diese den Glauben untergraben und die Zahl der Kirchgänger verkleinern könnte. Die Werbefachleute protestierten, weil Propaganda-Analyse die Treue zu einem bestimmten Fabrikat untergraben und Verkaufsziffern herabsetzen könnte. Das Institut wurde geschlossen.
Eine große Gefahr, die jeden Versuch bedrohte, junge Menschen gegen die Listen der Werbung zu immunisieren, besteht darin, daß der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben wird: Auch dem Gutwilligen kann es passieren, daß er der Doktrin, die er bekämpfen will, eine andere, ebenso starre, entgegensetzt.
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Ein großartiger, kluger und ehrlich gemeinter Versuch, eine Philosophie der Nicht-Indoktrinierbarkeit zu schaffen, ist tragisch gescheitert: Die Philosophie des dialektischen Materialismus wurde von Karl Marx in der Absicht geschaffen, der Menschheit eine Weltanschauung beizubringen, die sich selbst gegen die Gefahr schützt, jemals zu einer Doktrin zu erstarren. In einer Abwandlung der Lehre Hegels lehrt Karl Marx, daß die Antithese, d. h. die zur herrschenden Meinung gegnerische Stellungnahme, zunächst als die richtigere zu gelten habe. Es ist tatsächlich eine der höchsten Aufgaben des wahrheitssuchenden Forschers, die Bereitschaft zum Ab- und Umbau aller seiner Hypothesen zu wahren. Trotz der besten Absichten seines Schöpfers ist aus dem dialektischen Materialismus die starrste aller Doktrinen geworden und wahrscheinlich die mächtigste, die auf Erden je geherrscht hat.
Die politischen Gegner der eben erwähnten Propaganda-Analyse von Filene haben seinerzeit das Argument ins Feld geführt, diese verführe die Jugend zu totalem Zynismus und Skeptizismus, und das Argument enthält tatsächlich einen Kern von Wahrheit.
Gesunde Skepsis ist unerläßlich, wenn es gilt, das Richtige vom Falschen, die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden, aber eine Übertreibung der skeptischen Einstellung kann tatsächlich zum Zynismus und zur Leugnung aller Werte führen.
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Die im vorangehenden Abschnitt besprochene Erziehung zur Wahrnehmung der großen Harmonien, des Schönen wie des Guten, ist unbedingt nötig, um einem jungen Menschen ein ausgewogenes Bild von dieser unserer großartigen Welt zu vermitteln. Ein vom ontologi-schen Reduktionismus oder Szientismus befallener Mensch könnte durch eine einseitige Erziehung zur Propaganda-Analyse dazu veranlaßt werden, an schlechterdings allem zu zweifeln und zu verzweifeln.
Wenn man versucht, heranwachsenden Menschen die Schönheit und Größe dieser Welt anschaulich zu machen, hofft man wohl auch, ihr Interesse an deren inneren Zusammenhängen zu erwecken. Der Wunsch, den Faust in die Worte zusammenfaßt »... daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält«, drückt ein allgemein menschliches Bedürfnis aus, das bei dem einen stärker, bei dem anderen schwächer sein mag. (Beim Naturforscher wird es zum lebensbeherrschenden Motiv.) Das völlige Fehlen von Neugier bedeutet eine Abnormität.
Ich hege die Vermutung, daß die Erweckung der Neugier möglicherweise auch zu einer Revitalisierung verlorengegangenen zwischenmenschlichen Anteilnehmens führen könnte. Im Parzival-Epos und in den ihm zugrundeliegenden Sagen wird es dem Helden als schwere Sünde angerechnet, daß er die Leiden des Am-fortas mit ansieht, aber nicht nach ihrer Ursache fragt. Vielleicht liegt diesem Bild eine Ahnung
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des Zusammenhanges zugrunde, der zwischen dem menschlichen Interesse für die Welt im allgemeinen und seiner Anteilnahme für die Mitmenschen besteht. Vielleicht ist es möglich, durch das Erwecken des Interesses für die großen Zusammenhänge in der Natur auch die Anteilnahme am Leben des Mitmenschen wachzurufen.
Um dem jungen Menschen die großartige Mannigfaltigkeit der organischen Schöpfung und gleichzeitig ihre Regelhaftigkeit zu offenbaren, sollte man ihn mit irgendeiner größeren Tieroder Pflanzengruppe innig vertraut machen. Das heute vielerorts so verachtete Sammeln und Beschreiben ist meiner Überzeugung nach der beste Weg zur Erkenntnis des Kosmos. Kinder sammeln gern; das Gesammelte verlangt ganz automatisch danach, eingeordnet zu werden, und wenn dann tatsächlich eine Ordnung entsteht, so verlangt diese nach einer Erklärung, und so folgt wie in der Entwicklung jeder Naturwissenschaft das systematische Stadium auf das deskriptive und das nomothetische Stadium auf das systematische.
Allem Lebendigen eignet eine - im Sinne Nicolai Hartmanns - kategorial höhere Form des Seins als jeglicher Art von nicht lebendiger Materie. Dennoch hat es die Existenz dieser Form von Materie zur Voraussetzung. Da alle lebenden Systeme dauernd von Störungen bedroht sind, die sowohl von innen wie von außen kommen können, ist alles Leben von Krankheit und Tod be-
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droht. Weil wir uns, wie alle anderen Organismen, dauernd gegen Bedrohungen aller Art wehren müssen, sind wir so programmiert, daß wir uns vor dem Tode fürchten, und zwar sicherlich stärker, als es der wahren Schrecklichkeit unseres Erlöschens entspricht. Es bedarf großen Mutes, um »nach jenem engen Durchgang hinzustreben, um dessen Mund die ganze Hölle flammt, zu diesem Schritt sich heiter zu entschließen, und sei es mit Gefahr, ins Nichts dahinzufließen«.
Obwohl das Dahinfließen ins Nichts für den, der nicht an ein Jenseits glaubt, völlig unvermeidlich ist, sind wir doch bestrebt, es möglichst weit hinauszuschieben. Unseren Mitmenschen gegenüber verpflichtet uns Ärzte sogar der hip-pokratische Eid dazu, dies zu tun. Damit sind wir verpflichtet, Krankheiten möglichst früh zu erkennen. Die kognitive Leistung aber, die uns dazu befähigt, ist identisch mit jener schon besprochenen, die uns die großen Harmonien zugänglich macht, nämlich mit der Gestaltwahrnehmung.
So vertraut uns der Begriff Krankheit ist, kann er doch nicht leicht definiert werden. Sagt man, die Krankheit sei eine Störung der normalen Harmonie eines lebendigen Systems, so wirkt diese Definition insofern unbefriedigend, als sich »normal« und »gestört« nur in Beziehung auf eine ganz bestimmte Umweltsituation definieren lassen. Ich erinnere an die erbliche Anomalie der roten Blutkörperchen, die sogenannte Sichelzellenanämie. In Gambia muß man, oder genauer gesagt, mußte man früher diese Erbkrankheit haben, um »gesund« zu bleiben. Dasselbe Prinzip kann man auf die verschiedensten Lebensräume übertragen.
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Ungeachtet dieser Einschränkung unserer Begriffsbildung weiß und empfindet doch jeder von uns ziemlich genau und richtig, was ein gesundes und was ein krankes lebendes System ist. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Skala, die vom Gesunden zum Kranken führt, hat ebenso wie die schon besprochene Wahrnehmung musikalischer Harmonien zur Voraussetzung, daß vorbereitend ein beträchtlicher Schatz von Datenmaterial eingespeist wird. Bei der hier in Rede stehenden Funktion tritt besonders eindrucksvoll die wunderbare Fähigkeit der Gestaltwahrnehmung zutage, eine unglaublich große Anzahl von Einzeldaten und gleichzeitig eine Unzahl der zwischen diesen bestehenden Beziehungen zu sammeln und auf sehr lange Zeit zu bewahren. Die Fähigkeit des Arztes, die Kunst des Tierpflegers und die wesentlichste Fähigkeit des Landschaftsökologen liegen darin, einem lebenden System rein empfindungsmäßig und zunächst unreflek-tiert anzusehen, daß in ihm »etwas nicht stimmt«. Eben diese Leistung ist als der »klinische Blick« des erfahrenen Arztes bekannt. Einer der größten Schäden, die das szientistische Denken über die Menschheit gebracht hat, liegt darin, daß in der heutigen Erziehung des Arztes zu wenig Gewicht auf die Entwicklung des »klinischen Blicks« gelegt werden kann. Es ist eine trügerische Hoffnung, daß man diese Leistung unserer Wahrnehmung durch die große Menge der erhobenen Daten und deren Verrechnung durch Computer ersetzen könne.
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Auch der Erfolg des Tierpflegers ist zum allergrößten Teil davon abhängig, daß er kleinste, al-lerkleinste Veränderungen im Befinden seiner Pfleglinge wahrnimmt und imstande ist, sie mit ebensolchen Veränderungen seiner Pflegemaßnahmen in Zusammenhang zu bringen. Diese Leistung des »In-Zusammenhang-Bringens« ist selbstverständlich wiederum eine nicht-rationale Leistung der Gestaltwahrnehmung.
Es müßte doch möglich sein, auch in Großstädten geborenen und heranwachsenden Kindern die Gelegenheit zu verschaffen, ihre Fähigkeit zur Wahrnehmung der Harmonie und Disharmonie lebender Systeme zu entfalten - und sei es anhand eines Aquariums. Ein Aquarienpfleger lernt nämlich ganz zwangsläufig, ein Wirkungsganzes in seiner Harmonie und Disharmonie richtig zu erfassen, das aus sehr vielen, teils zusammenwirkenden, teils antagonistischen Systemen, aus Tieren, Pflanzen, Bakterien und einer ganzen Reihe anorganischer Gegebenheiten, zusammengesetzt ist. Er lernt, wie empfindlich das Gleichgewicht eines solchen künstlichen Ökosystems ist. »In vitro« stellt das Aquarium ein Modell natürlicher Lebensräume dar und kann so den Sinn für die Zusammenhänge lebender Systeme erwecken.
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Die Erziehung zur Wahrnehmung von Schönheit und Harmonie, zum Erkennen der Disharmonie kranker Systeme und zur Abneigung gegen Indoktrinierung ist sicher eine wirksame Maßnahme gegen die zunehmende Dehumani-sierung der westlichen Zivilisation. Wichtiger noch erscheint mir das Erwecken von Mitgefühl für unsere Mitlebewesen. Mitgefühl motiviert zu jener Liebe zu allem, was da lebt, der Albert Schweitzer so ergreifenden Ausdruck verliehen hat.
Der große Zusammenklang der lebendigen Schöpfung enthält notwendigerweise eine große Anzahl von Dissonanzen, die wir zu »überhören« gewohnt sind, wir pflegen sie im psychoanalytischen Sinne zu verdrängen, d. h. aus unserem Bewußtsein wegzuretuschieren. Die ärgste dieser Dissonanzen ist die Notwendigkeit zu töten, die nicht nur für das spezialisierte Raubtier, sondern ebenso für den Menschen besteht. (Schon das Wort Raubtier enthält eine unerlaubte Analogie zu menschlichem Verhalten, es müßte heißen »Jagdtier«.) Gerade wegen meiner engen Freundschaft zu meinen Hunden erleide ich eine ernste Erschütterung, wenn sie wieder einmal eine Katze erlegt haben, so wünschenswert es im Interesse unserer reichen Singvogelpopulation auch sein mag, unseren Garten katzenfrei zu halten. Ich gestehe, daß ich nicht einmal in Film und Fernsehen zusehen kann, wie ein Raubtier seine Beute tötet. Darwin berichtet: Als er auf der Beagle-Reise zum erstenmal in den tropischen Urwald kam, sah er, wie eine spinnentötende
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Riesenwespe eine Vogelspinne angriff. Was tat der große Naturforscher? Zückte er Bleistift und Taschenuhr und beobachtete er minutiös den damals schon in groben Zügen bekannten Vorgang, in dem die Wespe die Spinne durch einen Stich in die Ganglienkette lähmt und sie dann für ihre Larve zum Fräße noch lebend in eine Nesthöhle verschleppt? Nein! Charles Darwin verjagte die Wespe, obwohl er gewiß neugierig war, den Vorgang genau zu sehen.
Mitleid mit der leidenden Kreatur ist eine eindeutig qualitativ bestimmte Emotion, die jedem empfindlichen Menschen trotz seiner Einsicht, daß Leid und Tod von Individuen in der großen Harmonie der lebendigen Schöpfung unvermeidbar sind, wirkliches Leiden bedeutet. Es nützt uns auch nichts, daß wir genau um die harmonischen Wechselwirkungen wissen, die zwischen einer beutegreifenden Tierart und ihren Beutetieren besteht. Es nützt uns nichts, wenn wir uns sagen, daß dem Beutetier als Art durchaus kein Gefallen erwiesen wäre, wenn ihre Jäger von der Bühne des Lebendigen verschwänden, wie manche sentimentale Tierliebhaber das in ihrem Unverständnis der natürlichen Systeme wünschen. Wir wollen die Schmerzen, die uns aus dem Mitleid erwachsen, nicht verleugnen. Wir wollen eingestehen, daß wir oft für den Jäger und den Gejagten gleichermaßen Partei ergreifen. Ein Mauswiesel ist eines der bezauberndsten Lebewesen, die es gibt; seine Spielbewegungen sind von hinreißender Grazie, obwohl sie im Ernst-
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falle bei der Jagd und beim Töten gebraucht werden. Eine Gelbhalsmaus ist kaum weniger liebenswert als ein Mauswiesel, und wenn man sieht, wie die geschickten Instinktbewegungen, die uns eben noch am Spiel des Mauswiesels entzückten, nun im Ernstfall dazu angewendet werden, der großäugigen, sensiblen und ganz sicher sehr leidensfähigen Gelbhalsmaus den Garaus zu machen, so stehen wir zerrissenen Herzens vor dieser Dissonanz - ich gestehe wenigstens für meine Person, daß» sie mich zutiefst erschüttert. Dabei wäre ich wahrscheinlich durchaus imstande, eine Gelbhalsmaus totzuschlagen, wenn ich ein halbverhungertes Mauswiesel zu verpflegen hätte.
In der großen Harmonie des Lebendigen spielt das Mitleid keine Rolle. Das Leiden ist unvergleichlich viel älter als das Mitleid; das Leiden ist nun einmal mit dem subjektiven Erleben der Kreatur, mit dem unvermeidlichen Sterben des Individuums in die Welt gekommen — viele Millionen Jahre vor dem Mitleid. Anzeichen für Mitleid gibt es schon bei Schimpansen. Jane Lawick-Goodall berichtet, daß eine Schimpansin tagelang bei ihrer sterbenden Mutter aushielt und ihr die Fliegen verjagte. Als die Mutter gestorben war, horchte sie an ihrer Brust und verließ danach die Leiche, wahrscheinlich, weil sie keinen Herzschlag mehr hörte. Mitleid mit Lebewesen, die nicht der eigenen Art angehören, gibt es sicherlich nur beim Menschen.
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Mitgefühl ist ursprünglich ganz sicher nur dort vorhanden, wo ein Individuum mit dem anderen durch Liebe verbunden ist. Die Liebe zum Lebendigen ist eine wichtige, unerläßliche Emotion. Sie ist es nämlich, die dem allesbeherr-schenden Menschen die Verantwortlichkeit für das Leben auf unserem Planeten aufbürdet. Der verantwortliche Mensch darf die Leiden anderer Kreaturen nicht »verdrängen«, am wenigsten das Leiden von Mitmenschen. Damit fällt ihm eine schwere Aufgabe zu.
Die Gefühlsqualität des Mitgefühls und Mitleidens und die damit einhergehende Bereitschaft, helfend in den Gang der Dinge einzugreifen, ist in der Stammesgeschichte des Menschen höchstwahrscheinlich auf dem Wege entstanden, daß sich die im Dienste menschlicher Brutpflege entstandenen Verhaltensnormen auf den Mitmenschen und weiter auf andere Lebewesen ausgedehnt haben. Eine geringe Abnahme der Selektivität der beteiligten Auslösemechanismen könnte genügen, um das herbeizuführen.
So wichtig es ist, im Menschen Mitgefühl für alle Lebewesen zu erwecken, die mit uns den Erdball bewohnen, so unabdingbar das Mitgefühl für die Liebe zum Lebendigen ist, so müssen wir doch eine scharfe Trennung zwischen unseren Gefühlen für Tiere und denen für unsere Mitmenschen ziehen. Wir können es zwar nicht ohne Zerrissenheit des Herzens ansehen, wenn eine Gepardenmutter ihren hinreißend süßen Kindern als Beute ein noch lebendes, ebenso süßes Baby der Thompsongazelle bringt, damit die
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Gepardenkinder das Töten lernen; aber es steht nicht in unserer Macht, den Lauf der Natur zu verändern und zu verhindern, daß» Geparden Thompsongazellen fressen oder Mauswiesel Gelbhalsmäuse.
Es liegt aber durchaus nicht im unabwendbaren Lauf der organischen Welt, daß der größte Teil der Menschheit darbt, während der kleinere Teil an Überernährung leidet, aber mehr als 70 Prozent der Energie verbraucht, die der ganzen Menschheit zur Verfügung steht.
Ein denkender und fühlender Mensch könnte die unvermeidbaren grausamen Dissonanzen der großen lebendigen Systeme nicht ertragen, wenn er nicht die Fähigkeit hätte, den Gedanken an sie beiseite zu schieben. Ich würde sehr wahrscheinlich Vegetarier werden, wenn ich gezwungen wäre, alles Lebendige, das mir zur Nahrung dient, selbst zu töten. Hier darf der Mensch »verdrängen« und muß es sogar. Wo es aber um vermeidbare Leiden, vor allem um Leiden von Mitmenschen geht, darf er es nicht. Das Verdrängen, das Wegschauen vom Leiden der Tiere kann dadurch gefährlich werden, daß es zur Gewohnheit wird. Man lernt im Laufe der Zeit allzu gut, »wegzuschauen« und damit das Mitfühlen unerlaubter Weise auch in Fällen auszuschalten, in denen man helfen könnte. Nach dem Gesagten muß klar sein, welch großes Verdienst ich den Tierschutzvereinen zubillige und wie hoch ich die Arbeit aller jener einschätze, die sich mit Wort und Tat gegen die sogenannte »Intensivhaltung«
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von Haustieren einsetzen. Dennoch habe ich den leisen Verdacht, daß das Mitleid mit Tieren bei vielen Menschen in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Menschenliebe steht. Es wäre nicht uninteressant zu erfahren, ob es viele Menschen gibt, die sich gleicherweise für Tierschutz und für Am-nesty International einsetzen. Ich hoffe, ja.
Du sollst nicht falsch'Zeugnis reden ^^^^
»Das Schlimmste aber ist das falsche Wort, die Lüge, War' nur der Mensch erst wahr, er war' auch gut. Wie könnte Sünde irgend doch besteh'n, wenn sie nicht lügen könnte, täuschen? Erst sich, alsdann die Welt, dann Gott, ging es nur an. Gäb's einen Bösewicht, müßt er sich sagen, so oft er nur allein: Du bist ein Schurk! Wer hielt' sie aus, die eigene Verachtung.«
So läßt Franz Grillparzer in seinem Drama »Weh' dem, der lügt« den Bischof von Chalons sagen. Man kann die Lüge als das bewußte Aussenden falscher Information definieren, das dem Sender Vorteile über den Empfänger verschafft. (Von »frommen«, nicht selbstsüchtig motivierten Lügen ist hier nicht die Rede.) Falsche Information auszusenden ist eine Strategie, die auf sehr viel einfacherem, unbewußtem Niveau geläufig ist. Schon im Pflanzenreich gibt es Blütenformen,
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die »vorgeben«, weibliche Insekten einer bestimmten Art zur sein, und die Männchen dieser Art zur Kopulation anreizen und auf diese Weise für die eigene Fortpflanzung »sorgen«. Sehr viele sogenannte Mimikri täuscht den Adressaten der Signale zum Vorteil des Senders. Ein klassisches Beispiel ist die Nachahmung des Putzer-Lippfisches [Labroides dimidiatus] durch den Schleimfisch Aspidontus. Letzterer gleicht nicht nur in Farbe und Form bis in kleinste Einzelheiten dem Lippfisch, sondern er ahmt auch die Bewegungsweisen nach, mit denen der Putzer seine Klienten zum Stillhalten und Darbieten der zu putzenden Körperteile anregt. Während in diesem Fall der Räuber die Beute »beschwindelt«, geschieht in der großen Mehrzahl der Fälle das Umgekehrte; Raupen täuschen durch Augenpaare, die auf die ersten Körperringe »gemalt« sind, Schlangenköpfe vor; viele andere Insekten zeigen Paare von Augen, die, in entsprechendem Abstand dargeboten, dem herannahenden Tier vortäuschen, daß es einem größeren Wirbeltier gegenüberstehe. Die am weitesten verbreitete falsche Information, die ein potentielles Beutetier an den herannahenden Freßfeind sendet, läuft darauf hinaus, sich größer erscheinen zu lassen, als man wirklich ist; Spreizen von Flossensäumen bei Kopffüßlern und Fischen, Sträuben des Haarkleides oder Gefieders bei Warmblütern und Aufblasen von Lungen bei Reptilien und Amphibien sind allbekannt.
Es mag auffallen, daß in allen genannten Bei-
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spielen die Information nicht an einen Artgenossen gesendet wird. Man könnte zunächst glauben, auch ein Fisch, der einen Rivalen mit Breit-seitsimponieren androht und sich dabei so groß wie möglich macht, tue dies in dem Bestreben zu »bluffen«, d. h. sein Kampfpotential größer erscheinen zu lassen, als es tatsächlich ist. Amoth Zahavi hat überzeugende Argumente dafür gebracht, daß Signale und auslösende Bewegungen, die durch ihre Wirkung auf den Artgenossen herausgezüchtet sind, notwendigerweise einen hohen Grad von Verläßlichkeit, sozusagen von »Ehrlichkeit«, besitzen müssen. Besonders im Falle von Signalen, die für geschlechtliche Zuchtwahl maßgebend sind, muß eine gewisse Garantie dafür bestehen, daß das Signal mit einer wirklich vorhandenen Qualität des Senders korreliert ist. Darauf beruht die große Uniformität und Standardisierung von Eigenschaften, die für sexuelle Zuchtwahl maßgebend sind. Ähnlich wie etwa bei einem sportlichen Wettkampf die Prüfungsbedingungen auf das genaueste standardisiert sein müssen, um qualitative Unterschiede zutage treten zu lassen, so sind z. B. auch die Hochzeitskleider aller Stockerpel und die Verhaltensweisen der Werbung bei allen Graugantern genau standardisiert. Gerade dadurch treten für den genauen Beobachter und zweifellos auch für den Artgenossen die geringen Unterschiede zutage, die zwischen den Individuen bestehen. Ohne auf Gruppenselektion und Stammesselektion zurückgreifen zu müssen, hat man genug Argumente dafür, daß beim Signalaustausch zwischen Artgenossen nicht geschwindelt wird.
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Da es aber außerdem sehr wohl Gruppenselektion und Verwandtschaftsselektion gibt und da Auslöser und angeborene Auslösemechanismen, Sender und Empfänger arteigener Signale zusammengehörige Organe eines arteigenen Systems sind, darf man ohne weiteres annehmen, daß, wie ich schon 1966 behauptet habe, Auslöser und angeborene Auslösemechanismen einen Selektionsdruck aufeinander ausüben, was ebenfalls für die Annahme spricht, daß Artgenossen einander nicht »belügen«. Mit anderen Worten: Es liegt im Interesse einer Tierart, daß Beute oder Freßfeind, nicht aber Artgenossen falsch informiert werden. Die Möglichkeit zur Lüge im eigentlichen Sinne scheint erst mit der Sprache gegeben zu sein. Es ist daher durchaus nicht verwunderlich, daß das beim Menschen so übliche Anlügen von Artgenossen üble Folgen für Sozietät und Art zeitigt. Nur das einzelne Individuum kann Vorteile daraus ziehen, allerdings um den Preis, damit zum Parasiten an der Sozietät zu werden.
Während die genetisch programmierten Mechanismen des Signalaustausches bei Tieren die Lüge nicht kennen, gibt es im individuell erlernten und vielleicht einsichtigen Verhalten höherer Säugetiere offenbar Ansätze zur Lüge. Georg Rüppell erzählte mir von einer Eisfüchsin, die sich ihrer Jungen, wenn diese sie allzu sehr belästigten, durch ein Täuschungsmanöver entledigte: Sie stieß den Warnruf aus, auf den hin ihre Kinder Hals über Kopf in den Bau zurückstürzten, während sie selbst keine weiteren Anzeichen von Beunruhigung gab.
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Eine sehr merkwürdige Geschichte von einem alten Orang-Mann erzählte mir A. F. J. Portielje, damals Leiter des Zoologischen Gartens Artis in Amsterdam. Dieser Orang log nicht, sondern wurde belogen und geriet darüber in heftigsten Zorn. Er bewohnte einen Käfig, der eine ziemlich kleine Grundfläche hatte, aber bis an die Decke des ziemlich hohen Raumes hinauf reichte. Um den Orang zu genügender Bewegung zu veranlassen, wurde er in Bodennähe gefüttert und hatte seinen Ruheplatz möglichst hoch oben, so daß er für jede Nahrungsaufnahme einige Meter hinab und wieder hinaufklettern mußte. Nur zur Reinigung des Käfigs wurde der Orang in der obersten Region des Käfigs von einem Wärter gefüttert, der dazu auf eine Leiter klettern mußte. Zwischendurch wurde rasch der Käfigboden gereinigt - eine an sich etwas leichtfertige Verfahrensweise. Eines Tages kam denn auch die unangenehme Überraschung: Der Orang schwang sich plötzlich auf den Käfigboden herab, und ehe man die Schiebetür des Käfigs verschließen konnte, hatte er den Rand der Tür und den Türstock mit beiden Händen ergriffen. Während der Wärter und der glücklicherweise anwesende Direktor, A. F. J. Portielje, die Tür mit der Kraft der Verzweiflung zu schließen versuchten, erweiterten die gewaltigen Arme des Affen unaufhaltsam die Öffnung.
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Da hatte Portielje einen rettenden Gedanken, der angesichts der Spannung der Situation geradezu genial war: Er ließ die Tür mit einem Ausruf des Schreckens los, sprang zurück und starrte dabei mit aufgerissenem Mund auf den Ort unmittelbar hinter dem Rücken des Orang, als sei dort etwas in höchstem Maße Schreckenerregendes aufgetaucht. Der Orang ließ sich täuschen, fuhr herum, die Tür schnappte ins Schloß. Das wichtige an der Anekdote ist, was nun folgte! Der Orang geriet nämlich in tobende Wut, wie Portielje es an einem Tier dieser Art kaum je erlebt hatte. Portielje sagte mir, er sei völlig überzeugt, daß der Orang volle Einsicht in die Zusammenhänge hatte und sich darüber ärgerte, einer Lüge geglaubt zu haben. Gezielte Experimente darüber, wie Menschenaffen reagieren, wenn man sie anlügt, sind meines Wissens noch nie angestellt worden.
Die Wortsprache ergibt natürlich ungeahnte neue Möglichkeiten der Fehlinformation.
Es wäre denkbar, daß die negative Wertung der Lüge angeborene Programme zur Grundlage hat. Es ist ganz sicher von Übel für die menschliche Gesellschaft, wenn sich ihre Mitbürger belügen - in der Absicht, einander zu übervorteilen. Ich glaube, daß das individuelle Belügen eines Menschen durch einen anderen andersgeartete negative Wertempfindungen in uns hervorruft als das kollektive, politische oder wirtschaftliche Lügen. Die romantische Verherrlichung der »deutschen Treue«, die zur Erziehung meiner Ge-
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neration noch unbedingt dazugehörte, ist wahrscheinlich eine Erfindung des römischen Schriftstellers Tacitus, der sie zu seinem außerordentlich ehrenwerten Propagandafeldzug gegen den moralischen Verfall der römischen Hochkultur verwendete. Ob er mehr über die Vertrauenswürdigkeit der Germanen wußte, als ihm vom Hörensagen bekannt war, ist zu bezweifeln. Mit Sicherheit aber kann man aus den Schriften des Tacitus entnehmen, daß in den Spätzeiten römischer Hochkultur das Blaue vom Himmel gelogen wurde.
Das biblische Verbot des Lügens wird im Verkehr zwischen Einzelmenschen weit gewissenhafter befolgt als zwischen Kollektiven. Jedes einzelne Mitglied irgendeines Aufsichtsrates besitzt mein volles Vertrauen, und ich würde mich seinem Rat unbedenklich anvertrauen; ein Aufsichtsrat als Kollektiv aber kann skrupellos und amoralisch handeln. Offenbar entlastet das Teilen der Verantwortlichkeit den einzelnen. Trotz der Unvollständigkeit unseres Wissens wage ich die Vermutung, daß die Häufigkeit des öffentlichen Lügens und die allgemeine Toleranz gegen das Belogenwerden mit der Entwicklung von Hochkulturen und höherer Zivilisation zugenommen hat. Im Handelsverkehr gilt das Feilschen und das lügnerische Anpreisen der Ware heute oft als durchaus erlaubt. Manche Werbefachleute schämen sich nicht nur nicht, sondern sind stolz darauf, wenn sie mit einer Lüge Erfolg haben. Ich glaube allen Ernstes, daß die menschliche Gesellschaft als Ganzes eine durchgreifende und segensreiche Neuorganisation erfahren würde, wenn die Lüge, die persönliche wie die kollektive, so eingeschätzt würde, wie sie es tatsächlich verdient.
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Werte, die umgewertet werden müssen ^^^^
Wir wollen uns darüber im klaren sein, daß die Erziehungsrichtungen, die im vorangehenden als Gegenmittel gegen den Abbau des Menschlichen in Betracht gezogen wurden, eindeutig nach dem hochgesteckten Ziel einer Umwertung einer Reihe von Werten streben. Wenn ich glaube, daß diese ungeheure Aufgabe überhaupt zu bewältigen ist, so gründe ich diesen Optimismus auf die Tatsache, daß jene apriorischen Wertempfindungen, von denen im 6. Kapitel die Rede war, im höchsten Sinne des Wortes allgemeinmenschlich sind. Sie sind nicht von kultureller Tradition und nicht vom sozialen Aufbau der Wirklichkeit abhängig, von dem wir im 10. Kapitel gesprochen haben. Mit anderen Worten, die Wertempfindungen, von denen hier die Rede ist, brauchen dem Menschen nicht anerzogen und eingebleut zu werden; sie erwachen ganz sicher von selbst, wenn der Gestaltwahrnehmung heranwachsender Menschen das unverfälschte Tatsachenmaterial nahegebracht wird, das uns die »wissende Wirklichkeit der Natur« offenbart.
Es sind einfache, dem gesunden Menschenver-
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stand zugängliche Erkenntnisse, die so vielen Menschen durch einen Zwiespalt des Denkens versperrt sind, an dem, wie ich glaube, vor allem der idealistische oder, besser gesagt, ideeistische Glaube die Schuld trägt, daß die reale Welt keine Werte enthalten könne. Was es hier klarzumachen gilt, ist die schlichte Tatsache, daß die Wirklichkeit der Schöpfung ehrfurchtgebietende! Werte enthält und potentiell dauernd noch höhere zu erzeugen imstande ist. Wir brauchen auf unserer Suche nach dem Sinn der Welt nicht ins Über- und Außernatürliche abzuschweifen. »Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, sich über Wolken seinesgleichen dichtet! Er stehe fest und sehe sich hier um! Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm«, läßt Goethe seinen Faust sagen.
Der erkenntnistheoretische Standpunkt ^^^^
In den letzten Abschnitten wurde eine Reihe von Erziehungsvorschlägen erörtert, die eher der Bildung von Wertempfindungen als der des rationalen Denkens dienen. Ein Mensch, der sehen kann, wie schön die Welt ist, muß ihr optimistisch gegenüberstehen. Sein Wissen um die Größe und Schönheit der Schöpfung wird ihm helfen, sich den heute üblichen Propagandamethoden und der Indoktrinierung zu widersetzen. Die Wahrheit des Wirklichen wird ihn lehren, selbst kein »falsch' Zeugnis wider seinen Näch-
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sten« zu reden. Seine Wahrnehmung für die großen Harmonien wird so vertieft und ausgebildet werden, daß er Krankes von Gesundem zu unterscheiden vermag und an der großen Harmonie der organischen Schöpfung nicht verzweifelt, obwohl er die tragischen Leiden und den Tod der Einzelwesen tief empfindet.
Das sind für jeden naturnahen Menschen Selbstverständlichkeiten. Sie richtig einzuschätzen bedarf es keiner verstandesmäßigen Leistung, sondern nur des »offenen Auges«, das die ratiomorphe nicht-rationale Leistung der Gestaltwahrnehmung verleiht. Wer diese Art der Weltanschauung teilt, empfindet unfehlbar Mitgefühl mit der Kreatur, mit dem Schicksal des Einzelwesens; mit diesem Mitgefühl ist auch schon die Liebe zum Lebendigen schlechthin geboren und mit ihr das Bewußtsein der Verantwortlichkeit.
All dies sind keine sentimentalen Illusionen, wie die Anhänger des ontologischen Reduktionismus zu glauben scheinen. Wenn ich der Wirklichkeit des »nur« Subjektiven den ganzen zweiten Teil dieses Buches gewidmet habe, so geschah das, um eben diesem Irrtum vorzubeugen.
Alles, was in diesem Buche steht, ist eine Konsequenz aus den Anschauungen der evolutionären Erkenntnistheorie und der einerseits bescheidenen und andererseits doch selbstsicheren Meinung, die sie uns über uns selbst vermittelt. Sie gewöhnt uns gründlich jene tragische Selbstüberschätzung ab, die wir von der altgriechischen Kultur geerbt haben; sie lehrt uns, den
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Menschen nicht als Widerpart und Gegenspieler der übrigen Natur zu sehen, wie der platonische Idealismus - besser gesagt, Ideismus - und schließlich auch der transzendentale Idealismus Immanuel Kants annehmen. Diese Erkenntnistheorie lehrt uns aber vor allem auch, alle kognitiven Leistungen des Menschen für Funktionen realer physiologischer Organisationen zu halten, die in unserem Erleben dieselbe wirkliche Außenwelt abbilden, wie die quantifizierende Ratio es tut. Diese Einschätzung des Subjektiven ist aber, wie schärfstens betont werden muß, das Ergebnis rationalen Denkens.
Ich behaupte, daß diese an sich banalen Erkenntnisse, wenn auch häufig unreflektiert und unbewußt, der Arbeit aller Naturforscher zugrunde liegen, die die Tatsache der Evolution in ihrer vollen Bedeutung erkannt haben. Rupert Riedl hat diese mehr oder weniger unbewußte Verbreitung einer neuen Erkenntnis dem Wachsen eines Pilzmycels verglichen, das sich unterirdisch verzweigt und dann an verschiedenen Stellen Fruchtkörper hervortreibt, die bei oberflächlicher Betrachtung unabhängig voneinander zu sein scheinen. Der Gedanke der evolutionären Erkenntnistheorie wurde gleichzeitig in scheinbarer Unabhängigkeit von Karl Popper, Donald Campbell, Rupert Riedl und mir selbst ausgesprochen. Wir alle sind auf völlig verschiedenem Wege zu ihren Ergebnissen gekommen. Popper kam von der Logik, Riedl von der vergleichenden Morphologie, Campbell von der Psychologie,
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ich selbst vom Studium tierischen Verhaltens. Rupert Riedl hat vor kurzem herausgefunden, daß Ludwig Boltzmann schon vor einem Jahrhundert das gleiche gewußt hat. Dieser schreibt: »Wie wird es jetzt um das stehen, was man in der Logik Denkgesetze nennt? Nun, diese Denkgesetze werden im Sinne Darwins nichts anderes sein als ererbte Denkgewohnheiten,... da, wenn wir diese Denkgesetze nicht mitbringen würden, jedes Erkennen aufhören würde und die Wahrnehmung ohne jeden Zusammenhang wäre.« Wir brauchen uns also alle auf unsere neuen Erkenntnisse nicht allzu viel einzubilden. Käthe Heinroth, die Witwe meines großen Lehrers, zitierte in Kritik einer Inhaltsübersicht dieses Buches, was ihr Mann dazu gesagt hätte, nämlich: »Aber das weiß doch jeder Naturwissenschaftler, das braucht man doch nicht noch extra zu sagen.« Wir sind aber überzeugt, daß Oskar Heinroth heute anderer Ansicht wäre. Max Planck schrieb mir zu meiner ersten Arbeit, in der diese Gedankengänge niedergeschrieben wurden, es gereiche ihm zur tiefen Befriedigung, daß man, von so völlig verschiedenen Induktionsbasen ausgehend wie er und ich, zu so völlig übereinstimmenden Anschauungen über das Verhältnis zwischen realer und phänomenaler Welt kommen könne.
Sicher hat Heinroth recht: Sicher ist alles, was ich in diesem Buch gesagt habe, eigentlich selbstverständlich. Aber gerade auf dieser Banalität des Menschenbildes, das die evolutionäre Er-
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kenntnistheorie entwirft und das ich in diesem Buch wiederzugeben versucht habe, gründet sich meine Hoffnung, daß dem Abbau des Menschlichen Einhalt geboten werden kann. Es müßte doch - »beim Hund«, wie Piaton den Sokrates sagen läßt - möglich sein, sie zur allgemeinen Kenntnis zu bringen.
Schon immer hat es mich gereizt, die »Weltbildapparate« sehr verschiedener Tiere zu vergleichen. Alfred Kuhns klassisches Buch »Die Orientierung der Tiere im Raum« hat die Anregung dazu gegeben. An der räumlichen Orientierung der Tiere läßt sich sehr schön illustrieren, wie verschieden die Art und die Menge der Information sind, die verschiedene Lebewesen durch ihre räumlich orientierenden Reaktionen gewinnen. Das Pantoffeltierchen »weiß« bei seiner Fluchtreaktion, der sogenannten phobischen Reaktion, nur, in welcher Raumrichtung der Weg versperrt ist. Bei der sogenannten topischen Reaktion, die es auch schon bei Paramaecium gibt, wird die Wendung des Tieres nach dem Einfallswinkel des Reizes gesteuert, so daß das Tier nicht blindlings in irgendeiner anderen, sondern in der einzig sinnvollen Richtung weiterschwimmt. Die topische Reaktion enthält somit ein unvergleichlich viel größeres Maß an Information als die phobische.
Von solchen einfachsten Formen einer »Repräsentation« des Raumes im Verhaltensrepertoire niedrigster Tiere führt eine lückenlose Stufenleiter hinauf zu der menschlichen Anschauungs-
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form des Raumes. Von Menschenaffen wissen wir, daß sie, ohne einen Muskel - es seien denn Augenmuskeln - zu bewegen, in einem rein »vorgestellten« Raum probeweise Handlungen vollziehen können. Dieses probeweise Handeln im vorgestellten Raum nennt man gemeinhin Denken. Wenn der Affe in dieser Weise durch Nachdenken die Lösung des vorliegenden Problems gefunden hat und mit einem Freudenschrei und voller Erfolgssicherheit die Handlung vollzieht, hat man als Beobachter zwingend den Eindruck, dieses Tier erlebe, was Karl Bühler das »Aha-Erlebnis« genannt hat.
Wenn man die verschiedenen Bilder miteinander vergleicht, die in den Aktionssystemen verschiedener Lebewesen entworfen werden, so kommen uns einige wesentliche Tatsachen zum Bewußtsein. Zunächst finde ich es ein erstaunliches Ergebnis, daß nichts von dem, was die Tiere über die räumlichen Gegebenheiten dieser Welt wissen, falsch ist; sie sind nur unvergleichlich viel ärmer an Information als wir. Auch in unserem Weltbild ist die Information richtig, auf die sich die phobische Reaktion des Pantoffeltierchens gründet: In der Richtung, aus der die Fluchtreaktion das Tierchen abzuweichen zwingt, geht es tatsächlich nicht weiter! Oft muß es mehrere phobische Reaktionen hintereinander ausführen, ehe es eine hindernisfreie Bahn findet. Vergleicht man das Weltbild einfacherer Lebewesen mit dem unseren, so erscheint jenes nicht unrichtig, nicht verzerrt, sondern gewisser-
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maßen auf einen gröberen, sehr viel weniger Einzelheiten wiedergebenden »Raster« entworfen -ein Gleichnis, das ich vor mehr als 40 Jahren in meiner Schrift »Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie« gebraucht habe. Mit anderen Worten: Alles, was die Tiere über die reale Außenwelt wissen, ist richtig] Wenn man sich seit frühester Kindheit bewußt ist, daß man ein Lebewesen ist wie eine Eule oder eine Wildgans, so nimmt man es als selbstverständlich hin, daß unser eigenes Wissen um die Welt ebenso durch die Leistungsgrenzen unseres Weltbildapparates beschränkt ist wie das jedes anderen Organismus auch, auch wenn die Grenzen unseres Wissens unvergleichlich viel weiter gezogen sind. Gerade wenn man die gewaltige Verschiedenheit der Weltbildapparaturen einzelner Tierformen in Betracht zieht, wird einem eine bedeutsame Tatsache klar: So weit sich jene Meldungen auf dieselbe Umweltbegebenheit beziehen, widersprechen sie einander nie. Auch die »eindimensionale Raumanschauung« des Pantoffeltierchens bildet eine »objektive« Gegebenheit der Außenwelt ab, die sich in unserem höher differenzierten Weltbild in gleicher Weise darstellt.
In meinem Buch »Die Rückseite des Spiegels« habe ich auseinandergesetzt, daß die Übereinstimmung zwischen den Weltbildern verschiedener Menschen und vor allem die zwischen verschiedenen Arten von Organismen ein starkes Argument für die Annahme einer einheitlichen außersubjektiven Wirklichkeit darstellen, die sich in diesen Meldungen malt.
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Die Einsicht in die Tatsache, daß all unser Erkennen auf einer Wechselwirkung, auf einer Auseinandersetzung zwischen einem realen Erkenntnisapparat in uns und einer ebenso realen Welt außer uns besteht, macht uns gleichzeitig bescheiden und selbstsicher. Sie macht uns bescheiden, weil es frevelhafter Hochmut wäre, zu glauben, die Grenzen des menschlichen Erkenntnisapparates auf seiner gegenwärtigen Entwicklungsstufe seien mit den Grenzen der Erkennbarkeit schlechthin gleichzusetzen. Selbst in einem Zeitraum, der vom Standpunkte der Phylogenese aus betrachtet winzig ist, hat der Mensch durch die technische Konstruktion von »Erkenntnisprothesen« die Grenzen des Erkennbaren wesentlich erweitert. Die Leistung eines solchen Hilfsapparates habe ich schon in dem eben erwähnten Buch als Gleichnis gebraucht, um zu zeigen, wie abwegig es wäre, die gegenwärtigen Grenzen zwischen dem Erkennbaren und dem Unerkennbaren für endgültig und absolut zu erklären.
Wir wundern uns also nicht darüber, wenn wir auf Dinge stoßen, die sich mit den Mitteln unseres Apparates nicht abbilden lassen, und auch nicht darüber, daß wir manchmal »Doppelbilder« zu sehen vermeinen, wenn sich etwa, wie schon dargetan, dieselbe reale Gegebenheit einmal als Korpuskel und das andere Mal als Welle abbildet. Wir sind uns voll bewußt, daß wir wie Kinder im Märchenwald inmitten einer schier
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unendlichen, aber eben doch im Prinzip endlichen Fülle von unergründlichen Geheimnissen stehen, und wir wissen auch, daß diese Geheimnisse im Machtbereich der natürlichen Schöpfung liegen: Daß sie »unergründlich« sind, liegt an der Beschränktheit unserer Erkenntnisleistung. Es gibt, um noch einmal Carl Zuckmayers Rattenfänger zu zitieren, natürliche Dinge, die wir kennen, und es gibt verborgene, die auch natürlich sind.
Die evolutionäre Erkenntnistheorie bringt uns also zwingend bei, daß wir den Menschen und seine Erkenntnisfähigkeit nicht überschätzen sollen, vor allem daß das Unergründliche nicht notwendigerweise etwas Übernatürliches sein muß. Gleichzeitig mit der Erkenntnis der Grenzen unseres Erkennens aber kommt uns das Vertrauen in die Wirklichkeit dessen, was unsere kognitiven Funktionen von der uns umgebenden außersubjektiven Wirklichkeit abbilden, und dieses Vertrauen macht uns selbstsicher. Wenn unser Weltbildapparat in Anpassung an diese wirkliche Welt entstanden ist, so wurde seine heutige Form durch den Selektionsdruck bestimmt, den seine Abbildungsleistung auf ihn ausgeübt hat.
Daraus ergibt sich eine sehr bestimmte Einstellung zu dem Verhältnis zwischen realer und phänomenaler Welt, eine Einstellung, die im übrigen identisch mit derjenigen ist, die uns der sogenannte gesunde Menschenverstand diktiert. Sie ist in wenigen Worten wiederzugeben: Jedem Phänomen, mag es nun durch eine Wahrneh-
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mung aus der außersubjektiven Wirklichkeit oder durch Gefühle und Affekte aus unserem Inneren kommen, entspricht etwas Reales. Wirklich ist also keineswegs nur das physikalisch Definierbare und quantitativ Verifizierbare, sondern auch alles Gefühlsmäßige. Die Fähigkeit zu Liebe und Freundschaft mit allen sie begleitenden Gefühlen ist genauso im Laufe der menschlichen Phylogenese entstanden wie die Fähigkeiten, zu messen und zu zählen. Beide Arten von Phänomenen beziehen sich auf dieselbe Wirklichkeit, zu der ein fühlender und erlebender Mitmensch ebenso gehört wie die meß- und zählbaren Dinge.
Darin sehe ich die vielleicht wichtigste Auswirkung der evolutionären Erkenntnistheorie. Im Augenblick, in dem wir verstanden haben, daß Gefühle ebensogut Meldungen über äußere und innere Wirklichkeiten sind wie Meßergebnisse, ändern sich unsere Anschauungen über die Beziehungen, die zwischen dem Wißbaren und dem Unergründlichen bestehen. Vor allem aber verändert sich das Bild, das wir uns von uns selbst, vom Menschen, machen: Der Glaube, daß wir nach dem endgültigen Ebenbild Gottes geschaffen sind, wird uns gründlich ausgetrieben. Gleichzeitig aber erkennen wir, wie groß und wie wunderbar diese Welt ist, an der wir teilhaben. Eben dies, so schreibt Karl von Frisch, »führt zu Ehrfurcht vor dem Unbekannten, und wer solchen Gefühlen eine Gestalt gibt, an der er für sein Leben festen Halt findet, der ist auf gutem
Wege«. Mit der Erkenntnis, daß wir voll und ganz von dieser Welt sind, kommt auch die Erkenntnis, daß uns die volle Verantwortung für sie aufgetragen ist. Wir sehen den Menschen nicht wie Jacques Monod als einsamen Fremdling am Rande des Universums und auch nicht wie der transzendentale Idealismus als polaren Widerpart einer grundsätzlich unerkennbaren Welt. Er ist nur ein ephemäres Glied in der Kette des Lebendigen; es besteht Grund zu der Annahme, daß er eine Entwicklungsstufe auf dem Wege zum wahrhaft humanen Wesen ist. Noch kann man hoffen, daß dem so sei.
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Nachwort: Das Credo des Naturforschers
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Ich fühle mich gedrängt, ein Nachwort zu schreiben, das sich an alle jene richtet, die den Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie für einen krassen Materialisten halten, weil er das Wort »Gott« nicht ausspricht. In den Zehn Geboten heißt es: Du sollst den Namen Gottes nicht eitel nennen. Ich empfinde eine tiefe Hemmung, ihn überhaupt zu nennen; im Besonderen empfinde ich immer wieder die Anwendung des männlichen persönlichen Fürwortes als eine beinahe lästerliche Anmaßung, selbst wenn man dieses mit zwei großen Buchstaben schreibt! Ich empfinde es ebenso als eine solche, wenn jemand - und sei es noch so naiv und ehrfurchtsvoll - von einer »Begegnung mit Gott« spricht. Sokrates hat, laut Piaton, offenbar etwas Ähnliches empfunden, als er sich darauf beschränkte, von »irgend etwas« Göttlichem - 8at|xöviov xi - zu sprechen.
Es scheint unmöglich zu sein, dem esoterischen Ideisten beizubringen, daß unser Bestreben, diese Welt in all ihrer säkularen Diesseitigkeit, so weit es uns möglich ist, zu erkennen, daß dies keinen Verzicht auf alles Transzendente bedeutet. Noch schwerer ist es, wie schon Nicolai Hartmann betont hat, begreiflich zu machen, daß das Transzendente geradezu geleugnet wird, wenn man die Welt platonischer Ideen aus ihrer Höhe jenseits von Raum und Zeit herabholt und behauptet, daß sie als eingeborene Leitbilder und zielstrebige Antriebskräfte in den Lauf der Welt eingreifen. Ich habe mir im ersten Teil dieses Buches alle erdenkliche Mühe gegeben, um zu zeigen, daß dem schöpferischen Geschehen auf dieser Welt kein wohldurchdachtes Konzept zugrunde liegt, nach dem sich die Entwicklung im Gang durch Jahrmillionen von Stufe zu Stufe folgerichtig entfaltet hätte.
Carl M. Feuerbach hat in seiner Schrift »Die Abstammung des Menschen im Lichte der Esoterik« in begeisterter und wirklich wunderschöner Sprache getrachtet, die »Affentheorie« Darwins zu widerlegen: »Alles ist plan- und ziellos improvisiert, nichts vorprogrammiert, der sonderbare Primat Mensch< keine gottgewollte Ausnahme! Aus dem Stegreif sozusagen, im undirigierten freien Spiel phantasierender Kräfte, tappt die Natur in undurchdringlichem Nebel, durch >natürli-che Zuchtwahl im Kampf ums Dasein<, durch blindlings vagabundierende Zufälle und Mutationen in den jeweils vorliegenden äußeren Umständen der Umwelt einer ungewollten und ungewissen fernen Zukunft zu.«
Hier ist in der Absicht, Darwins Theorie über den Ursprung der Arten ad absurdum zu führen, mit bemerkenswerter dichterischer Kraft ausgedrückt, was die schöpferische Evolution tatsächlich tut. Was immer die schöpferische Kraft sein mag, die nie dagewesenes Höheres aus niedrigeren Wesen entstehen läßt - sie schafft »aus dem Stegreif«! Wie denn anders sollte der seiner Schöpfung immanente Schöpfer schaffen? Er ist nicht der Schauspieler, der Worte spricht, die ein großer Dichter niedergeschrieben hat; er ist der Dichter selbst, der hier spricht. Er ist nicht der ausübende Musiker, der die Werke eines Komponisten wiedergibt; er ist der Komponist selbst, der im undirigierten Spiel phantasiert. Wir sehen die schöpferischen Leistungen, zu denen begnadete Menschen befähigt sind, als spezielle Fälle des weltweiten Schöpfungsvorganges, jenes Spiels von allem mit allem, dem Niedagewesenes entspringt. Wenn die Aussage, der Mensch sei das Ebenbild Gottes, irgend Wahrheit in sich trägt, so ist es in Hinsicht auf dieses schöpferische Tun.
Wer an einen Gott glaubt - und sei es an den eifersüchtigen, mit den Eigenschaften eines jähzornigen Stammeshäuptlings ausgestatteten Gott Abrahams -, weiß immerhin mehr über das Wesen des Kosmos als jeder ontologische Reduktionist. Auch der naivste Monotheist, der sich den lieben Gott als Vaterfigur vorstellt, ist gegen Wertblindheit gefeit. Selbst wenn er glaubt, daß sein Allmächtiger und Allwissender letzten Endes alles zum Guten hinausführen werde, kann er die satanischen Fehlentwicklungen der heutigen Zeit nicht übersehen. Schlimmstenfalls wird er an der Allmacht Gottes zweifelnd werden, weil er die Existenz des Bösen allüberall vor Augen geführt bekommt. Der Wahrheitsgehalt des Monotheismus wird den Gläubigen in seinem praktischen Tun auf dem rechten Weg halten; die kategorischen Befehle, die er von seinem Gott empfängt, erweisen sich identisch mit jenen, denen wir zu gehorchen trachten.
Was ich indessen dem esoterischen Denken übelnehme, ist die wahrhaft frevelhafte Überheblichkeit des von ihm entworfenen Menschenbildes. Die Vorstellung, der Mensch sei das von Anfang an festgelegte Ziel aller Entwicklung, scheint mir das Paradigma jenes verblendeten Hochmuts, der vor dem Fall kommt. Wenn ich glauben müßte, daß ein allmächtiger Gott den heutigen Menschen, wie er durch den Durchschnitt unserer Spezies repräsentiert wird, absichtlich so geschaffen habe, wie er ist, würde ich fürwahr an Gott verzweifeln. Wenn dieses, in seinem kollektiven Tun oft nicht nur so böse, sondern auch so dumme Wesen das Ebenbild Gottes sein soll, muß ich sagen: »Welch trauriger Gott!« Zum Glück weiß ich aber, daß wir nach dem geologischen Zeitmaß »eben noch« anthropoide Affen gewesen sind; ich weiß außerdem von den Gefahren, die durch die schnelle Entwicklung des menschlichen Geistes für die menschliche Seele heraufbeschworen wurden; und ich weiß, zum dritten, daß viele dieser Gefahren ganz eindeutig aus Krankheiten entspringen, die wenigstens im Prinzip heilbar sind. Es ist grundsätzlich unvor-aussagbar, ob Homo sapiens zugrunde gehen oder überleben wird; wir sind aber verpflichtet, für das Überleben zu kämpfen.
Unvoraussagbarkeit aber ist eine unabdingbare Eigenschaft alles Lebendigen. Ein geschlossenes, in allen seinen Vorgängen grundsätzlich voraussagbares System, wie es etwa Nietzsche in seiner Lehre von der ewigen Wiederkehr entwirft, ist der schrecklichste aller Schrecken; denn ein geschlossenes System ist per definitionem ein nichtlebendiges System. Ein solches geschlossenes System gibt es aber nicht, und es ist nicht die Biologie, die uns von diesem Schrecken befreit hat, sondern die moderne Physik selbst. Es übersteigt die Fähigkeiten des menschlichen Denkens, zu erfassen, in welcher Beziehung die menschliche Freiheit zu der Unvoraussagbarkeit des Weltgeschehens stehen mag. Wohl aber kann man verstehen, daß in einem prädestinierten, d. h. auf vorherbestimmten Bahnen verlaufenden Weltgeschehen für menschliche Freiheit kein Platz wäre.
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