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2.  Die Folgen der Repression 

 

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Das Mangelsyndrom und der Gefühlsstau als Folge der Repression

Repression im sozialpsychologischen Sinne heißt Unterwerfung von Menschen unter den Willen Mächtiger und Anpassung an festgelegte Normen. Folgen solche Normen nicht mehr natürlichen Prozessen, sondern werden von wirtschaftlichen, militärischen oder ideologischen Interessen dominiert, sind massenweise Unterdrückung natürlicher Bedürfnisse und normaler menschlicher Empfindungen die unweigerliche Folge. Es ist weitverbreitet, solche äußeren Zwänge anzuführen, um unangenehme Forderungen und Verbote zu begründen, hingegen werden selten die Triebkräfte benannt, die zu gesellschaftlichen Strukturen geführt haben, die dann das Befolgen repressiver Normen abverlangen. Meine Sicht ist die psychologische Perspektive, die seelische Gründe benennen will, die ursächlichen Anteil an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen haben.

Ein Psychotherapeut gewinnt seine Erkenntnisse aus der Analyse der Lebensgeschichten von Menschen, die körperlich, seelisch oder sozial in eine Krise geraten sind. Menschen in Not sind eher bereit, ihren Blick in die belastende Vergangenheit ihrer Geschichte zu wagen, so daß uns in der Therapie Informationen zugänglich werden, die die meisten Menschen sonst lieber vor sich selbst und vor anderen verborgen gehalten hätten.

Hier seien die wesentlichen Grundpositionen der psychotherapeutischen Erkenntnisse, die für unser Thema von Bedeutung sind, vereinfachend zusammengefaßt:


Aber spätestens als Erwachsener kann er Möglichkeiten finden und wahrnehmen, sich von den Auswirkungen ungünstiger Erlebnisse freizumachen. Auch wenn der Mensch infolge seiner frühen Erfahrungen später krank geworden ist, trägt er immer auch Verantwortung für sein Verhalten und ist prinzipiell schuldfähig. Nur in seltenen Fällen ist diese Schuldfähigkeit eingeschränkt. Wir müssen den Menschen also stets als Subjekt und Objekt, als Täter und Opfer in allen sozialen Beziehungen verstehen.

Die Quantität und die Qualität der Befriedigung aller Grundbedürfnisse entscheidet wesentlich über gesunde oder kranke Entwicklung. Nur die stetige und hinreichende Befriedigung seiner Bedürfnisse verschafft dem Menschen regelmäßige Entspannung und damit die Grunderfahrung von Sicherheit, Gewißheit, Vertrauen, Selbstwert, Glaube und Hoffnung.

Ein regelmäßig befriedigter Mensch ist in seiner eigenen Natur gegründet, damit werden alle Sinnfragen für ihn überflüssig. Er weiß einfach, wer er ist, was er will und was für ihn richtig ist, weil er im fühlenden Kontakt mit sich ist und damit Kontakt zur Welt hat. Dies schließt stets solidarisches Mitgefühl, Respekt und Toleranz zu anderen Menschen, zum Leben und zur Natur mit ein. Werden dagegen die natürlichen Grundbedürfnisse nur mangelhaft befriedigt, entstehen dadurch Spannung, Gereiztheit, Unzufrieden­heit und Angst. Ein Zustand also, den ich im weiteren als Mangel­syndrom bezeichne, und der schon für sich allein eine belastende Hypothek für Gesundheit und Lebensfreude darstellt.

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Normalerweise reagiert der Mensch mit seinen Gefühlen auf einen Mangelzustand und erfährt dadurch zumindest eine Entlastung, wenn er schon nicht ausreichend befriedigt wurde. Wird ihm aber auch das Fühlen untersagt, so entsteht ein Gefühlsstau mit weitreichenden Folgen. Der chronische Mangelzustand wächst sich zur Grunderfahrung von Unsicherheit, Minderwertigkeit, Mißtrauen und Hoffnungs- und Sinnlosigkeit aus. Ein daran leidender Mensch ist seiner Natur entfremdet und entwurzelt, er bleibt fortan abhängig und autoritätssüchtig. Er braucht fremde Führung, äußere haltgebende Werte und aufgenötigte Zwänge, um sich orientieren und ersatzweise befriedigen zu können. Der Gefühlsstau verursacht einen chronischen Spannungs­zustand, dessen Ursache meist nicht mehr bewußt ist, der aber ständig Ventile zur Abreaktion sucht und braucht oder als ein zwanghafter Antreiber für laufendes Agieren und Kompensieren wirksam ist und den Menschen keine wirkliche Ruhe und Entspannung mehr gönnt.

Es besteht immer eine Kluft zwischen der Bedürfnislage der Kinder und der Befriedigungs­möglichkeit und -bereitschaft der Eltern mit ihrem sozialen und kulturellen Umfeld. Dies ist letztlich die Kluft zwischen Natur und Kultur, zwischen Lustprinzip und Realitäts­prinzip, und die Spannung dieser Diskrepanz ist ein natürlicher Anreiz zur Entwicklung, Entfaltung und sinnvollen Gestaltung des Lebens, wenn sie nicht zu groß wird.

Der Mensch verfügt über eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit. Er kann eine Menge an Frustration seiner Bedürfnis­befriedigung aushalten, sonst würden auch viele Kinder die Folgen der repressiven Erziehung nicht überleben. Allerdings sind dann die Auswirkungen dieses Prozesses erheblich. Sobald die Anpassung zur chronischen Einengung wird, sind Charakter­deformierungen und Erkrankungen die wesentlichsten Folgen.

Die Charakterdeformierungen sind als solche nicht immer leicht zu erkennen. Es kann durchaus der Fall sein, daß die Deformierung allgemein wird und dann für »normal« gehalten wird. Genau dies will ich für die Verhältnisse im »real existierenden Sozialismus« herausarbeiten. In diesem System konnte man nur mit einer charakterlichen Deformierung halbwegs überleben, gesundes Verhalten wäre unweigerlich bestraft worden; Gesundheit meint in diesem Zusammenhang: Offenheit, Ehrlichkeit, Eigenständigkeit, Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung, Mut zu eigenen Positionen und zu kreativen Leistungen, auch gegen den Strom der Mehrheit – also alles Eigenschaften, die in der DDR als subversiv galten und mit Nachdruck jedem einzelnen ausgetrieben wurden.

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Damit unser Gesellschaftssystem funktionieren konnte, mußten die autoritären Strukturen in den einzelnen Menschen verankert werden: entweder in der aktiven Form, indem nun selbst wieder Macht gegen andere ausgeübt wurde, oder in der passiven Form, indem man sich durch Unterwerfung Machtausübung gefallen ließ. Darin gab es durchaus Schattierungen, aber keine entscheidende Alternative. Wir werden in der Aufarbeitung unserer Geschichte zu unter­scheiden haben zwischen kriminellem Verhalten, moralischer Verfehlung und einfacher menschlicher Schwäche. Inwieweit jeder von uns mehr Täter oder Opfer war, ist also strafrechtlich relevant, aus therapeutischer Sicht aber nicht entscheidend, weil jede soziale Position im autoritären System Einschränkung, Verlust und Störung bedeutete und damit Anlaß für notwendige Heilung bietet.

Dem Psychotherapeuten werden vor allem die psychosozialen Erkrankungsfolgen des Mangel­syndroms zur Behandlung angeboten, so daß von diesen Erfahrungen noch nicht ohne weiteres auf den größeren Teil der Bevölkerung geschlossen werden kann. Nehmen wir aber statistische Untersuchungen und psychosomatische Erkenntnisse zu Hilfe, dann müssen wir den großen Anteil psycho-sozialer Faktoren an allen Erkrankungen sehen lernen, auch wenn im klinischen Erscheinungsbild körperliche Symptome im Vordergrund stehen, und zur Kenntnis nehmen, daß bis zu 95 Prozent der heutigen Menschen in Industrienationen im Laufe ihres Lebens an belastenden funktionellen Beschwerden zu leiden haben.

Auch gehört zu jedem Patienten ein pathogenes Umfeld (Partner/-in, Familie, Kollegenkreis, Institutionen), was durch systemisches Denken und Analysieren erschlossen werden kann. Die Zahl der Betroffenen vergrößert sich so schon erheblich. Wir dürfen aber auch vom massenhaften Anpassungsverhalten, wie z.B. in den sozialen Rollen in der DDR, vom weitverbreiteten gesundheits­schädigenden Verhalten (Genußmittel­mißbrauch, Fehl- und Überernährung, Leistungsstreß), von der Zahl der Ehescheidungen und der Suizide, vom dominierenden Freizeitverhalten (Bewegungsarmut, Fernsehen als Massenphänomen, eingeschränkte Kommunikation) und vom zerstörerischen Umgang mit der Umwelt auf kollektive Fehlent­wicklungen schließen.

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Der innere Mangelzustand 

 

Repressive Verhältnisse schränken die natürliche Bedürfnisbefriedigung ein, und sie unterbinden die emotionalen Reaktionen darauf. Betrachten wir in diesem Zusammenhang die natürliche Bedürfnisstruktur des Menschen etwas genauer, wie sie uns psychotherapeutische Theorie und Praxis lehrt. Wir wollen dabei die Bedürfnisse zum besseren Verständnis in körperliche, seelische, soziale und spirituelle Grundbedürfnisse unterteilen, ohne dabei den ganzheitlichen Charakter aller Bedürfnisse in Frage zu stellen. Ich will einige wesentliche natürliche Grundbedürfnisse benennen:

Vergleicht man diese Liste der Grundbedürfnisse mit den Wegen und Möglichkeiten ihrer Befriedigung in unserem Land, so ist das Ergebnis verheerend. Es genügt an dieser Stelle das Ergebnis der familiären und staatlichen Repression stichpunktartig zu resümieren:

Atmen: Die Atmung ist für ein gesundes Leben von größter Bedeutung. Dabei geht es nicht nur um saubere und schadstoffarme Luft, sondern vor allem um die Fähigkeit zur vollen und tiefen Ein- und Ausatmung. Einatmen hat damit zu tun, sich etwas zu nehmen vom Leben und Ausatmen mit dem Mut, sich loszulassen und herzugeben.
     Die Luft, die wir zum größten Teil in der DDR atmen mußten, war häufig gesundheits­schädigend mit giftigen Stoffen belastet. Umweltdaten unterlagen der Geheimhaltung, was nicht anders gedeutet werden kann, als daß der Staat mit vollem Wissen seinem Volk Schaden zugefügt hat. Die Folgen davon waren nicht nur Reizzustände, Infekthäufungen und toxische Auswirkungen, sondern mit dem Mangel an Sauerstoff wurden ganz einfach auch die Energieprozesse, letztlich die körperliche und emotionale Vitalität der Menschen schwer beeinträchtigt.

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In der körperorientierten Psychotherapie ist die tiefe Atmung ein wesentlicher Zugang zu den gestauten und blockierten Gefühlen. Atem anhalten und Atemverflachung sind dagegen probate Mittel, um unerwünschte Gefühle zu unterdrücken bzw. »unter Kontrolle« zu bringen. Und genau dies war für uns eine häufig zu stellende Diagnose: flache Atmung als Zeichen der emotionalen Zurückhaltung.
Es gibt eine schöne Legende: Jedem Menschen ist für sein Leben eine ganz bestimmte Anzahl von Atemzügen gegeben. Wer ruhig und tief atmen kann, lebt also länger als einer, der flach und hastig atmet. Diese Mär ist medizinisch gesehen leider wahr. Eine repressiv-gefühlsunterdrückende Erziehung erzwingt eine Atemverflachung, und wenn die Luft auch noch vergiftet ist, wird unser Lebendigkeit eingeengt und unser Leben verkürzt.

–  Ernährung und Ausscheidung: Das Stillen war in seiner Bedeutung für die gesunde psychische Entwicklung ebenso wenig erkannt wie die verheerenden Auswirkungen einer rigiden Sauberkeitserziehung auf Säuglinge. Im übrigen war die Ernährung vor allem überkalorisch und ungesund. »Belohnung« durch Süßigkeiten war weit verbreitet. Exkremente wurden mit einem starken Ekeltabu belegt: Spucken, Rülpsen und Furzen waren immer verpönt.

–  Rhythmus: Der natürliche Rhythmus der Kinder wurde von den kulturellen Zwängen und Gewohnheiten der Eltern nicht nur restlos überlagert, sondern geradezu unterdrückt.

–  Sexualität: Eine allgemein sexualfeindliche Erziehung war die Regel. Dabei mußten wir zur Kenntnis nehmen, daß statistische Befragungen scheinbar günstigere Ergebnisse brachten, die jedoch einer genaueren Analyse nicht standhielten. Da spielte das Tabu, die Scham und die Scheu, auf diesem sensiblen Gebiet die ganze Wahrheit zu übermitteln, eine wichtige Rolle. Viele Menschen wollten sich gern als sexuell zufrieden sehen, wie sie auch gern von einer »glücklichen« Kindheit sprachen und von Eltern, die doch ihr »Bestes« gegeben hätten. Unter den von uns untersuchten 5000 Patienten war nicht einer, der sich nicht in seiner sexuellen Lust- und Befriedigungs­fähigkeit als behindert und gestört eingeschätzt hätte. Bereits ein sehr großer Teil litt an Scham- und Schuldgefühlen und an Ängsten und Hemmungen im sexuellen Kontaktbereich. Offensichtliche sexuelle Funktions­störungen (z.B. Impotenz, Frigidität) waren häufig, und volle »orgastische Potenz« war als eine grundlegende leib­seelische Entspannungs- und Befriedigungs­möglichkeit weitgehend unbekannt.

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Die als »zufrieden« eingeschätzten Sexualerfahrungen gründeten sich auf genital begrenzte Orgasmusfähigkeit.
Der allgemeinen Tabuisierung war auch geschuldet, daß es über Perversionen von gesellschaftlicher Relevanz, wie z.B. sexuelle Gewalt in der Familie u.a., keine wirkliche öffentliche Auseinandersetzung gab.

–  Freies und ungehindertes Denken und Fühlen: Hier erübrigt sich jeder Kommentar. »Wir sagen dir, was du denken, fühlen sagen und tun darfst«: Das war das Credo einer verschworenen Übereinstimmung von Eltern, Lehrern, Erziehern, Ärzten, Pastoren und der Partei- und Staatsfunktionäre. »Kein Widerspruch« war die allgemeine Haltung, das »richtige Bewußtsein« wurde permanent abverlangt, Losungen und Parolen begleiteten den Alltag und wurden über die Medien eingehämmert, Experten-Meinung galt als unantastbar, und Belehrungen, was »rechter Glaube« sei, waren nicht selten.

–  Lieben und Geliebtwerden: Beide Bedürfnisse wurden weit verbreitet schwer frustriert. Wenn es nicht die elterliche Angst vor Gefühlen überhaupt oder die kompensatorische Liebesforderung für die eigenen Defizite und Frustrationen war, verhinderten die sozialen Zwänge das Eingehen auf die Liebesbedürfnisse der Kinder.
Es überwog grundsätzlich die an Bedingungen geknüpfte »Liebe«: »Wir haben dich nur gern, wenn du unsere Erwartungen erfüllst und unseren Vorstellungen entsprichst!« Dies war wohl der wirksamste und nachhaltigste Verformungsmechanismus, denn auf mütterliche und elterliche Zuwendung ist das Kind auf Gedeih und Verderb angewiesen, und es wird stets alles tun wollen, um seine Eltern wohlwollend zu stimmen. Die häufige Abwesenheit der Eltern, ihr gestreßter und unbefriedigter Zustand ließen die Kinder fürchten, daß sie die Ursache des elterlichen Übels sein könnten. So versuchten sie sich umso mehr anzustrengen und anzupassen, nur um ihre Eltern wieder froh zu stimmen; viele Eltern lebten geradezu von dieser Zufuhr durch ihre Kinder. Diese Erfahrungen führten zu einer Illusion, und zwar massenweise: »Ich kann und muß mir >Liebe< verdienen. Wenn ich mich nur richtig anstrenge und noch besser all das tue, was den Eltern gefällt, dann bekomme ich endlich ihre Zuwendung und Anerkennung!« – Ein Vorgang, auf den wohl keine Industriegesellschaft verzichten kann, will sie »Arbeitstiere«, Soldaten und Funktionäre bzw. Manager produzieren.

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–  Kontakt-Haben, Verstanden-Sein, Dazugehören: Kinder wurden sehr häufig nicht verstanden, sie hatten zu verstehen! Sie bekamen Kontakt angeboten bei Wohlverhalten und Ablehnung bei spontanem und autonomen Verhalten. Sie »gehörten dazu« nur, wenn sie die vorgeschriebenen Regeln der Familie, des Kollektivs und des Staates anerkannten und erfüllten, sonst wurden sie als Sündenböcke, schwarze Schafe, Andersdenkende oder als politische Gegner ausgegrenzt und diszipliniert. So blieb vielen Kindern nur der Ausweg, sich über Beschwerden und Krankheiten den Kontakt zu erzwingen, auf den sie so begehrlich warteten.

–  Spirituelle Bedürfnisse: Sie waren in der Regel tief verschüttet und konnten weder erfahren noch gelebt werden. Das bis zum Erbrechen geübte Einschwören auf eine Parteilinie, auf die zumeist abstrakte marxistisch-leninistische Lehre, auf Phrasen und Parolen, auf Lippenbekenntnisse war so übermächtig und lückenlos, daß eine tiefe Abneigung und Unfähigkeit zur Sinnerfahrung daraus resultierte. Auch die autoritative und moralisierende Vermittlung religiöser Dogmen hat im Bereich »christlicher« Erziehung die Spiritualität eher behindert als gefördert. Die häufig geübte Praxis der Verkündigung und Vergebung wurde von vielen Menschen als Einengung ihrer religiösen Erfahrung erlebt und geschildert.

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Diese Liste zeigt in aller Kürze ein katastrophales Resultat. Eine schwerwiegende sowie vielfache Behinderung und defizitäre Befriedigung der wesentlichen Grundbedürfnisse der Kinder war praktisch von Geburt an und in den frühen, für die Entwicklung so entscheidenden Jahren die Regel. Dies hinterließ bei vielen Bürgern der DDR einen chronischen Mangelzustand, der in seiner Gesamtheit von Symptomen, Ursachen und Wirkungen als Mangelsyndrom erkennbar wird. Dieses Mangelsyndrom sehe ich als das allgemeinste pathogene Potential, von dem aus vielfältige Fehlentwicklungen ausgehen, die sich bereits in der Kindheit oder auch erst im Erwachsenenalter ausformen.

Man wird dieses Mangelsyndrom bzw. Teile von ihm in allen Industrie­gesellschaften mehr oder weniger ausgeprägt finden können. Sein Profil, die besondere Ausprägung und das Gewicht der einzelnen Teile bzw. die Ausbreitung als Massenphänomen sind aber Spezifika. Dabei war das Besondere an der Situation in der DDR das Zusammen­gehen der staatlichen und familiären Repression als Ursache des Mangelsyndroms und die sowohl innere wie auch äußere Ausformung des Mangels in unserem Lande.

 

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Die äußere Mangelsituation

 

Man darf die narzißtische Kränkung nicht unterschätzen, die vieltausendfach zum Lebensalltag in der DDR gehörte, wenn materielle und ideelle Wünsche nach äußeren Werten und Waren nicht erfüllt werden konnten. Es gab praktisch keinen Bereich des Lebens, der nicht vom Mangel gezeichnet gewesen wäre. Niemals konnte man sicher sein, eine bestimmte Ware oder Dienstleistung auch sofort zu bekommen. So ist z.B. eine ganz vorsichtige Standardfrage für den DDR-Bürger »Haben Sie ...?« oder »Könnte ich vielleicht ...?«  immer mit der typischen Unsicherheit gestellt [worden -OD], doch wieder enttäuscht und abgewiesen zu werden. Die ewige Suche nach bestimmten Waren, das Organisierenmüssen, die kleine Korruption der »Bezieh­ungen« hat uns alle chronisch zermürbt.

»Beziehungen« (im Volksmund: »Vitamin B«) waren eine Form der gegenseitigen Hilfe durch Abhängigkeit. Wer von einem Bekannten durch dessen Beruf oder Stellung erwarten konnte, irgendwann mal einen Vorteil zu ergattern, dem wurden auch Engpaß-Waren oder -Dienstleistungen angeboten, aufgehoben und heimlich verkauft. So konnte sich ein eigenartiges Netz von Bestechung, Schieberei, Korruption und Abhängigkeit entwickeln, auch die häufigen kleinen Diebstähle aus Betrieben und Baustellen gingen auf diese Verhältnisse zurück. Der heimliche Waren- und Naturalienhandel, durch kleine Schmiergelder in Fluß gehalten, hatte zu einer Situation geführt, die vom Volksmund so zusammengefaßt war: Obwohl es nichts gab, hatte jeder alles!

Diese allseits verbreitete Praxis hat kaum jemandem ein schlechtes Gewissen gemacht, es war mehr ein »Sport«, ein »Zeit­vertreib«, ein kleines Protest-Ventil, die staatliche Ordnung zu unterlaufen und den Mangel »auszutricksen«. Es gab bei diesen Geschäften Könner, die ihren ganzen Ehrgeiz in diesen Handel legten. Dennoch blieb das größere Spekulantentum eher eine Seltenheit, es war mehr eine kollektive stille Verschwörung zur Kompensation des Mangels, die sehr viel zur Ausgestaltung der psychosozialen Infrastruktur beigetragen hat. Wer etwas anzubieten hatte, konnte sich damit aufwerten, und wer etwas erschacherte, war stolz und zufrieden. So war jeder bemüht, sich kleine Privilegien zu verschaffen, um sich das belastende Alltags­leben etwas zu erleichtern.

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Demütigender war dann schon die Art und Weise des offiziellen Warenerwerbs: anstehen, Bittsteller sein, warten und oft genug als Kunde auch heruntergeputzt werden. Verkäuferinnen und die Angestellten im Dienstleistungsgewerbe waren häufig gereizt, schroff, unfreundlich und abweisend – sicher auch als Reaktion auf ihren Frust, nichts verkaufen zu können bzw. den Mangel verwalten zu müssen –, und gar nicht selten konnte man als Kunde auch verhöhnt werden: »Was denken Sie sich denn! Das hätte ich auch ganz gern! Haben Sie es nicht passend? Da kann ich Ihnen auch nicht helfen! Sie warten bis Sie dran sind!«

Warten und Anstehen erfüllten psychologisch einen wichtigen Zweck: Sich unterordnen und klein beigeben gehörte eben zu den Zielen der autoritären Unterwerfung. Hatte das spontane Leben dennoch mal aufgezuckt und wollte man einfach mal losgehen, um Kaffee zu trinken oder ein Essen einzunehmen, war spätestens dann die erneute Enttäuschung perfekt, wenn man die auf Einlaß wartende Schlange vor einem Restaurant sah oder am nächsten Lokal ein Schild »Ruhetag« vorfand. Dieser Mangelzustand hat systematisch gedemütigt, zermürbt und spontanes Leben erstickt.

Zu den spezifischen Verhältnissen in unserem Land gehörte die zirkuläre Verstärkung der innerseelischen Mangelerfahrung durch den äußeren Mangelzustand der planmäßigen Mißwirtschaft, was wiederum einen chronischen Frust erzeugte, der Unzu­frieden­heit, Kränkung und Demütigung verschärfte. Die Therapie machte uns aber darauf aufmerksam, daß gerade dieses Wechselspiel von gleichartigen inneren und äußeren Erfahrungen stabilisierende Wirkung für einen neurotisch eingeengten Zustand hatte.

Mit dem Lamentieren über die äußere Situation im Land konnte sehr gut und zuverlässig vom inneren Elend abgelenkt werden. Und mit der äußeren Misere blieb man in der seelischen Atmosphäre des inneren Unglücks. Wie schwer äußere Freiheit und glücklichere Verhältnisse von Menschen ertragen werden, die am inneren Mangel leiden, wird in der weiteren Darstellung noch eine zentrale Bedeutung bekommen. Hier sei schon vorausgeschickt: Befriedigende äußere Umstände machen unweigerlich die innere Unzufriedenheit bewußt, und das ist stets mit unangenehmen Erfahrungen verbunden, die möglichst vermieden werden wollen!

Der in der DDR erlebte äußere Mangel konnte aber immer nur im Verhältnis zur BRD verstanden werden. Nur im ständigen Vergleich erlebte sich der DDR-Bürger als minderwertig, zu kurz gekommen und als Mensch zweiter Klasse. Gegenüber vielen anderen Ländern in der Welt waren wir stets ein reiches und sattes Land.

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In der DDR wurde aber die D-Mark und ihre Kaufkraft zum Maßstab gemacht, also vor allem äußere Werte: der Verdienst, das Warenangebot, die Reisekilometer, die Höhe der Renten, aber auch die Qualität von Waren und Dienstleistungen. Daß man auch als Kunde oder Gast höflich und freundlich behandelt werden konnte und Bemühungen zu spüren bekam – so erlebten es viele Westreisende –, hat unsere Unzufrieden­heit hier im Lande besonders verstärkt.

Und im sozialistischen Ausland war es noch schlimmer: War man als Deutscher erkannt, wurde man regelmäßig »getaxt« und dann, wenn man den DDR-Status nicht zu verbergen wußte, war man häufig nicht mehr sonderlich interessant. Diese permanente narzißtische Kränkung, verbunden mit dem Eingesperrtsein, dem Entbehren von Freizügigkeit und wesentlichen Persönlichkeitsrechten, hat das Selbstwertgefühl vieler DDR-Bürger angeschlagen. Doch ist das Besondere auch hier wieder, daß der äußere gesellschaftliche Mangel nur ins Bild setzte, verschärfte und überhöhte, was schon längst innerlich angerichtet war. Nur so läßt sich unsere Toleranz und das Stillhalten gegenüber dem Unerträglichen erklären. Man kann auch sagen, daß die äußeren Verhältnisse kein therapeutisches Klima abgaben, um frühere innere Verletzungen heilen zu lassen, sondern sie haben die inneren Wunden verstärkt, und dies wiederum hat den äußeren Verfall beschleunigt.

Das Mangelsyndrom ist im Westen sicher auch zu diagnostizieren, doch dürfte der äußere Wohlstand eine wesentliche kompen­satorische Funktion einnehmen. Allerdings bleibt die »heilende« Wirkung für mich sehr fraglich, eher ist zu befürchten, daß die inneren Probleme länger und geschickter unter dem äußeren Glanz verborgen bleiben. Die Zukunft wird uns lehren, ob die leichtere und bessere äußere Bedürfnisbefriedigung einen Segen oder einen Fluch darstellt.

  

Die Folgen des Mangelsyndroms

 

Als Folge der Repression habe ich im wesentlichen das Mangelsyndrom und den Gefühlsstau benannt. Menschen in einem derartigen Zustand, der bereits mit der Geburt beginnt, durch die Erziehung und die gesell­schaftlichen Verhältnisse verstärkt und chronifiziert wird und durch vielfache psychische Abwehr­leistungen zur Entlastung schließlich ins Unbewußte verdrängt wird, tragen Folgen davon, die ich im weiteren als Entfremdung von der Natürlichkeit, als Blockierung der Emotionalität und als Spaltung der Persönlich­keit beschreibe. 

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Diese Auswirkungen können schließlich als Krankheitszustände erscheinen, aber häufiger noch sind sie in allgemein anerkannten Normen und Regeln verborgen, die als politische, ökonomische, religiöse und moralische Pflichten gehandelt werden. Dies ist auch der Grund, weshalb die Grenzen, die zwischen »gesund« und »krank« zu ziehen wären, nicht mehr sicher benannt werden können. Entfremdete Menschen können sich meist nur noch in entfremdeten Verhältnissen »wohlfühlen«.  

Bessere, freiere und natürlichere Umstände würden sie unweigerlich mit ihrer Entfremdung, Blockierung und Spaltung konfrontieren, was sehr ängstigend und beunruhigend sein würde, also verständlicherweise auf jeden Fall vermieden werden möchte. Wer will schon Schmerzliches freiwillig auf sich nehmen? So wird lieber an abnormen Strukturen festgehalten oder solche werden immer wieder aktiv erzeugt, als daß man sich auf einen bitteren Erkenntnisprozeß einläßt, der zwar zur größeren Freiheit und Gesundung führen könnte, aber zunächst unangenehme Gefühle, belastende Erkenntnisse und eine allgemeine Verunsicherung auslösen würde. So werden deformierte und pathogene Verhältnisse bemäntelt und umschrieben oder nur symptomatisch behandelt, ohne die wirklichen Ursachen und umfassenden Zusammenhänge aufzudecken und zu verändern. Die fehlgeleitete Lebensweise soll damit nicht mehr kritisch befragt werden. 

In der Psychotherapie wird daher schon längere Zeit darüber diskutiert, ob der »Kranke« nicht möglicher­weise als der Gesundere verstanden werden muß. weil er begonnen hat. an seiner Entfremdung und an abnormen Verhältnissen zu leiden, im Gegensatz zu den »Gesunden«, die ihre Not und Deformierung in anerkannten gesellschaftlichen Normen ausagieren. Sie verdrängen damit zwar ihr individuelles Leiden, verschärfen aber psychosoziale Konflikte und Fehl­entwicklungen.

 

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Die Entfremdung von der Natürlichkeit

 

Werden die Grundbedürfnisse nicht hinreichend oder angemessen befriedigt nach dem Muster »Wir nehmen dich nicht so an, wie du bist! Deine Bedürfnisse und Gefühle sind nicht in Ordnung, sondern wir können dich nur bestätigen, annehmen und fördern, wenn

du unsere (Eltern, Lehrer, Staat, Partei) Erwartungen erfüllst!«, so wird auf diese Weise systematisch eine Entfremdung von der eigenen Natur und von der je einmaligen Individualität erzwungen. Kinder können sich nicht mehr nach ihren eigenen inneren Gesetzen in einer sozial wohlwollenden und förderlichen Atmosphäre entwickeln, sondern sie werden auf vorbestehende Normen und Gebote hin verbogen und angepaßt.

Diese Entfremdung bedeutet vor allem den weitgehenden Verlust der Innenorientierung. Die Erfahrung und Wahrnehmung der frustrierten Bedürfnislage und der inneren angespannten Befindlichkeit werden einfach zu unangenehm. Die ausbleibende oder eingeschränkte Befriedigung der vorhandenen Bedürfnisse führt zu Unsicherheit, Angst, Mißtrauen und Zweifel. Es ist schließlich besser, der eigenen Wahrnehmung und den inneren Signalen nicht mehr zu vertrauen, denn will man ihnen folgen, ist das Ergebnis Enttäuschung. So ist es besser, sich von seiner Innenwelt abzuschirmen und entsprechende Impulse zu unterdrücken und die äußeren Forderungen und Angebote der Erwachsenen anzunehmen und zu erfüllen.

So geschieht zunehmend die Entfremdung, die von der Innen- auf die Außen­orientierung lenkt und die Werte und Maßstäbe der Umwelt übernimmt. Und was angeboten wird, ist Anpassung, Kontrolle, Ordnung, Disziplin, Anstrengung und Leistung. Nun wird Abhängigkeit die Folge dieses Entfremd­ungs­prozesses. Wer sich nicht mehr auf sich selbst verlassen kann, nicht mehr den eigenen Bedürfnissen vertrauen darf, und wer den inneren Rhythmus von leibseelischer Anspannung und Entspannung verloren hat, der braucht jetzt zwingend einen äußeren Halt: Vorschriften, nach denen er leben kann, Lob und Tadel für das »richtige« oder »falsche« Verhalten. Der entscheidende Wert der Natur: Befriedigung = Entspannung = Lust geht als Erfahrung verloren und muß mühsam durch verheißene äußere Werte ersetzt werden: Konsum, Besitz, Macht, Ruhm, Leben nach vorgeschriebener Moral oder Ideologie. Je weniger und je schlechter Grund­bedürfnisse befriedigt werden, desto größer wird der Druck und Drang, sich wenigstens mit Ersatz­bedürfnissen und Ersatzwerten vollzustopfen.

Der ewige Rhythmus der Natur: Anspannung und Entspannung (Angst und Lust) geht im entfremdeten Zustand über in einen chronischen Spannungs­zustand. der mit ständig steigenden Mitteln gedämpft werden muß. Hier liegt der Suchtcharakter jeder ersatzweisen Befriedigungs­form begründet. Weil es über Ersatzmittel nie zu einer wirklichen Entspannung kommen kann, muß deren Einsatz ständig wiederholt und gesteigert werden.

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Die Entfremdung ist niemals ein stabiler und abgeschlossener Zustand, sondern ein ewiger Unterdrückungs­prozeß. Die ehemals äußeren Unterdrücker (Eltern, Staat, Kirche) haben erst dann ihre Arbeit richtig geleistet, wenn die Unterdrückung zu einem inneren Prozeß geworden ist, der jetzt vom Gewissen und von der eigenen Moral und Ideologie beherrscht wird.

Anpassung und Unterwerfung, Abhängigkeit und Resignation sind ständig aktive Prozesse der Selbstunterdrückung, wertvolle Lebens­energie wird selbstschädigend und selbstdisziplinierend vergeudet, was Vitalitätsverlust, psycho­motorische Einengung, Hemmung und Blockierung zur Folge hat. Dennoch drängen die inzwischen verpönten Wünsche zur Befriedigung und verursachen Angst und Schuldgefühle, daß man den geforderten Erwartungen nie richtig entsprechen könne. Man fühlt sich minderwertig und als ein Versager. Dies ist der psychische Zustand, der gefügig macht, der jedes äußere Angebot der Ablenkung und Ersatzbefriedigung gierig aufgreift. Schließlich bringen Anpassung und Wohlverhalten durch die damit verbundene Anerkennung und Zustimmung, durch Lob und später auch durch Geld, Prämien, Belobigungen, Orden und Geschenke und beruflichen Aufstieg kurzfristige Erleichterung, die aber nicht mehr die Qualität einer leibseelischen Entspannung hat.

Dieser Unterdrückungsprozeß wird im Laufe der Zeit so umfassend, daß die meisten Menschen sich der wahren Zusammenhänge nicht mehr bewußt sind, d. h. sie wissen nicht mehr, wonach sie sich eigentlich sehnen, sondern empfinden nur noch ein dumpfes Gefühl von Unwohlsein und Unzufriedenheit, was sich schließlich auch zu Symptomen und Erkrankungen weiterentwickeln kann. Der Zustand mangelnder Befriedigung wird am häufigsten ersatzweise bekämpft durch Essen, Trinken, Rauchen, Konsumieren, Arbeiten, Fernsehen und auch durch Medikamente und Drogen. Alles, was zur Betäubung und Ablenkung dient, kann dabei herangezogen werden und muß zwanghaft wiederholt werden. Jede Lücke in der Dämpfung und Ablenkung läßt den Spannungs­zustand wieder auftauchen. Deshalb kann auch kein Mensch diesen entfremdeten Zustand ohne weiteres beenden. Gibt er sein gewohntes Ablenkungs- und »Sucht«-Mittel auf, dann gerät sein ganzes mühsames Gleichgewicht aus den Fugen, und er empfindet Angst und Schmerz, eben das Elend seiner Entfremdung.

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Wichtig für das weitere Verständnis ist, daß ehemals unbefriedigt gebliebene Grundbedürfnisse in der Gegenwart oder Zukunft durch nichts und niemanden nachträglich erfüllt oder entschädigt werden können. So machen erfolgs-, konsum- und besitz­süchtige Menschen immer wieder die Erfahrung, daß weder Ruhm noch Macht noch Wohlstand einen wirklich zufriedenen Zustand bedeuten. Nur selten wird aber mit einer solchen Erkenntnis im eigenen Fehlverhalten innegehalten, meistens wird die Erfolgsspirale süchtig – trotz immer wiederkehrender Ernüchterung – weiter verfolgt.

Die besondere Schwierigkeit im Erkennen von Ersatzstrebungen liegt darin, daß alle natürlichen Bedürfnisse entartet benutzt werden können. So wird aus Essen – Fressen, aus Trinken – Saufen, aus lustvoller Sexualität – aggressives Abbumsen oder Promiskuität, aus Liebe – Liebesforderung und Liebeserklärung, aus Arbeit – Arbeitswut, aus Helfen – »Helfersyndrom«, aus Kontakt – Anklammern. Viele Menschen wähnen sich auf diese Weise als gesund und edel und können ihre Entfremdung gar nicht mehr wahrnehmen, weil sie ja angeblich Dinge tun, die im Wertesystem ein hohes Ansehen genießen.

Besonders häufig ist dies auf sexuellem Gebiet, wenn Männer z.B. damit prahlen, daß sie mehrmals hintereinander Geschlechts­verkehr haben, oder glauben, sie würden ihrer Partnerin den Orgasmus machen können. Die Analyse solcher Einstellung ergibt häufig eine schwere Hingabestörung – da keine ausreichende Entspannung gefunden wird, muß der sexuelle Kontakt bald wiederholt werden, was dann fälschlicherweise als Zeichen besonderer Potenz gewertet wird (Potenz als Leistungs­merkmal ist der typische Entfremdungshinweis, wo es naturgemäß gerade um das Gegenteil, nämlich um Geschehen­lassen geht). Sich freilassen, die eigene Lust zulassen, ist das Wichtigste, was man »für« den Partner tun kann, auf diese Weise eine »ansteckende Zündung« zu ermöglichen.

Von eminent gesellschaftlicher Bedeutung in der DDR waren die Ersatzbestrebungen, die als ehrgeizige Leistungshaltung höchste soziale Anerkennung genossen. Aber ein Leistungsträger unterscheidet sich von einem Alkoholiker nur in der sozialen Bewertung. Das eine Extrem gilt als Karriere-Empfehlung, das andere Verhalten wird sozial geächtet. Die lebens­einschränkende und selbst­zerstörerische Wirkung ist in beiden Varianten gleich. Selbst die Lebensverkürzung kann verglichen werden: Stirbt der Alkoholiker in der Regel 15 Jahre früher, als er hätte leben können, z.B. an Leberversagen, so trifft den Aktivisten und Karrieristen etwa 15 Jahre früher der Tod, z.B. durch Herzinfarkt. 

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Vom letzteren waren bei uns meist Menschen der sozial höheren Berufe in Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Politik betroffen. Es handelte sich bei ihnen um die Unfähigkeit, das Leben ohne ein Übermaß an Arbeit und Anstrengung genießen zu können. Freie Zeit wurde als verlorene Zeit angesehen und war schwer zu ertragen und durch­zuhalten. In den Ferien und in der Freizeit wurde ständig an Arbeit gedacht, Arbeit wurde mit nach Haus genommen und dort verrichtet. Der Anschein von Gesundheit, Schaffenskraft und Erfolg verdeckte die wirklichen Schwierigkeiten, die sich oft erst später als Erschöpfungs­depression, hoher Blutdruck oder als andere psychosomatische Erkrankungen äußerten. Die Verkümmerung der wirklichen sozialen Beziehungen war im gesellschaftlichen Image verborgen. Die innere Unruhe und Unzu­friedenheit wurden durch ständigen Termindruck, durch eine Unmenge an Arbeit und Verpflichtungen, durch Sorgen und Arger über äußere Probleme betäubt und abgewehrt. Die »Droge« Arbeit oder der Erfolg sollten den Schmerz der Entfremdung in Schach halten.

 

 

Die Blockierung der Emotionalität

 

Mangel an Bedürfnisbefriedigung löst unweigerlich Gefühlsprozesse aus. Gefühle sind die Hilfsmöglich­keiten der Natur, den Mangelzustand zu beenden oder wenigstens energetische Abfuhr zu erreichen. Mit Gefühlen wird in erster Linie kommuniziert. Durch Weinen, Schreien, Strampeln, Treten, Schlagen sollen die Beziehungs­personen erreicht und zu einer befriedigenden Handlung gefordert werden.

Echte Gefühle stecken an. Wer emotional offen ist, wird an seiner mitschwingenden Reaktion erfühlen können, was im anderen vorgeht, und wird merken, wenn »falsche« Gefühle eingesetzt werden (z.B. Weinen statt Wut, Wut statt Schmerz oder Trauer, Aggressivität statt Angst, Hysterie statt Lust). So wird über den Gefühlsausdruck ein innerer Zustand gemeldet, die Umwelt zur Reaktion aufgerufen und bei ausbleibender Bedürfnisbefriedigung nicht verbrauchte Energie abgeführt.

Mit der Freiheit zu fühlen hat der Mensch eine hervorragende Möglichkeit, Bedürfnisstau abzumildern und trotz Mangel und Defizit halbwegs im Gleichgewicht zu bleiben.

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Er kann sich damit den vielfältig einschränkenden Bedingungen des realen Lebens anpassen. Um so schlimmer für ihn, wenn zum Mangel das Gefühlsverbot kommt. Und genau dies zählte zu den obersten Idealen der »sozialistischen« Erziehung in der DDR.

Die wesentlichen Gefühlsqualitäten (Angst bei Bedrohung der Befriedigung und bei Befriedigungsstau, Wut bei Behinderung der Befriedigung, Schmerz bei Mangel an Befriedigung, Trauer bei Verlust der Befriedigungs­quelle und Lust bei erfolgter Befriedigung) waren allesamt tabuisiert. »Negative« Gefühle waren zu meiden, Freude war zu kontrollieren – nur ja keine ungezügelte und ausgelassene Lebenslust zulassen! Gegenüber dem spontanen Ausdruck wurde Beherrschung und Zurückhaltung verlangt, und wenn das gelungen war, wurde Fröhlichkeit angeordnet. »Laßt uns fröhlich sein, singen, tanzen und springen!« Das war die autoritäre Weisung bei Kinderfesten, in der Familie, in der Schule und in der Kirche. Die Ausgelassenheit und der Bewegungs­drang wurden in Bahnen gelenkt, wie z.B. im Sport und den großen, militärisch aufgemachten Kinder- und Jugend­spartakiaden.

Ganz nach Geschmack waren die Festivals der FDJ – organisierte Jubelfeiern, Aufmärsche, Fackelzüge und Kulturkonsum. Die aktive Betätigung beschränkte sich dabei meist auf demonstrieren und Bekenntnisse abgeben, auf Alkohol trinken, viel essen und tanzen, was aber im Discostil auch meist beziehungslos verlief. Die wirklichen Themen des Lebens (Liebe, Sexualität, Ängste, Nöte, Sinnfragen, Bewältigung von Konflikten) wurden nie berührt. Foren und Gruppen mit ehrlichen und offenen, internalen und emotionalen Mitteilungen waren völlig unbekannt.

Die Erziehungsmittel gegen Angst waren Beschämung und Forderung, gegen Wut wurden moralische Einschüchterung oder autoritäre Gewalt und Strafen eingesetzt, bei Schmerz waren vor allem Ablenkung und billiger Trost probate Mittel, und Trauer wurde meist durch schnellen Ersatz, durch Orientierung auf neue Möglichkeiten vermieden. Auch hierbei waren sich Eltern, Schule und Staat einig: Das Kind hatte sich anzupassen, zu gehorchen, ruhig und gefügig zu sein. Die gefühls­unterdrückende Erziehung konnte man auf jedem Kinderspielplatz, in jedem Eisenbahnabteil, in jeder Schulklasse beobachten. Die Erwachsenen reagierten entnervt auf Gefühlsäußerungen, sie ermahnten, beruhigten, sprachen Verbote aus oder verteilten drohende Klapse.

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Eine Bejahung und Förderung des Gefühls war so gut wie unbekannt. Die Bestätigung, daß Angst möglich, Wut berechtigt, Schmerz notwendig und sexuelle Lust gar ausgesprochen förderlich sind, wäre für die meisten Eltern und Erzieher eine unerhörte Zumutung gewesen und hätte das vorherrschende Weltbild in Frage gestellt. Auf solche Weise wurden Gefühle nicht nur unterdrückt, sondern die Kinder wurden regelrecht verwirrt, weil sie ja durchaus die Wahrheit erlebten und spürten, und um überhaupt durchstehen zu können, blieb die Abspaltung der Gefühle von den Geschehnissen ein möglicher Rettungsanker. So beherrschten unterdrückte und abgespaltene Gefühle das Leben unserer Kinder, machten sie blaß und gehemmt und mitunter, scheinbar zusammenhangslos, aggressiv-unruhig, gereizt oder still-depressiv und kontaktscheu.

In der Volksmeinung bestand eine grundlegende Fehlhaltung gegenüber den Gefühlen: Als wesentliche Ideale galten Beherrschung und Unterdrückung. Die Menschen, die ihre Gefühlsprozesse am besten »im Griff« und zu verdrängen gelernt hatten, galten als Empfehlung für einen Aufstieg in der Partei, im Staatsapparat, im Militär, beim Staatssicher­heitsdienst und in die hohen Leitungs­funktionen. Die emotional-sinnliche Bildung, die aus liberalen und intellektuellen Kreisen angemahnt wurde, geschah in der Distanz und Abspaltung vom Erleben: sublimiert als intellektuelles Ergötzen oder Erschrecken. Kunst und Kultur, obwohl auch stets unter der Knute staatlicher Zensur, hatten in der DDR-Bevölkerung stets hohes Ansehen, weil via Kulturkonsum diese realitäts­entfernte, sublimierte Emotionalität ausgelebt werden konnte. Der frenetische Beifall, der in unseren Konzertsälen aufkam, wenn die musikalisch gelockerte Emotionalität von dem diszipliniert und passiv Empfangenden sich am Schluß wenigstens in einem geordneten Bewegungsritual (Klatschen) entladen durfte, sei als ein typisches Beispiel angeführt. Aber auch Bücher, Filme, Theaterstücke und Lieder bekamen diese völlig überhöhte Bedeutung, um die Menschen Emotionalität wenigstens in einer »vergeistigten«, abgehobenen Sphäre noch erleben zu lassen.

Der Typ des »sensiblen, gefühlvollen« Menschen, wie beispielsweise in Helferberufen oder bei Frauen mit Hausfrauen-Ambitionen anzutreffen, zugespitzt bei hysterisch strukturierten Menschen mit aufgesetzten Emotionen und Gefühls­masken, denen eine besonders intensive Gefühlstiefe zugeschrieben wurde, rundete das Bild der allseitigen Gefühls­abwehr ab: »Gefühle«, um fühlen zu vermeiden!

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Man gab sich gefühlvoll, man fühlte sich in andere ein, man machte sich »schöne Gefühle«, um ja nicht das eigene innerste Erleben erfahren und spüren zu müssen.

In der Therapie ließ sich die Unterdrückung der Gefühle umfassend beobachten: Das Verhalten der Patienten war vor allem beherrscht, kontrolliert, gebremst und gehemmt – Zurückhaltung war das »vornehmste« Gebot. Wurden traumatische Lebens­ereignisse und belastende Erfahrung mitgeteilt, geschah dies meistens mit auffallender Unbewegtheit: mit blassem Gesichts­ausdruck, leiser Stimme, niedergeschlagenen Augen, verschlossener Körperhaltung, zusammengesunkenem Körper, hängendem Kopf, hochgezogenen Schultern und flacher Atmung. Drangen doch emotionale Regungen hoch, wurde der Bericht unterbrochen und der Atem angehalten – »tapfer« wurde gegen das Gefühl angekämpft: Die Hände bedeckten das Gesicht, der Mund wurde zugehalten, aggressive Arm- und Beinbewegungen zeigten sich als Zittern, Wippen, Tippen, Fäuste ballen und wurden mit Anstrengung gebremst. Gar nicht selten traten heftige Symptome als Affektäquivalente auf: Kopfschmerzen, Bauch­schmerzen, Rückenbeschwerden, Herzdruck, zugeschnürte Kehle, Ohnmacht – die lieber in Kauf genommen wurden, als daß man den Gefühlsausdruck losließ.

Gefühle wurden nur distanziert vom Erleben behandelt. So konnte man hören: »Ich habe jetzt Wut!« – bei lächelndem Gesicht; »Das macht mich ganz traurig!« – im Plauderton. Man sprach über Gefühle, statt zu fühlen. Das Erleben und der Ausdruck blieben voneinander getrennt. Dagegen meint wirkliches Fühlen bei Angst z.B. Zittern, Herzklopfen, Blässe, Schweißausbruch etc.; bei Wut z.B. Schreien, Brüllen, Toben, Schlagen etc.; und bei Freude z.B. Lachen, Singen, Tanzen, Hüpfen, Umarmen. Die meisten dieser Eigenschaften waren in der DDR verpönt oder nur gezügelt und im Privaten erlaubt. Da die meisten Menschen von einem Gefühlsstau geplagt waren, konnten die ersten Gefühlsentladungen, wenn der Kontakt dazu wieder hergestellt wurde, in der Tat überschießend und heftig sein und eine schützende Begleitung erforderlich machen, damit niemand zu Schaden kam. Nur in diesem Fall konnte »Gefühle ausleben« – wie dies von vielen naserümpfend und abwertend diffamiert wurde – eine Gefahr bedeuten, wohlgemerkt als Folge des jahrzehntelangen Staus. Der normale und spontane Gefühlsausdruck dagegen wird immer klärend, reinigend, entlastend und beziehungsstiftend sein – in jeder Hinsicht die Gesundheit fördernd.

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Da wir als Menschen keine Wahl haben, ob wir fühlen wollen oder nicht, sondern nur entscheiden können, Gefühle auszudrücken oder zurückzuhalten, bleibt uns auch nur die Wahl zwischen vollem Gefühlsausdruck, der Gesundheit schafft, oder Gefühlsstau, der jede Art von individueller Krankheit, sozialem Konflikt oder gesellschaftlicher Fehlentwicklung fördert und wesentlich mitbedingt. Wenn die psychosomatische und die verbale Abwehr nicht mehr ausreichten, wurde als Notbremse die hysterische Abwehr benutzt: Wegrennen, Losheulen, Aufschreien, Streit entfachen und sich über jemanden oder über etwas heftig erregen – damit sollte das Fühlen noch mit letzter Anstrengung verhindert werden. Selbst bei den meisten Psychotherapien in der DDR wurde der freie Gefühlsausdruck unbedingt vermieden und durften sich Gefühle höchstens als internale Mitteilungen oder in der Phantasie äußern. Entspannungs­maßnahmen, Beratung, Verbalisieren, Ablenkung oder schneller Trost sind die gängigen Mittel der Psychotherapeuten, um vor ihren eigenen Gefühlen ständig auf der Flucht zu bleiben.

Die Gesamteinschätzung ist vernichtend: Wir waren ein gefühlsunterdrücktes Volk. Wir blieben auf unseren Gefühlen sitzen, der Gefühlsstau beherrschte und bestimmte unser ganzes Leben. Wir waren emotional so eingemauert, wie die Berliner Mauer unser Land abgeschlossen hatte.

   

 

Spaltung der Persönlichkeit

 

Der durchschnittliche DDR-Bürger zeigte eine Fassade von Wohlanständigkeit, Disziplin und Ordnung. Er war freundlich, höflich und beflissen, seltener auch mürrisch und gereizt, überwiegend aber zurück­gehalten, kontrolliert, vorsichtig und gehemmt. Unter dieser zur Schau getragenen Maske schmorte ein gestautes Gefühls-potential von existentiellen Ängsten, mörderischer Wut, Haß, tiefem Schmerz und oft bitterer Traurigkeit, das aus dem Bewußtsein und von der Wahrnehmung ausgeschlossen blieb. Diese Abspaltung von den Gefühlen war für viele Eigenarten, Störungen und Fehlentwicklungen im »real existierenden Sozialismus« von größter Bedeutung. So war das Leben in der DDR im wesentlichen durch soziale Fassaden gekennzeichnet. Es war dies ein zwangsläufiges Ergebnis der repressiven Erziehung.

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Allen war klar: Das wahre Gesicht zeigen und die ehrliche Meinung sagen, ist viel zu gefährlich! So wurde das aufgenötigte zweite Gesicht allmählich zur Gewohnheit und schließlich zur selbstverständlichen Normalität. Kein Mensch kann auf Dauer mit Verstellung gut leben. Wir Psycho­therapeuten kennen die Mechanismen, mit deren Hilfe es Menschen möglich wird, die neue »Identität« als ihre »wahre« Natur zu empfinden, sie schon beim geringsten Zweifel mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen und mit sehr vernünftig und glaubhaft erscheinenden Argumenten die eigene fassadäre Haltung zu begründen – die Abspaltung von den Gefühlen macht dies möglich. Die Menschen leben dann praktisch nur noch kopfgesteuert. Und der Kopf macht noch aus jeder Lüge Wissenschaft.

 

Ein entscheidendes Instrument für die Erfahrung und die Weltorientierung, für das, was echt, richtig und authentisch ist, ist aber das Gefühl. Wenn es abgespalten wird, fehlt dem Menschen eine wichtige Orientierungshilfe. Dies ist einer der Gründe, weshalb wir die Tragödie in unserem Land mitgespielt oder zumindest geduldet und ertragen haben. Wir haben einfach nicht mehr gefühlt, was wir gesehen und gehört haben. Selbst was wir erlebt haben, konnten wir nicht mehr fühlen.

Dies erklärt das Unerklärliche: Wir haben das ewige demagogische Geschwätz gehört, die Absurdität der sogenannten »objektiven« Wahrheiten marxistischer »Wissen­schaftlichkeit« durchschaut, den Wider­spruch von Theorie und Praxis laufend erfahren, dem Verfall der Städte zugeschaut, wir sind an den toten und stinkenden Flüssen spazieren- und im vernichteten erzgebirgischen Wald wandern gegangen – und was haben wir gefühlt dabei? Haben wir geweint, geschrien, geflucht und erbrochen? Haben wir unsere Gefühle zum Maßstab unseres Handelns gemacht? Nein, statt dessen haben wir uns beruhigt und sachliche Argumente akzeptiert. Wir haben vor allem weggeschaut und sind ganz selbstverständlich unseren alltäglichen Verrichtungen nachgegangen. Haben wir vor der »Wende« ein Wort darüber verloren, daß unsere Autos tatsächlich stinken und ihre giftigen Abgase unüberseh- und -riechbar unserem Land eine typische Duftnote verliehen? Nein, wir blieben überwiegend gleichgültig und haben damit unserer Spaltung Ausdruck verliehen.

Jede Form von Unterdrückung, Unrecht, Gewalt, Bespitzelung und Denunziation ist nur bei Abspaltung der Gefühle denkbar. Wie konnte man Menschen »Republikflucht« als kriminelles Delikt glaubhaft machen und sie auf Flüchtende zu schießen veranlassen?

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Ich habe die Geschichte gehört, wie ein Grenzsoldat für einen tödlichen Schuß mit einem Orden ausgezeichnet werden sollte, aber im Moment der Verleihung kotzte er seine Verzweiflung dem Offizier auf die Uniform. Da hatte das Gefühl noch einmal die »Mauer« durchbrochen und dem schaurigen Vorgang eine Lektion erteilt.

Wieso ist es aber so schwer, diese Spaltung zu überwinden? Die tiefsten Ursachen dafür liegen in unserer frühen Lebens­geschichte, und wenn wir auf jetzige Mißstände angemessen reagieren würden, wären damit unweigerlich die alten, mühsam verdrängten Gefühle reaktiviert – und die sind in unserem subjektiven Empfinden von existentieller Bedeutung. Denn mangelnde Liebe, die Erfahrung des Verlassen­seins, des Alleingelassen­werdens, des Nichtangenommen- und -verstandenseins oder gar Mißhandlungen lösen beim Kleinkind Todesängste aus. Genau diese Gefühlsqualität würde aber wiederbelebt werden, wenn die Verdrängung aufgehoben würde. So wird meistens das einengende Ersatzleben vorgezogen und daran auch ersatzweise gelitten.

Und wenn wirklich einmal günstigere Bedingungen im Leben angeboten werden, wird alles darangesetzt, um die alten Zustände bald wieder herzustellen. Dies läßt sich in der Psychotherapie exemplarisch beobachten: Jede gute Therapie ist auch ein Angebot für Annahme, Zuwendung und Bestätigung – was der Patient auch wünscht, aber von ihm immer auch gefürchtet wird. So ist regelmäßig zu beobachten: Je besser die Annahme gelingt, desto heftiger muß der Patient dagegen agieren. Er verhält sich störend und bockig, er entwickelt Symptome, bricht die Vereinbarungen, nur um wieder sein gewohntes Maß an Ablehnung zu bekommen – auf keinen Fall darf an die mühsam unterdrückte Sehnsucht nach Zuwendung gerührt werden. Wir wurden schon sehr früh zum Abstumpfen genötigt, um zu überleben. Die alte Überlebensfrage wäre wieder gestellt, wenn wir anfingen, das jetzige Elend adäquat zu fühlen. Nähmen wir die heutigen Lügen und die Verdorbenheit unverfälscht wahr, wären wir mit den angehäuften Unwahrheiten und dem seelischen Schmerz in uns selbst konfrontiert.

War es aber in der Therapie möglich, die Spaltung allmählich zu überwinden, den Zugang zu den Gefühlen wiederzufinden und vor allem Ausdrucksmöglichkeiten für sie zu schaffen, wurde in der Regel ein ganz tief verborgener Kern der Persönlichkeit erkennbar, der vor allem Liebe, Nähe, Offenheit, Ehrlichkeit und unverstellte Daseins­berechtigung wünscht. Dieses Begehren war als ungestillte Sehnsucht lebendig, wenn auch als ganz innerstes Geheimnis gehütet.

Gerade die gestauten Gefühle schützten normalerweise den verborgenen »Kern«, wobei Ängste eine sehr große Rolle spielten. So ließen sich in jedem Fall bei der Analyse unserer Patienten Angst vor Nähe, Angst vor Liebe, Angst vor Freiheit und Angst vor Frieden diagnostizieren!

Würde in der Gegenwart tatsächlich die Erfahrung von Liebe, Nähe, Freiheit und Frieden geschehen, würde damit zugleich unweigerlich die Erinnerung an die lieblosen und repressiven Erlebnisse in der eigenen Lebensgeschichte aktiviert werden, und das Ergebnis wäre Schmerz und Trauer statt Freude und Entspannung über die endlich sich erfüllenden Sehnsüchte. Manchmal wird davon etwas erkennbar, etwa wenn ein Sieger auf dem Podest »Freudentränen« weint, so nennt jedenfalls der Volksmund verschleiernd dieses Geschehen. Es ist dagegen der Schmerz, der plötzlich aufsteigt, wenn im Augenblick des höchsten Triumphes die ungestillte Sehnsucht nach Annahme und Anerkennung durchbricht, die ja gerade die unbewußte Motivation lieferte, alle unmenschlichen Strapazen und Entbehrungen in Kauf zu nehmen, um endlich mal das oberste Treppchen zu erreichen. 

So war der Leistungssport, der in der DDR zur abnormsten Blüte getrieben war, vor allem ein Mittel der Abwehr und Kompensation und zugleich eine Hoffnung, sich durch Anstrengung endlich »Liebe« verdienen zu können, die dann bestenfalls als kühles und edles Metall erschien. Doch der Augenblick des Erfolges mit dem Jubel und Beifall läßt nur für einen kurzen Moment die erhoffte Zuwendung als erfüllt erleben, was dann den gestauten Schmerz nach außen schleudert.

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