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Die Vereinigung als Kränkung 

Erstes Zwiegespräch

 

 

Über die Trostlosigkeit des Ostens und den Terror der Fülle im Westen — Über das Trennungs­trauma der DDR-Kinder und das Fernsehen als elektronische Mutterbrust der West-Kinder — Über die Lustfeindlichkeit des Ostens und die Erotisierung des Alltags im Westen — Über den «Plüschtier-Komplex» der DDR-Mütter und die «Scheu­klappen­haltung» beim Einkauf im Westen — Über die verlorene Geborgenheit der Ostdeutschen und über die Beziehungsschwäche der Westdeutschen — Über neue Demütigungen im Osten und die verräterische Sauberkeit im Westen

 

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Maaz:  Das, was wir jetzt tun wollen, kommt mir wie ein Abenteuer vor. Ich lasse mich auf ein Gespräch mit einem Menschen ein, den ich kaum kenne. Mir hilft dabei allerdings ein Grundgefühl der Sympathie Ihnen gegenüber, so daß ich hoffe, spontan und offen sein zu können.

Noch nie in meinem Leben hat mich ein historischer Prozeß so beunruhigt wie der gegenwärtige. Ich habe den Eindruck, daß ich die Vorgänge bei uns viel weniger als vor der «Wende» überschauen oder gar beeinflussen kann. Obwohl ich mich in dem damaligen System oft nicht wohl fühlte und innerlich dagegen rebellierte, obwohl ich mitunter verzweifelt, empört oder haßerfüllt war, wußte ich doch immer genau: Hier lebe ich, hier habe ich meinen Platz, hier habe ich meine Bedeutung — und hier habe ich auch meine Möglichkeiten, mich unangenehmen Dingen zu entziehen. Ich empfand in den repressiven Strukturen der DDR eigenartigerweise immer ein Sicherheitsgefühl und hatte mich ganz gut eingerichtet; ich lebte so, als würde das Ganze ewig so weitergehen.

Manchmal hat mich das zwar deprimiert, aber es hat mir auch Geborgenheit gegeben. Das alles ist jetzt verlorengegangen. Ich weiß nicht, wo mein Platz ist, was meine Aufgabe ist, wie ich mich in den neuen Verhältnissen einrichten soll. Meine bisherige Identität ist in Frage gestellt, und gleichzeitig tut sich eine Fülle neuer Möglichkeiten auf, die mich begeistern oder ängstigen.

Noch völlig unklar ist mir, wie ich mich in Zukunft unangenehmen Ansprüchen der neuen Macht entziehen kann. Wie kann ich den neuen repressiven Strukturen, der Bürokratie, dem Konkurrenzkampf, den neuen Lippenbekenntnissen, dem verwirrenden Terror der Überangebote halbwegs entkommen. Ich konnte viele Normen des SED-Regimes unterlaufen, das gehörte zu meiner Identität — aber ich kenne noch nicht die neuen Schleichwege und Tricks, wie ich mir Unangenehmes der neuen Gesellschaft vom Leibe halten kann. Ich habe den Gegner verloren und weiß noch nicht, wer die neuen Gegner sind, wer die Freunde und Verbündeten. 

Die meisten Beziehungen haben sich kolossal verändert, sind völlig auseinandergegangen; dafür sind ganz neue Beziehungen entstanden oder entstehen gerade — so wie zu Ihnen. Ich glaube, daß die Existenz eines Gegners großen Einfluß auf mein Leben hatte, und ich will nicht hoffen, daß ich in einem solchen Feindbilddenken befangen bleibe. Aber ich will mich auch weiterhin für das Lebendige einsetzen, und das fügt sich nicht sehr gut in die politische Landschaft. Und ich weiß nicht, wie ich es unter den neuen Bedingungen umsetzen soll. Es fällt mir schwer, Prioritäten zu setzen, so daß ich mich manchmal blind und taub machen muß, um mich nicht zu verlieren. Ich lerne, mich neu einzufügen und zugleich den notwendigen Protest und die Abgrenzung neu zu formulieren. Das ist ziemlich lästig, weil es mir im Grunde genommen aufgenötigt wird. Es hat ein Machtwechsel stattgefunden, und wir sind schon wieder Befehlsempfänger. Mit der alten Macht kannte ich mich aus, mit den neuen Machthabern weiß ich noch nicht, woran ich bin.

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Moeller: Das verblüfft mich sehr. Die Frage, wie werde ich mit den neuen Machthabern klarkommen, könnte ich im Westen in dieser Form gar nicht formulieren. Ich sehe Regierung, Behörden und alles, was noch über mir ist (- es ist ja nicht mehr viel -), in keiner Weise als «Machthaber». Ich könnte dieses Wort in mir gar nicht finden. Aber ich denke, daß Sie damit Ihre seelische Situation gut umrissen haben.

Bei mir entdecke ich zwei Empfindungen: Wenn wir uns hier gegenübersitzen, habe ich zum einen das Gefühl, es wird mir fast zu dicht. Das muß eine Bedeutung haben, denn es gehört zu den Grunderfahrungen von Zwiegesprächen, daß das, was ich unmittelbar wahrnehme, wiedergibt, was sich unbewußt bei mir tut. Ich habe das Gefühl, ich möchte ein Stück zurückweichen, fast als ob mir die Nähe zuviel wird, obwohl ich mich für einen Menschen halte, der Nähe gut, ja sogar gern erträgt. Das andere, was mich bewegt und mich jetzt wieder überkommt, ist das Gefühl, das zu meiner Überraschung während der Eisenbahnfahrt von Leipzig nach Halle aufkam: daß ich traurig werde. Ich spüre eine große Trauer in mir.

Es ist für mich nicht ganz einfach, herauszufinden, wodurch diese Trauer eigentlich bewirkt wird. Ich erzähle vielleicht am besten die Szene: Ich saß in dem für westliche Verhältnisse ziemlich verwahrlosten und düster-dunklen Zug von Leipzig nach Halle. Es war ein Doppeldeckerzug, ähnlich, wie ich sie von den Pariser Vorortzügen her kenne, so daß ich sogar annahm, es könnten französische Waggons sein, welche die DDR aufgekauft hatte. Mich überkam zuerst ein Gefühl von Fremdartigkeit und Interessiertheit, so wie in einer spannenden, anderen Welt.

Doch während ich in dem Zug saß, eine dreiviertel Stunde durch den Abend fuhr und draußen die Häuser sah, überkam mich ein Gefühl tiefer Traurigkeit. Früher hatte ich immer ein Stück Abwehr der DDR gegenüber. Da waren zu viele unangenehme Erlebnisse mit den Kontrolleuren, mit dieser Zwanghaftigkeit, die mich belästigte. Ich lebte in der Vorstellung, jeder müsse sich diesem Regime gegenüber unheimlich korrekt verhalten, und wenn man abweiche, habe man gleich eine schlimme Strafe zu gewärtigen. Es entlastet mich sehr, daß dieser beklemmende Alltags­militarismus jetzt weg ist. Ich habe das Gefühl, ich kann mich frei bewegen, werde nicht mehr von links und rechts bespitzelt und muß keine Angst mehr haben.

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Aber darunter wurde plötzlich ein großes Trauergefühl sichtbar. Ich glaube, daß es zwei Ursachen dafür gibt: Zum einen sah ich vor mir eine trostlose Welt. Ich war auf einmal Augenzeuge meines Vorwissens: Es ist hier alles verkommen; es ist weder für die Häuser noch für die Felder gesorgt worden; das Land ist regelrecht vergiftet. Kann ich das Wasser trinken? Kann ich wirklich frei durch die Landschaft wandern, ohne mich zu schädigen? Zum anderen wurde mir bewußt, was das für eine ungeheure Zeitspanne ist, diese vierzig, fünfzig Jahre an ungelebtem Leben

Was ist da alles versäumt worden, unterdrückt worden und nicht zum Leben gekommen? Diese Frage berührt mich sehr — vielleicht weil ich als Kind im Krieg aufwuchs.

Das dritte Empfinden ist, daß ich mich wieder rückverbunden fühle mit dem ganzen Deutschland, mein Grundgefühl während der «Wende». Der Osten erscheint mir als Teil meiner Heimat. Ich bin 1937 in Hamburg geboren, aber in Schlesien als Kind aufgewachsen. Es liegt im Osten. Die DDR und Schlesien sind für mich seelisch wie eine Welt. Der Tag des 9. Novembers, als die Mauer fiel, hat mich tief aufgewühlt. Wie wohl die meisten Deutschen hatte ich das Gefühl, als wenn sich eine körperliche Wunde schließt und abheilt.

Das ungelebte Leben ist also nicht nur das der Menschen in der DDR, mit denen ich mich an diesem Tag identifiziert, in die ich mich eingefühlt habe, sondern es ist auch mein eigenes ungelebtes Leben: das Gefühl des Gespaltenseins, des von der eigenen Heimat Abgekoppeltseins, als lebte ich kein wirklich ganzes Leben. Was bedeutet das Gespaltensein Deutschlands für mein Innerstes, und warum macht es mich so traurig? Es ist eine weiche, gelöste, fast freundliche Trauer; keine Depression, keine Wut, keine Melancholie, sondern ein wirkliches Traurigsein, bei dem mir zum Weinen ist. Ich hatte eher härtere Gefühle erwartet: Wie gräßlich ist diese Welt, wie scheußlich sind die Straßen! Ich sehe mich noch im Omnibus vom Flughafen zum Bahnhof Leipzig sitzen; der Motor war furchtbar laut, ich wurde durchgerüttelt und befand mich in einer vollkommen anderen, in einer spröden, wenig entgegenkommenden Welt. Es kam mir vor, als führe ich zur Nazi-Zeit über diese holprigen und ungepflegten Straßen. Das ganze Zusammentreffen mit der DDR ist für mich eine Wiederbegegnung mit dem Untergang des Nazi-Reiches und den ersten Nachkriegsjahren.

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Maaz: Wenn Sie so von Ihrer Traurigkeit über den Verfall und das ungelebte Leben bei uns sprechen, über Ihre Ängste angesichts der katastrophalen Bilder hier, dann kränkt mich das. Ich fühle mich angegriffen, höre es wie einen Vorwurf. Es ist ja mein Land, meine Heimat, wenngleich ich ein gebrochenes Verhältnis dazu habe. Ich stamme nämlich aus dem Sudetenland, wurde 1943 dort geboren, 1946 vertrieben, habe also fast im wörtlichen Sinne meine «Kinderstube» verloren. Meine Eltern sind in Sachsen hängengeblieben, wo sie sich aber nie zu Hause gefühlt haben, was sich auf mich übertragen hat. Ich war eigentlich nie in Sachsen — und damit auch nie in der DDR — wirklich zu Hause.

Dennoch habe ich hier gelebt und fühle mich auch verantwortlich, wenn jemand kommt und sagt: «Mensch, wie ist das hier alles verkommen, vergiftet und verdreckt!» Ich habe das Gefühl, als würde meine Wohnung angegriffen und ich der Schlamperei bezichtigt werden. Ich spüre Unmut und Ärger, wenn ich mir sagen lassen muß: «Warum habt ihr nicht dafür gesorgt, daß es hier ordentlicher und sauberer ist, daß hier bessere Verhältnisse sind?» In gewisser Weise ist eine solche Anklage berechtigt, andererseits aber auch ungerecht, weil es sehr schwer war, etwas zu verändern. Eigene Initiativen sind immer wieder gebremst worden oder haben sich an den Widerständen einfach wund gelaufen. Oder sie wurden als eigensinnig oder sogar als subversiv diffamiert, wenn sie von der «Parteilinie» oder auch nur von der Gewohnheit abwichen. Irgendwann haben wir uns dann dem Trott überlassen und den Verfall gar nicht mehr richtig wahrgenommen.

Bei meinen ersten Westreisen war ich fasziniert und geblendet von der Ordentlichkeit, der Sauberkeit und der Perfektion. Erst im Vergleich wurde mir der Kontrast zwischen unserer Schlamperei und eurer Perfektion richtig bewußt. Ich dachte, man kann hier ohne Bedenken auf dem Fußboden der Toiletten essen.

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Bei einer Autofahrt durch Bayern war ich ganz überrascht, als unerwartet «Landluft» ins Auto drang — das haben sie also noch nicht im Griff, dachte ich mit unverhohlener Ironie. Ich stand manchmal so gebannt wie ein kleiner Junge vor herrlich bunten Märchenbildern, vor diesem Glimmer und Glitzer, vor der Fülle und Vielfalt. Mittlerweile hat sich diese Faszination schon etwas abgenutzt, und ich frage mich, wie die Menschen im Westen mit dem Terror der Reklame, der Überangebote und der vielen Reize fertig werden; wo denn der Dreck, die Unordnung, das Vergiftete und das Vergammelte, was bei uns so ins Auge fällt, eigentlich sind. Ich habe inzwischen natürlich auch die Bettler und Obdachlosen gesehen, und es war mir peinlich, an ihnen vorüberzugehen. Ich schämte mich hinzuschauen. Einmal hielt mir eine Rumänin, die ein Kind auf dem Arm trug, einen Zettel hin, auf dem sie ihr Elend schilderte — das war noch vor der Wirtschafts- und Währungsunion. Ich stammelte verlegen, daß ich aus der DDR käme und selber froh wäre, wenn ich ein paar Westmark hätte. Eine groteske Situation: Ein Ostler bettelte einen anderen Ostler an — und hatte sogar recht damit. Ich mußte lachen, obwohl mir eigentlich zum Heulen oder zum Schreien zumute war.

Allmählich begann ich, auch aus meinen beruflichen Erfahrungen heraus zu denken: Konnte es nicht sein, daß der fantastische äußere Schein vor allem die unbewältigten Probleme verbergen sollte, alles das, was Menschen ganz verborgen in sich tragen — ihr Elend, ihren Dreck, ihre Schwächen? Verkörpern wir Ossis vielleicht nur die unbewußte Schattenseite der West-Bürger, die auf diese Weise ihre eigene seelische Armut, den inneren Verfall gar nicht mehr spüren mußten? Ich habe übrigens an dem Verfall bei uns nicht nur gelitten, er hatte auch etwas Anheimelndes. Denn das Leben ist für mich nicht nur Erfolg und Sauberkeit, und jedes Zuhause hat nicht nur eine gute Stube, sondern auch ein Kellerloch. Jetzt aber fürchte ich, daß wir unsere dunklen Seiten bald nicht mehr zeigen dürfen, daß wir uns gleichfalls nach westlicher Lebensart aufmotzen müssen. Vielleicht werde ich auch bald Krawatten tragen müssen, Anzüge und Seidenhemden — aber was verbergen die Menschen im Westen eigentlich hinter ihrer Eleganz, ihrer Höflichkeit und ihrer Eloquenz?

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Moeller: Sie haben versucht, meiner Trauer eine Deutung zu unterlegen. Natürlich ist es möglich, daß meine Traurigkeit ein Gefühl ist, das ich im Westen nicht mehr fühle, weil ich von Glimmer, Glanz und Gloria umgeben bin. Aber diese Trauer macht sich auch an etwas fest. Und diese äußeren Anlässe und das, was sie in mir auslösen, möchte ich als mein Empfinden ernst nehmen. Möglicherweise handelte es sich — wie wir es aus unserem Beruf kennen — um eine Gegenübertragung, in diesem Falle nicht auf einen Menschen, sondern auf einen «Gesamtrahmen». Mir ist nämlich aufgefallen, daß ich nicht auf Einzelheiten reagierte, sondern auf ein ganzes Geflecht von Dingen, aus dem ich gar nicht mehr herauskam. Es war ja nicht nur der Autobus mit dem lauten Motor; es war nicht nur der mürrische, dicke Omnibusfahrer, der wie ein Koloß dasaß und mich daran denken ließ, daß nach einer Ernährungsstudie in der DDR viel zu fett gegessen wird; es war auch nicht nur der Bahnhof oder meine Suche, ob ich irgendwo etwas Obst finden könnte; und es waren nicht nur die verfallenen Häuser. Es war alles zusammen, Detail für Detail wo ich hinguckte, war ich in einer anderen Wirklichkeit. Vielleicht wurde ich traurig, weil ich mich entwurzelt fühlte, aus meinem normalen Gefühl herausgezogen wurde, eine Art Fremdheitsschock, zumal ich aus Paris kam und ich den Weg von Paris nach Frankfurt schon als sehr ernüchternd erlebte und um so mehr dann den von Frankfurt nach Leipzig und Halle.

Ich will aber aufgreifen, was Ihre Deutung bei mir bewirkt hat. Ich bin wie Sie der Meinung, daß das schnellebige, teilweise hochkonkurrente Leben in Westdeutschland den meisten Menschen und auch mir kaum noch Zeit zum Fühlen läßt. Wenn ich zum Beispiel ein schönes Wochenende in meiner Zweierbeziehung erlebt habe, gerät es im Nu hinter meinen seelischen Horizont, weil tausend Aufgaben auf mich zukommen, die ich zu erledigen habe. Natürlich kann ich jetzt sagen, so ist eben meine Persönlichkeitsstruktur.

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Doch im letzten Jahrzehnt habe ich sehr bewußt darauf geachtet, zu mir selbst zu kommen, etwa durch mehrwöchige « Reisen in die Einsamkeit», in denen ich nicht rede und kaum handle. Ich habe nicht nur das Gefühl, daß einem das westliche Leben nicht mehr genügend Raum für innere Lebendigkeit läßt, weil man zu sehr in die Leistung und ihr Pendant, in den Konsum, ja selbst in der Freizeit durch eine ausgeklügelte Industrie in Aktivitäten und Streß hineingezogen wird; ich erlebe hier vielmehr ein ganz anderes, wohltuendes, beinahe anheimelndes Gefühl, das sich einstellte, als ich bei Ihnen in diesem winzigen einfachen Klinikzimmer lebte. Hier gibt es nichts zu bewundern, nichts, das einen — wie im Westen — veranlassen könnte, lauthals «Oh» und «Ah» zu rufen. Und gerade deswegen bleibt man bei sich. Das ist wohl - ich möchte beinahe sagen - ein Vorteil des einfachen, wenn auch verkommenen Lebens.

 

Maaz: Sie machen deutlich, daß Ihr Erleben bei uns verdrängte, abgespaltene Gefühle aktiviert. Dies ging uns bei unseren ersten Reisen nach Westdeutschland sehr ähnlich. Ich habe mehrfach heftig geweint, und meiner Partnerin ist es häufig auf den Magen geschlagen, so daß sie sich mehrfach übergeben mußte. Ich war auf der Zugspitze, wo ich zuallererst hin wollte, weil ich bereits als Vierzehnjähriger einmal dort war. Ich ging dort den Spuren meiner Kindheit nach, und mir wurde ganz traurig und wehmütig zumute. Am Rhein, vor dem Kölner Dom, in Heidelberg, immer wieder kamen mir die Tränen. Gedanken und Bilder stellten sich ein zur deutschen Kultur und Geschichte, die ich ja nur vom Hörensagen kannte.

Und ich hatte auf einmal das Gefühl vergebener Möglichkeiten, vertanen Lebens und aufgenötigter Unfreiheit. Während ich mit freiem Blick auf die Landschaft schaute, empfand ich die Mauer wie nie zuvor als riesigen, viel zu engen Käfig. Denn nicht reisen zu dürfen bedeutete auch, sich nicht entfalten zu dürfen. Mein Schmerz war Ausdruck einer unerfüllten tiefen Sehnsucht nach mehr Expansion. Ich verstand plötzlich auch den häufigen Druck auf meinem Herzen als Symptom des gedrückten und gezügelten Lebens und mein Herzstolpern als das hilflose Bemühen, diesen Zügeln zu entkommen. Ich wollte immer «hüpfen» und durfte es nicht.

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Schon in der Kindheit litt ich unter Einengung: «Du mußt bei uns bleiben. Du mußt tun, was wir dir sagen. Sei vorsichtig. Halte dich zurück. Das Leben ist gefährlich und ungerecht.» Ich bin im Krieg geboren und aus meiner Heimat vertrieben worden. Und dann noch diese Mauer, die im Grunde genommen meine frühen Erfahrungen nur bestätigt hatte. Was aber hatten der Rhein, die Zugspitze damit zu tun? Ich habe meine kindlichen unerfüllten Bedürfnisse darauf projiziert - meine Sehnsucht nach freier Entfaltung, nach Raum, nach Weite brach plötzlich wieder schmerzlich durch. Und die Fülle in den Obst- und Gemüseläden, in den Geschäften und Warenhäusern hat mich oft unfähig gemacht zuzulangen. Ich spürte den Wunsch, voll ins Leben zu greifen — und konnte es nicht.

 

Moeller: Unsere Reisen in den jeweils anderen Teil von Deutschland wirken merkwürdig komplementär: Ich erlebe hier die Traurigkeit und die Kargheit - und Sie, der Sie die Sehnsucht in sich spüren, sich freier entwickeln zu können, erleben die Fülle als Barriere. Mit vielen Wahlmöglichkeiten leben zu können ist sicher ein tiefes Bedürfnis aller Menschen. Und doch spüre ich jetzt, wie ich einen Spiegel vorgehalten bekomme, wie die Fülle selbst ein Terror werden kann, wie sehr sie einen innerlich auch verwirrt, ohne daß ich es noch merke. Zwei Empfindungen habe ich dabei. Die erste lautet etwa: «Na ja, wir sind das gewöhnt, wir sind da hineingewachsen und können mit den Dingen umgehen.» Andererseits entdecke ich auch bei mir, wenn ich einen Supermarkt oder ein Kaufhaus betrete, daß ich mit sehr viel mehr wieder herauskomme, als ich eigentlich kaufen wollte. Die Verführungskunst, die Werbepsychologie ist so groß, daß man beinahe gegen den eigenen Willen in neue Wünsche hineingezogen wird. Konsumbedürfnisse werden in mir mobilisiert, die ich vorher eigentlich kaum hatte und das entfremdet mich von mir selbst.

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Maaz: Bei meinen ersten Westreisen bin ich dem richtig zum Opfer gefallen. Als DDR-Bürger war ich es gewohnt, wenn ich irgendwo einkaufen ging, stets eine Suchhaltung einzunehmen; immer war ich bemüht, etwas zu finden. Mit dieser Haltung bin ich im Westen in die Kaufhäuser gegangen und fand mich regelmäßig mit irgendwelchen Dingen in der Hand, die ich gar nicht haben wollte oder brauchte. Ich war irritiert und gereizt deswegen. Wenn ich mich dagegen zu der notwendigen «Scheuklappenhaltung» zwang, fühlte ich mich genauso unzufrieden und beschissen, wie wenn ich in der DDR einkaufen ging. Und wenn ich den gleichen oder ähnlichen Artikel ein paar Schritte weiter noch billiger hätte bekommen können, war der Ärger perfekt.

 

Moeller: Man kommt nicht zu sich selber — im Grunde eine Parabel .....

 

Maaz:  Ich konnte mich diesen verlockenden Angeboten nicht entziehen. Und jetzt, wo wir westliche Lebensart massiv aufgedrängt bekommen, geht es mir nicht viel besser: Ich muß mich für eine neue Zeitung entscheiden, muß Versicherungen abschließen, die Verwaltung meiner ganzen Existenz neu regeln - das ist alles lästig, vielfach verwirrend und verbunden mit einem Wust an Bürokratie, mit viel Zeit, Schlangestehen, Verunsicherung durch Unkenntnis und mit der Erfahrung, viele Fehler zu machen. Ich fühle mich wieder wie ein Schüler. Andere wissen alles besser. Und das kränkt mich sehr. Ich verspüre im Moment weder Lust, noch will ich mir Zeit dafür nehmen, die neuen Ordnungen und Regeln kennenzulernen und zu verstehen. Die Bürokratie erstickt im Moment mein Leben. Die tägliche Flut von Informationen, verlockenden Angeboten, neuen Möglichkeiten und Pflichten macht mich fertig. Da wird mir etwas Hervorragendes in Aussicht gestellt, ich werde persönlich angesprochen, mir wird zugesichert, daß ich etwas gewonnen hätte, ich werde mit Sonderangeboten gelockt — so hat sich noch keiner um mich bemüht. Es ist so, als würde sich für den mangelgewohnten und frustrierten DDR-Bürger plötzlich ein Paradies auftun - meine Bedürftigkeit bricht durch, und ich fühle mich manchmal akut neurotisch und wie gelähmt, bevor ich dann doch schweren Herzens die vielen bunten Sachen in den Papierkorb werfe.

Im Rahmen meiner ärztlichen Tätigkeit wollen die Krankenkassen und Versicherungsträger jetzt zig Formulare ausgefüllt haben.

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Sie prüfen, ob sie meine Arbeit akzeptieren können. Da ergreift mich der Zorn, und ich fluche: Die können mich besuchen und mir Blumen bringen, daß ich weiterhin gut und gerne meine Arbeit machen will! Was bilden die sich eigentlich ein, was gibt ihnen das Recht, einen 47jährigen Mann so zu behandeln? Muß ich tatsächlich irgendeinen Bürokraten davon überzeugen, daß meine Arbeit etwas taugt, glauben die wirklich, ich hätte kein eigenes berufliches Ethos, keine kritische Instanz in mir selbst? Wieso eigentlich soll ich mich so demütigen lassen, haben wir einen Krieg verloren ? Haben wir neue Besatzer ? Ein solcher Affekt ist da, auch wenn ich natürlich weiß, daß die neuen Verhältnisse auch neue Ordnungen benötigen. Was mich stört, ist die Art und Weise, wie das alles geschieht. Und ich frage mich natürlich, warum die Westler, die schon lange in diesen Verhältnissen leben, sich das alles gefallen lassen.

 

Moeller: Ich glaube nicht, daß das, was Sie sagen, ein Übergangsphänomen ist und sich «die im Osten» in zwei, drei Jahren an alles gewöhnt haben. Vielmehr werden in unserer Begegnung Grundstrukturen des westlichen Lebens sichtbar. Denn mir geht es im Grunde genauso wie Ihnen, nur daß ich für das von Ihnen erlebte Gefühl taub geworden bin. 

 

Maaz: Wenn Sie sagen, daß Ihnen wenig Zeit bleibt, sich auf Ihre Gefühle einzulassen, obwohl Sie darum bemüht sind, heißt das doch, daß Sie die westliche Lebensart dazu zwingt, gegen Ihre Überzeugungen und Wünsche zu handeln. Obwohl unsere gesellschaftlichen Verhältnisse völlig anders waren, haben auch wir uns in der Regel keine Zeit genommen, auf unsere Gefühle zu achten. Aus meiner Arbeit weiß ich, daß die Gefühle, die in vielen Menschen stecken, für sie sehr bitter und belastend wären, wenn diese auftauchen würden, und deshalb die meisten auf der Flucht davor sind oder sich auf jede erdenkliche Weise ablenken, um ja nicht fühlen zu müssen, wie sie sich tatsächlich befinden. 

 

Moeller:  Bitte, was geht Ihnen durch den Sinn bei der Formulierung «belastend und bitter»?  

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Maaz: Zum Beispiel, daß ich schon in der Kindheit das Gefühl hatte, ich darf nicht alles sagen, nicht zeigen, wie es mir wirklich geht, und nicht offen aussprechen, was ich wirklich denke und möchte. Ich habe gelernt, mich zu verstellen — wie viele Menschen. Ich hatte oft den Eindruck, daß das, was ich will und empfinde, nicht richtig sei. Es gab immer Leute, die mir sagten: «Nein, wie kannst du nur so denken! Das ist ganz falsch. Oder: Das ist ja lächerlich.» Das begann bei den Eltern und ging weiter in der Schule, und auch der Parteiapparat hat es bei vielen Menschen ausgenutzt. Eigene Ansichten wurden verteufelt, und erst wenn man die geforderten Meinungen übernommen hatte, war man «geschätzt» und wurde «angenommen». Ich erinnere mich, wie ich schon als Kind mitunter ganz verzweifelt dachte, ich könne doch nicht so verkehrt liegen. Man wollte mir meine Gefühle ausreden — was mich verletzt und eingeschüchtert hat. 

 

Moeller: Welche Gefühle waren das? 

 

Maaz: Ich war ein ausgelassenes, unternehmungslustiges Kind, doch wenn ich herumtollte, wurde ich sofort gebremst: «Sei nicht so ausgelassen. Sei vorsichtiger. Das macht man nicht. Was sollen die Leute denken? Benimm dich doch!» In der Pubertät, als ich auch sexuelle Interessen zu erkennen gab, wurde ich ermahnt, erst die Schule und das Studium abzuschließen und einen Beruf zu erlernen. Erst dann könnte ich mich mit einer Frau einlassen. Ich hatte das Gefühl, als müßte man Sexualität sparsam einsetzen, dürfte sie nicht vergeuden und müßte sie für ganz besondere Umstände aufheben. Ich weiß noch genau, wie mich ein Lehrer zur Seite nahm und mir Vorwürfe machte, daß meine Leistungen in der Schule in der Mathematik nachließen — ob ich etwa eine Freundin hätte und mich dadurch «ablenken» ließe. Das klingt vielleicht banal, aber für mich war es manchmal wie eine Hölle: ein ewiger innerer Kampf von Bedürfnis, Lust und Schuld. Und wenn ich dann irgendwann einen trotzigen Wutanfall bekam, folgte unausweichlich eine massiv kränkende Ablehnung: «Du bist ja wie Onkel Kurt» — der galt in der Familie als Schürzenjäger! — oder: «Du bist kein richtiger Maaz» (Vater) oder: «Du bist nicht mehr mein Sonnenschein» (Mutter). 

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Moeller: Ich könnte mir vorstellen, daß relativ prüde und moralisch strengere Familien im Westen ähnliches zustande bringen. Aber es gibt sowohl einen quantitativen wie qualitativen Unterschied im Druck — und im Ausdruck. Bei uns wird heute allerdings Erotik mehrheitlich eher mitbegleitet und gefördert als unterdrückt. Überhaupt kommt es mir so vor, als ob sich im Westen eine Entwicklung vollzogen hätte in Richtung eines etwas freieren, mündigeren, emanzipierteren Verhaltens innerhalb der Familie und im Zusammenleben. Ich erinnere mich noch gut an die Zeiten vor der 68er Studentenbewegung, als Sexualität noch vollkommen anders betrachtet wurde. Ich habe einmal die Fotografien der Ärzte und Mitarbeiter in unserer Psychosomatischen Klinik in Gießen aus der Zeit von 1966 bis etwa 1975 verglichen. Jedes Foto zeigt dieselben Menschen. Mit jedem Jahr wirkten sie jedoch auf mich jünger, offener, flexibler und frischer. Dieses Jahrzehnt hat die Leute gleichsam jünger, nicht älter gemacht. Bei den ersten intensiveren Begegnungen mit Menschen aus der DDR hatte ich dagegen das entgegengesetzte Gefühl - sie wirkten immer viel älter als wir im Westen. Ich meine, darin fängt sich etwas von der unterdrückten Lebenshaltung ein. Es sind Menschen, die nicht so richtig zu sich kommen, nicht aus sich herauskommen können. Ihr Leben scheint reglementierter, eingefaßter, kanalisierter — genau so, wie Sie das beschreiben.

Das führt mich zu einem anderen wesentlichen Punkt: Wie steht es mit der Familie, dem Zusammenleben, dem Aufwachsen in Ost und West? Welche Unterschiede können wir feststellen?

 

Maaz: Ich fange mal mit mir an. Erst später - als Therapeut -habe ich meine Erfahrungen auch bei vielen anderen Menschen wiedergefunden. Als Kind fühlte ich mich mit meinen Gedanken, Wünschen und Gefühlen niemals wirklich verstanden. Zeigte ich etwas von dem, was mich wirklich beschäftigte, wurde ich entweder ausgefragt oder belehrt oder mit Vorwürfen überhäuft. Ich wurde nie danach gefragt, wie ich mich fühle und wie es mir wirklich geht. Interessant war nur, daß ich keine Probleme machte und gute Zensuren nach Hause brachte. Internalität - wirklich von sich sprechen - war in meiner Familie nicht üblich, niemand war wirklich fähig dazu. Mein Schmerz, mein Kummer, meine Sehnsucht, meine sexuellen Fragen und Nöte hatten keinen Adressaten.

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Ich begann ein Doppelleben zu führen — eins für mich und eins für die Eltern. Auf diese Weise hatte ich bald keine allzu großen Schwierigkeiten mehr, erst in der Schule und später in der Gesellschaft mit meinen zwei Gesichtern — das private und das öffentliche — zurechtzukommen. Der Verlust an Lebenskraft, der damit verbunden war, und die wachsende Selbstzensur sind mir erst viel später in meiner eigenen Therapie klargeworden. Diese Spaltung prägte auch unsere Familie: Vater lebte in Distanz und innerer Opposition zum System; heimatvertrieben und als Geschäftsmann seiner Möglichkeiten beraubt, war er im Innersten chronisch verbittert und schärfte mir ein, daß zwischen dem, was wir in der Familie reden und was man nach außen zeigen darf, ein deutlicher Unterschied gemacht werden müßte. Ich lebte in zwei Welten. In politischer Hinsicht gab ich zwar meist den Eltern recht, weil ich ihre Erfahrungen in der Wirklichkeit bestätigt fand; aber das Dauerthema «Systemkritik» war auch wunderbar dazu geeignet, die internalen Dinge und die wirklich wichtigen Themen zu vermeiden. Im Grunde genommen wurde ich so bestens auf das Leben in der DDR vorbereitet, obwohl die Eltern wahrlich keine Sympathisanten des Systems waren.

 

Moeller: Wenn ich an meine Kindheit denke und an die vieler Freunde, fällt mir auf, daß dies natürlich bei uns in vielen Familien auch so war. Ich bin Jahrgang 1937, mein Vater wurde 1941 eingezogen. Meine Kindheit verbrachte ich in der Kriegszeit auf einem einsamen, verlassenen Dorf in der Nähe des Geburtsortes meiner Mutter in Schlesien. Andererseits kann ich aber — auch an meinen eigenen Kindern — beobachten, daß sich die Zeiten im Westen enorm verändert haben. Es ist eine viel größere Toleranz in sexuellen Dingen aufgekommen, eine viel größere Sensibilität, was fühlen die Kinder, was wollen sie eigentlich. Gleichzeitig entwickeln Eltern jedoch zu ihren Kindern immer seltener genügend Nähe im Sinne eines entwicklungsfähigen Zusammenlebens. 

Diese Beziehungsschwäche zwischen Eltern und Kindern ist ein schlimmes Merkmal des westlichen Lebens und auch empirisch nachgewiesen; sie geht gleichzeitig einher mit einer Beziehungsschwäche zwischen Mann und Frau, also zwischen den Eltern.

In einer Vergleichsstudie mit anderen westeuropäischen Ländern und Amerika* ist diese Beziehungsschwäche als typisch für die Deutschen — für die Westdeutschen — nachgewiesen worden. Wie es bei den Ostdeutschen aussieht, weiß ich nicht.

 

*  Elisabeth Noelle-Neumann / Renate Köcher: Die verletzte Nation, Stuttgart 1987.

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Maaz: Eine solche Entwicklung oder Liberalisierung in sexuellen Dingen konnte ich bei uns nicht beobachten. Es gab zwar eine ständig wachsende FKK-Kultur, aber die Lust als das zentrale Thema der Sexualität blieb ein durchgängiges Tabu. Doch worin zeigt sich die Beziehungsschwäche der Westdeutschen im einzelnen?

 

Moeller: Die Umfrage, von der ich sprach, wurde in mehreren westlichen Nationen durchgeführt. Sie ergab, daß die Beziehung zwischen den Eltern, zwischen Mann und Frau, in Deutschland durch eine besondere Funktionalität und Kühle gekennzeichnet ist, ebenso die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Sicher sollte man solche groben Befunde immer kritisch betrachten; was mich aber doch erschüttert hat, war, daß in allen anderen Ländern — einschließlich Amerikas, das uns hinsichtlich der kapitalistischen Beschleunigung noch voraus sein dürfte — diese Beziehungen intakter, herzlicher und wärmer erschienen. Es gibt viele Artikel und Zeitschriftenberichte darüber, daß man, wenn man nach Deutschland kommt, in eine seltsam ordentliche und kühle Welt gerät. Man hört es auch von Japanern, Engländern, Italienern — und von Ostdeutschen. Ihnen ist es doch auch aufgefallen. Vielleicht sind aber Deutsche Ost und Deutsche West nur Varianten auf ein und demselben kulturellen Territorium. Die Beziehungsschwäche der Eltern führt jedenfalls in Westdeutschland bei Heranwachsenden zu Veränderungen ihrer seelischen Struktur, ihrer Persönlichkeit. Das kann ich gut beobachten, da ich seit zwanzig Jahren hochintensive Seminare mit Paargruppen durchführe. In diesen Gruppensitzungen — fünf Paare bilden eine Selbsterfahrungsgruppe — kann ich sowohl die Kindheit der Eltern als auch die Kindheit der Kinder dieser Paare eingehend in ihrem Zusammenhang wahrnehmen. 

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Die Eltern leiden darunter, daß sie nie zu sich selbst kommen konnten. Nicht aus Verbotsgründen, also nicht — im Sinne der Variante Ost — aus Unterdrückung der kindlichen Grundbedürfnisse, sondern aus einem anderen, viel raffinierteren System heraus. Vor allem die Mütter stehen von zwei Seiten aus unter starkem Druck: Einerseits bewegen sie sich in einem enorm nach außen ziehenden Lebensfeld und sind dem Leistungsdruck im Arbeitsprozeß, aber auch im Freizeit- und Konsumbereich ausgesetzt. Andererseits stehen sie, selber emotional zu kurz gekommen, unter einem starken Bedürfnisdruck, neigen zu narzißtischen Störungen und dominieren deshalb — unbemerkt und gegen ihren eigenen Willen — die Bedürfnisse der Kinder. Eine Mutter kann gar nicht mehr einfühlsam darauf hören, was ihr Kind braucht, weil sie selber unter so starkem Bedürfnisdruck steht. Sie braucht das Kind sozusagen, um ihre eigene seelische Lücke zu füllen.

Nun könnte man die Rettung vom Vater erwarten, doch der ist im Familienleben des Westens nicht recht existent. Wir haben deshalb, zugespitzt formuliert, statt einer Familie eine «Mutter-Einzelkind-Union» mit einem «Trabantenvater».* 

Ein durchschnittliches deutsches Paar hat heutzutage 1,2 Kinder, während es 1815 noch fünf Kinder waren. Man kann Jahrzehnt für Jahrzehnt verfolgen, wie die Kinderzahl abnimmt — ich glaube, ähnlich war es auch in der DDR. Wir entwickeln uns also zu einer Einzelkindnation mit allen Folgen der Geschwister­losigkeit. 

Der Vater ist, ganz im Sinne von Mitscherlichs vaterloser Gesellschaft**, nicht nur kaum zu Hause, sondern hat auch seine Funktion verloren; im Beruf macht er irgend etwas Abstraktes, das kein Kind mehr nachvollziehen kann. Hinzu kommt die technologische und gesellschaftliche Beschleunigung, die ich für die schlimmste und weitgehend unbemerkte Belastung im Westen ansehe. Erfindungen wie die des elektrischen Lichtes, des Autos, der Eisenbahn, des Rundfunkapparates, des Films, des Fernsehers oder des Computers haben weitreichende Folgen für das Zusammenleben der Menschen und ziehen eine enorme «psychosoziale Beschleunigung» nach sich. 

* Michael Lukas Moeller: Männermatriarchat. Nachwort zu Barbara Franck, Mütter und Söhne, Hamburg 1981.
** Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1963.

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Das Alltagsleben ändert sich in immer kürzerer Zeit immer stärker und in jeder Hinsicht. Die Computerwelt zieht schon Kinder vollkommen in ihren Bann. Sie wirken manchmal wie autistisch verloren. Computer bringen aber auch Ehen wieder in eine konfliktfreie Zone, weil der Mann nächtelang im Keller vor seinem Computer sitzt, anstatt mit seiner Frau zusammenzusein. Ich wollte aber auf das Phänomen hinaus, daß Kinder heutzutage nicht mehr genau fühlen können, was sie selber wollen, daß sie nicht zu dem kommen, was ihren eigenen Bedürfnissen entspricht — im Westen wie im Osten, allerdings aufgrund einer ganz anderen Familiendynamik. Im Westen werden die Kinder eher sich selbst überlassen, sie bleiben im Leeren stehen, auch wenn diese Leere Fernseher, Kino oder Zerstreuung heißt; im Osten dagegen scheinen sie wenigstens noch eine Beziehung zu haben — wenn auch in Form der Unterdrückung oder des Verbotes.

 

Maaz: Das ist richtig. Unterdrückung war die umfassendste Norm in unserem System. Was Sie aber über die Mutter-Kind-Beziehung gesagt haben, das gab es auch bei uns. Häufig waren Mütter eben nicht so sehr für ihre Kinder da, sondern die Kinder mußten für ihre Mütter dasein und deren Bedürfnisse stillen. 

 

Moeller: Trotz der Krippen? 

 

Maaz: Bei uns wurde nämlich meistens früh geheiratet, und es kamen zeitig Kinder, weil das vom Staat mit günstigen Krediten gefördert wurde. Die Berufstätigkeit der Mütter galt als höchste Form der Emanzipation. Die Kinder mußten zwangsläufig in die Krippen, weil die Mütter in der Regel noch in der Ausbildung oder eben berufstätig waren. Mit der frühen Heirat wollten sich die Paare dem elterlichen Einfluß entziehen; Frauen haben oft auch bestätigt, daß sie nur ein Kind haben wollten, damit endlich mal jemand für sie da sei — zynisch formuliert, eine Art «Plüschtier-Komplex». Sie wollten ihre Kinder praktisch wie ein Spielzeug für sich haben, mit dem großen Vorteil allerdings, daß sie ihre Kinder « dressieren » konnten, ihrer Mutter Aufmerksamkeit und Zuwendung zu schenken.

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Es war praktisch eine «verkehrte Welt», denn unsere jungen Mütter waren häufig selbst bedürftig und psychisch unreif. Ihre eigenen Eltern hatten ihre Bedürfnisse nach Zuwendung schon nicht gestillt, und auch der Partner tat dies nicht, weil der beste Partner nicht für die Defizite der Vergangenheit entschädigen kann. So diente das Kind der narzißtischen Zufuhr von « Liebe» für die Mutter. Ihr vor allem galt das Kuscheln, nicht dem Kind. Ich konnte miterleben, wie eine gestreßte Mutter nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kam und ihr Kind besorgt fragte: «Hast du mich denn noch lieb ?» Ich weiß nicht, ob man mehr das System oder die Frauen verfluchen soll, die auf diese Weise ihre Kinder allein gelassen und seelisch kaputtgemacht haben. Aber wir Männerhaben ja auch alles so geschehen lassen und sogar noch um die Hausarbeit gestritten, statt das Grundübel dieser Lebensart gemeinsam zu erkennen und zu bekämpfen. Erst in der Therapie haben viele dies später auch kritisch gesehen. Kurz und gut: In unserem System waren die frühen Familiengründungen häufig von der Hoffnung getragen, endlich die Wärme und Zuwendung zu finden... 

 

Moeller:  ... die ihnen fehlte. 

 

Maaz: Ja, es handelt sich um einen Kompensationsversuch, um eine Flucht in die Idylle familiärer Emotionen. Aber die Kühlheit in den Beziehungen kann ich nicht bestätigen. Es gab viele Spannungen, viel Streit, viel Reibung; auch Proteste und Trotz prägten die Beziehungen. Das Gesellschaftssystem und der Staat boten sich hervorragend an als Buhmann, als Ablenkung nach außen. Die Protesthaltung war beinahe beziehungsstiftend. Das innere Aufbegehren, die Nörgelei gegenüber «denen da oben» waren wie ein Ventil für andere Affekte, sie drückten letztlich auch ein Nicht-loslassen-Können von den Eltern aus und die Illusion, doch noch Zuwendung zu bekommen.

 

Moeller: Auch im Westen gibt es noch viele Familien, in denen das so ist. Und doch glaube ich, daß ein deutlicher Unterschied auszumachen ist. Das Problem ist nicht, daß die Familien und Paare darunter leiden, daß sie sich nichts mehr zu sagen hätten. Das wäre ja noch eine Art Beziehung, wenigstens ein Verhältnis der Ablehnung.

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Aber selbst das ist nicht mehr vorhanden. Selbst die Reibung fehlt. Das Gefährliche scheint mir, daß die Beziehungen nur noch nebeneinander laufen, ohne wirkliche Berührung. Die Beziehung verdünnt sich, entleert sich und ist weg. Sie existiert nicht einmal mehr als Konflikt.

Mir fällt ein Mann ein, den ich außerordentlich schätze und der als Psychoanalytiker für das politische Bewußtsein Deutschlands sehr viel bewirkt hat — Alexander Mitscherlich. Er hat mit seiner Frau zusammen das Buch <Die Unfähigkeit zu trauern> geschrieben — ein Thema, auf das wir wahrscheinlich noch kommen werden. 

Sein Sohn hat einmal in einem Kleinkino in Frankfurt einen Film über seinen Vater gezeigt, auch als eine Art Abrechnung. Er sagte: Mein Vater verstand mich immer, aber er interessierte sich nicht für mich — ein Satz, der mich erschütterte und den ich in vielen Familien ähnlich hörte. 

Man kann natürlich sagen, daß das eine typische, psychoanalytische oder familienspezifische Angelegenheit der Mitscherlichs sei, doch meine ich, daß darin ein Stück allgemeiner Wahrheit ist.

Wir leben in einer Gesellschaft, die ununterbrochen psychologisiert. Es gibt kaum eine Illustrierte in Deutschland, die nicht versucht, das Seelenleben verständlich darzubringen. Die Menschen des Westens sind alle eine Art Minitherapeut geworden, während ihnen andererseits mehr und mehr das unmittelbare, konkrete, lebendige Zusammensein fehlt. Viele meinen zwar, das Fernsehen vereine die Familien, doch das hat Alexander Mitscherlich bereits mit der treffenden Formulierung ad absurdum geführt — das Fernsehen lenke zu Hause von zu Hause ab. 

Die Massenmedien spielen — vielleicht anders als bei euch früher — eine enorme Rolle, weil sie gehört werden und nicht so verlogen sind wie einst im Osten. Dadurch entsteht eine doppelte Beziehungslosigkeit: Zum einen kann ich mich mit dem Fernseher nicht unterhalten, weil er nicht dialogfähig ist; ich werde also passiv, ob ich will oder nicht.

Ein neuer Trend versucht zwar, eine Wechselbeziehung dadurch zu erreichen, daß man in den Rundfunk hineinrufen kann. Aber so erfreulich ich diesen Dialogversuch finde, in der Regel inszenieren und transportieren die Massenmedien eine Beziehungslosigkeit zwischen den Rezipienten und dem Medium, beispielsweise dem Fernseh­apparat. 

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Dabei ist der Fernsehapparat für viele, besonders für ältere Menschen, der einzige Kontakt zur Welt geblieben, das «Fenster zur Welt». Darüber hinaus schaffen die Massenmedien noch eine zweite Beziehungslosigkeit — nämlich zwischen den Menschen, die vor dem Fernseher sitzen. Ich glaube, hier gibt es einen Unterschied zwischen dem Aufwachsen in der ehemaligen BRD und in der ehemaligen DDR. Diese Medienerfahrung reicht inzwischen über zwei Generationen und mußte sich in auch anderen seelischen Strukturbildungen niederschlagen.

Für Kinder, aber auch schon für die Generation der Erwachsenen ist das Fernsehen die elektronische Mutterbrust. In Belgien gibt es inzwischen schon ein Fernsehprogramm für Zwei- bis Dreijährige — und diese Entwicklung wird immer weiter gehen, davon bin ich leider überzeugt. Bei uns ist also die Verdünnung und die Entleerung der Beziehungen bedeutsam. Um nur einen Befund zu bringen denn viele glauben das ja einfach nicht —, ein durchschnittlicher amerikanischer Vater ist mit seinem einjährigen Kind pro Tag noch 37,2 Sekunden zusammen, das sind 1,2 Wechselbeziehungen. Ich nehme an, in Westdeutschland wird es nicht viel anders sein. In den USA hat man auch untersucht, wieviel Zeit sich ein Mann und eine Frau, die zusammenleben, täglich für ein wechselseitiges Gespräch nehmen im Schnitt nur noch vier Minuten. Das meine ich mit «Verdünnung der Beziehungen».

 

Maaz: Ich empfinde das als tragisch. Und ich glaube, daß es bei uns — noch — anders ist. Jetzt versuchen wir, mit aller Macht so zu werden wie die Westdeutschen, denn das haben wir uns immer sehnlichst gewünscht. Es gab in der DDR einen einzigen Bezirk, nämlich Dresden, in dem man kein Westfernsehen empfangen konnte. Die Menschen dort wurden von der ganzen DDR bedauert. Man nannte Dresden das «Tal der Ahnungslosen», weil die Menschen dort nicht in den Genuß kamen, Westfernsehen zu empfangen. Gleichzeitig gab es im Bezirk Dresden die meisten Ausreiseanträge. Natürlich hatte das Fernsehen eine ganz andere Bedeutung für uns als im Westen, weil es schon wichtig war, andere Informationsquellen zu haben als nur die einseitige, tendenziös-verlogene Berichterstattung der DDR-Medien.

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Aber diese Tendenz reichte weiter. Praktisch wurde alles, was aus dem Westen kam, begehrt, überhöht und unkritisch überschätzt. Dies geschah mitunter auf so peinliche und kleinkarierte Weise, daß zum Beispiel leere Bierdosen zur Dekoration verwendet wurden oder Plastiktüten mit Reklameaufschriften einen echten Tauschwert bekamen. Die westliche Technik, die Autos, die Elektronik besaßen höchsten Stellenwert — und dabei ging es nicht nur um die technische Qualität, sondern allein die Tatsache, daß ein Artikel aus dem Westen kam, gab ihm eine besondere «Weihe». Westliche Waren entschädigten für unbefriedigende Beziehungen, das Streben danach beschäftigte ganze Familien und verdeckte oder kompensierte die Beziehungsstörungen.

Die «Wende» hat diesen Trend erst richtig zur Entfaltung gebracht und noch deutlicher werden lassen, wie wir Opfer einer Illusion sind: Ein Westauto zu haben erscheint uns wichtiger als unsere Umwelt und die Sorge um unsere Zukunft, ganz zu schweigen von unseren Beziehungen. Mit den stolzen Karossen wird der Frust angesichts der zunehmenden Verkehrsstaus und der fehlenden Parkmöglichkeiten aber noch verstärkt. Und kaum einer will das Irrwitzige daran wahrhaben — Hauptsache: West, West, West...! 

Dies zieht sich durch alle Bereiche, und viele bei uns glauben, die westliche Lebensart sei schon deshalb besser, weil man mehr kaufen kann, weil die Auswahl größer ist, weil die Waren schicker aufgemacht und häufig auch qualitativ besser sind. Der äußere Glanz des Westens schürt die Hoffnung: wenn wir das auch haben, dann wird es uns endlich gutgehen. Die nicht mehr gelingenden zwischenmenschlichen Beziehungen sollen ersetzt werden durch westliches Knowhow und den Besitz eleganter Waren. Mit zeitlichem Rückstand versuchen wir, das westliche Leben nachzuahmen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, daß sich darin auch eine Fehlentwicklung ausdrückt. Das finde ich einfach tragisch!

 

Moeller: Eine westliche Verheißung — aber man merkt nicht, welchen falschen Göttern man hinterherläuft. 

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MaazDiese falschen Götter haben uns auch geholfen, die Schuld für alle Miseren unserem weniger erfolgreichen System anzulasten. Wir erklären unsere eigene Unzufriedenheit allein mit den äußeren Verhältnissen und schielen zugleich sehnsüchtig und verklärend auf den Westen in der Hoffnung, daß, wenn wir das alles hätten, was da über die Mauer glitzert, auch unser dumpf empfundenes inneres Elend kuriert wird. Verschärft wurde diese Sichtweise auch durch die bunten Geschenkpakete unserer Freunde und Bekannten, über die wir uns natürlich sehr gefreut haben — aber welche Motive gab es dafür im Westen? Darüber haben bislang nur wenige nachgedacht.

Wer solche Zuwendungen bekam, konnte sich jedenfalls immer auf etwas freuen. Er hatte kleine Sternstunden im Alltag, empfand im bitteren Mangeldasein eine kleinbürgerliche Lust, denn um wirklichen Hunger ging es bei uns ja nie. Der Mangel an innerer Annahme und Bestätigung konnte ständig nach außen projiziert werden, und der Besitz von Westgeld war für viele die wirksamste Droge. Aus dieser Perspektive erscheint auch der ganze Vereinigungsprozeß in einem anderen Licht: aus der Fluchtwelle wurde die Übersiedlung der ganzen DDR in das westliche Konsumparadies — aber eine solche Interpretation stört natürlich die hehren und großen Einheitsgedanken.

 

Moeller Mir fällt ein Satz von Martin Buber ein: «Das leere Ich ist mit Welt vollgestopft.» Das kennzeichnet meiner Meinung nach sehr treffend die westliche Lebensweise. Sie ist ja oftmals faszinierend. Es wird einem in den Medien ja wirklich etwas geboten. Wenn ich mir im Kino einen Film ansehe, der mich brennend interessiert, bin ich begeistert. Ich bin wirklich begeistert, aber ich bin durch den Film auch von mir selber weggekommen. Es war ein merkwürdiges Empfinden, als mir eines Tages aufging, daß ich mich in einem allgemeinen Zustand befinde, in dem ich zu wenig zu meinem eigenen Leben komme. Das konkrete, unmittelbare Zusammensein mit anderen Menschen rann mir vor lauter interessanten Beschäftigungen wie Sand durch die Finger. Dabei fühle ich mich in einer ausgesprochen privilegierten und glücklichen Situation. Ich übe einen Beruf aus, den ich sehr gern habe; ich habe eine Familien- und Lebenssituation, über die ich in keiner Weise klagen kann — bis eben auf diese eine Klage, daß mir alles viel zu schnell geht.

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Es geht einfach zu schnell. Ich kann nicht sagen, daß das nur mein persönlicher Lebensstil wäre, es geht meinen Freunden genauso. Wie kann ich in meinem Leben beispielsweise Freundschaften noch so wahrnehmen, daß sie lebendig bleiben? Menschen, mit denen ich in einer Freundschaft verbunden bin, kann ich doch nicht nur alle zwei Monate mal sehen. Das ist zu wenig. Und doch bleibt einfach nicht mehr Zeit für Freundschaften. Mir scheint sogar — und jetzt komme ich auf einen schrecklichen Gedanken —, daß die attraktiven Angebote draußen wirklich interessanter sind als die eigene liegengelassene und verkommene Seele.

Man wird einfach zu einem Menschen, der äußerlich lebt und mit diesem äußerlichen Leben am Ende auch noch glücklich ist. Zum Glück werde ich dabei nicht allzu glücklich. Ich leide noch darunter. Aber es gibt Momente, in denen ich sage, ich knalle mich jetzt vor die Glotze — so sagen wir das im Westen —, um mich zu entspannen. Ich durchlebe beispielsweise einen leidenschaftlichen Liebesfilm, in dem es um Zärtlichkeit, um wildes Begehren, um reißende Eifersucht, um Konflikte, um Sehnsüchte, um Haß, kurz um alles geht. Ich erlebe also eine Fülle von Gefühlen, tauche danach wieder auf und sage mir: Mein Gott, was habe ich nur alles erlebt. Tatsächlich bin ich es aber doch gar nicht gewesen. Als ich die ganze Struktur des unterhaltenden Fernsehens als Leben aus zweiter Hand, als Lebensersatz aus der Tube, erkannte, habe ich den Fernseher abgeschafft. * Jetzt habe ich keinen Fernseher mehr zu Hause und gewinne an eigenem Leben, denn jeder Bundesdeutsche sieht pro Tag im Schnitt zwei Stunden fern.

 

Maaz: Ein perfektes Ersatzleben! Bei uns ist statt dessen die Ideologie eingesprungen. Die vielen unechten Beziehungen wurden von Phrasen und verlogenen Bekenntnissen getragen. Was an Echtheit fehlte, versuchte die Partei durch Propaganda für das « richtige Bewußtsein», durch ständige Kampagnen und Wettbewerbe auszufüllen.

 

* Vgl. Michael Lukas Moeller in: M. L. Moeller / A. Schardt / W.-R. Schmidt, Lebenshilfe im Fernsehen, München 1983: Immer mehr Lebenshilfe - immer weniger Leben.

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Das gesellschaftliche Leben wurde künstlich auf Trab gehalten. Die emotionale Nähe zwischen Menschen, die häufig nicht mehr gelang, die eingeschüchterte Authentizität und Offenheit wurden von der Partei durch Pseudogefühle ersetzt, durch Lippenbekenntnisse wie Friedenskampf, Solidarität mit den unterdrückten Völkern oder den Befreiungsbewegungen. Eine riesige Maschinerie propagierte die Wachsamkeit gegenüber dem Klassenfeind, den Sieg des Sozialismus, die ständige Steigerung der Produktivität usw. Ständig wurden die Millionen von Mitläufern zu Unterschriftsaktionen, Demonstrationen, Kundgebungen und sogenannten Wettbewerben getrieben. Sobald die «Verpflichtungen» zu irgendeinem Ehrentag formal erfüllt waren — die wirklichen Ergebnisse interessierten sowieso keinen —, wurde eine neue Kampagne zur «Stärkung des Sozialismus» eröffnet. Die Menschen waren auf diese Weise ständig beschäftigt, und es blieb ihnen keine Zeit, die Verletzungen der Seele wahrzunehmen. Selbst das bißchen Freizeit sollte bis in den Breitensport oder die Schrebergartenkultur perfekt durchorganisiert werden. Die verbleibende Zeit für eine mögliche Besinnung wurde durch ewiges Schlangestehen ausgefüllt, dadurch, daß man sich über das System ärgerte oder auf den Westen schielte. Auch das Fernsehen wurde immer mehr zur Ablenkung benutzt — mit der schönen und wichtigen Entschuldigung, wenigstens dieses eine Fenster in den Westen haben zu können.

Was Sie über den Westen sagen, kann ich also auch für unser System bestätigen, nur daß die Ablenkungen bei Ihnen wesentlich geschickter, interessanter, abwechslungsreicher und letztlich erfolgreicher sind, als es alle unsere Sportfeste mit dem bekannten Goldregen je sein konnten. Bei meinen ersten Westreisen, auch nach Westeuropa, hatte ich dann öfters das Gefühl, jetzt bin ich zwar hier, sehe endlich langersehnte Landschaften und Kulturstätten, doch blieb alles seltsam fern wie in einem Film. Selten habe ich eine solche Spaltung zwischen meinem Körper, der physisch dort war, und meiner Seele empfunden, die das alles nicht fassen konnte. Ich stand auf dem Eiffelturm und konnte diesen langersehnten Zustand nicht empfinden.

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Ich verschlang alles zu schnell, zuviel, und begann zu ahnen, daß ich hinter der Mauer manchen Dingen eine überhöhte Bedeutung zugemessen hatte. Es war gar nicht wirklich um den Eiffelturm gegangen, sondern um eine innerseelische Sehnsucht. Schließlich sah ich auch, wie das für uns so wichtige Reisen durch eine riesige Tourismusindustrie vermarktet wurde — ein großes Geschäft, damit die Menschen von sich «wegfliegen» können! Ich bin zwar noch längst nicht satt, in die Welt hinaus zu gehen, und doch spüre ich auch deutlich die Erleichterung, wenn ich wieder zu Hause bin und damit wieder mehr bei mir selbst sein kann.

 

Moeller: Man könnte also sagen: Was der Parteiapparat und die Regierung in der DDR durch eine Kampagne nach der anderen zustande gebracht hat, nämlich die ununterbrochene Selbstablenkung, wird im Westen durch die Freizeitindustrie und die Massenmedien geleistet.

 

Maaz: Ein interessanter Vergleich ich glaube, genauso ist es. Er erklärt auch das eigentlich Unerklärliche, wieso 98 Prozent der Bevölkerung — die wenigen Fälschungsprozente können wir ruhig vernachlässigen — zur Wahl gegangen sind und warum alle irgendwie mitgemacht haben. Warum haben sie das System als «Junge Pioniere», bei der FDJ, zur Jugendweihe, als SED-Mitglieder oder als Stasi-Mitarbeiter — millionenfach aktiv mitgetragen, zumindest passiv geduldet? Warum haben sie sich, vielleicht zähneknirschend, aber eben doch ohne Aufbegehren eingerichtet? Ich glaube, das erklärt sich nicht alleine aus der Angst vor Strafe und Diffamierung, die ich damit in keiner Weise bagatellisieren will. 

Doch war mit einem bißchen Zivilcourage — dieses Wort hatten wir praktisch aus unserem Sprachgebrauch gestrichen, bis es Rolf Henrich in seinem Buch* wieder einführte —, doch war mit etwas Mut weit mehr möglich, als wir tatsächlich versucht und gelebt haben. Diese Chancen wurden von der überwiegenden Mehrheit nicht genutzt, weil das Anpassungsverhalten mit all seinen Kompensationsmechanismen sehr gut von der inneren Not und Spannung in den Seelen und von der fehlenden Offenheit in den Beziehungen ablenken konnte.

 

* Rolf Henrich: Der vormundschaftliche Staat, Reinbek 1988.

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Jemand hat den Satz geprägt: «Wer sich nicht bewegt, der spürt seine Fesseln nicht!» Jeder Akt der Zivilcourage, jeder kleinste Schritt der Emanzipation hätte unweigerlich die inneren Einengungen schmerzlich spüren lassen. Gleichzeitig bekamen die derart eingeengten und bedürftigen Menschen vom «Apparat» zu hören: «Wir brauchen dich, du bist wichtig, wir fördern dich.» Erst wurde also ein Defizit erzeugt und dann ein Pseudoangebot gemacht.

Moeller:  Der Gewinner bei diesem Vorgang war die Partei, welche die Psychodynamik für ihre Zwecke ausnutzte. Im Westen gewinnt dagegen die Freizeitindustrie, die sehr viel Geld macht.

Übrigens fällt mir jetzt auf, daß sich für mich Ihr Gesicht ändert. Es wird plastischer, klarer, so, als ob ich es besser begreifen könnte. Ich spüre eine größere Nähe zu Ihnen. Es muß also doch etwas in dem Zwiegespräch zwischen uns geschehen sein. Vielleicht ist mein anderes Empfinden ein Symptom unserer unbewußten oder noch nicht bewußten Beziehung.

Maaz:  Ich befinde mich mitten in einem inneren Prozeß. Ich bin angeregt, es passiert etwas mit mir. Vorher war ich noch unsicher, ob unser Gespräch überhaupt gelingen wird. Jetzt aber denke ich nicht mehr so sehr an die Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben, sondern es ist ganz einfach interessant, was ich von Ihnen höre und was dadurch in mir angeregt wird. Ich spüre auch, daß Sie sich von mir anrühren lassen - das gefällt mir.

Moeller: Mir geht es genauso. Allerdings habe ich jetzt auch eine Angst bekommen, die ich vorher nicht hatte. Ich fühle mich innerlich ganz lebendig und habe vergessen, wozu unser Gespräch eigentlich dient. Ich habe im Moment so viel im Sinn, daß ich das Zwiegespräch aus allen Nähten platzen sehe.

Maaz: Wir kommen in Kontakt und verlieren dabei die Ordnung.

MoellerMir fehlt nicht so sehr die Ordnung. Mir wird plötzlich klar, warum ich am Anfang Ihr Gesicht als zu dicht erlebt habe. Einerseits empfand ich Trauer, andererseits eine enorme Nähe, die mir fast ein bißchen zuviel war. Diese Nähe ergibt sich meines Erachtens aus dem, was in einer solchen Begegnung mobilisiert werden könnte.

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Es ist so unendlich viel, daß das Gefühl, es wird mir zu dicht, einfach bedeutet: Es ist ungeheuer viel an menschlicher Vereinigung zu tun. Es kommt sehr viel in mir in Gang. Es steht eine große seelische Arbeit an, die ich im Unterbewußtsein schon vorher gespürt habe. So verstehe ich dieses «zu dicht, zuviel».

Auch die Trauer verstehe ich jetzt auf eine neue Weise. Wir kommen auf eine Erfahrung, die uns beiden gemeinsam ist, wenngleich sie sich in einem ganz anderen Gewande zeigt — daß wir nämlich zu wenig zu uns selbst gekommen sind. Wir auf unsere westliche Weise, ihr auf eure östliche Art. Und das ist die wirkliche Ursache für diese tiefe Trauer, denn die größte Enttäuschung ist die, daß man nicht so leben kann, wie man es im Innern eigentlich will. Im Westen wird das besser kaschiert, durch die attraktive Umgebung, durch diesen Glanz und diese Perfektion, was mir erst durch Ihre Worte richtig bewußt geworden ist.

Für mich ist das ja so sehr Alltag, daß ich es gar nicht mehr bemerke. Aber wenn ich hier bin und durch die Lande fahre, geht mir das mit einem Schlag auch auf. Ich frage mich allerdings: Könnte es nicht sein, daß es im Osten unterhalb der Unterdrückung einen größeren Beziehungsreichtum gegeben hat als im Westen? Ich habe ja die Lage im Westen versucht darzustellen. Und ich denke, wir unterhalten uns hier über ein sehr wesentliches Gebiet: daß nämlich im Osten und Westen zwei ganze Generationen nachgewachsen sind und damit auch die seelische Struktur der Menschen unterschiedlich geformt wurde. Seelisch sind wir alle das, was wir an wesentlichen Beziehungen in unserer prägenden Kindheit, also in den ersten sechs Lebensjahren erlebt und verinnerlicht haben.

Meine Seele ist nicht mehr und nicht weniger als die wesentlichen Beziehungen, die ich verinnerlicht habe — das ist meine platte Hausformel. Die Frage stellt sich also: Wie unterschied sich die Beziehungsqualität in dieser «psychogenetischen Zeit», das heißt innerhalb der ersten drei bis sechs Lebensjahre im Osten und im Westen? Ein wichtiges Moment haben Sie bereits genannt — diese Tendenz zur Unterdrückung, die vom Staat an die Eltern und von den Eltern an die Kinder weitergegeben wurde. Hinzu kommt aber wohl noch, was in den Begriff der «Frühseparation» gefaßt wird, das heißt, daß Mütter ihre Kinder möglichst früh in die Krippe gaben.

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Maaz:  Das spielte bei uns in der Tat eine große Rolle. Der größere Teil der Kinder, etwa 70 bis 90 Prozent, verbrachte den Tag in den Kinderkrippen und Kindergärten. Dadurch waren nicht nur die Kontakte zwischen Eltern und Kindern sehr gering, sondern es kam zu regelrechten Trennungstragödien.

 

Moeller:  In welchem Lebensjahr begann denn diese «Frühseparation»?

 

Maaz:  Im Grunde bereits mit der Geburt, denn in den Krankenhäusern war die abrupte Trennung des Kindes von der Mutter die Regel. Nicht sie bestimmten über ihr Zusammensein, sondern das Personal und der Klinikrhythmus. «Rooming-in» gab es nur ganz selten, ebenso «Vaterentbindungen». In der Geburtshilfe dominierten die Technik und das klinische Regime über Menschlichkeit, Beziehung und Gefühl. Die Tragödie dieser Massenerscheinung wird bis heute kaum wahrgenommen, in der DDR galt sie als Tabu. Dies ist ein typisches Beispiel, wie sich die Medizin mit « wissenschaftlichen» Argumenten in den Dienst einer Herrschaftsideologie stellte, denn das schwere Trennungstrauma war eine wichtige Grundlage für die Schaffung von gefügigen Untertanen, weil die Menschen schon seit der Geburt tief verletzt und verunsichert waren.

Moeller:  Wir nennen das die «technologische Geburt».

Maaz: In unserer Therapie sind wir immer wieder auf ein gravierendes Urtrauma des Verlassenseins gestoßen, das eine Folge einer Kette bedrohlicher Erfahrungen war: Geburt — Kinderkrippe — emotionale Distanz und mangelndes Einfühlungsvermögen der Eltern — autoritäre Erziehung und Gefühlsverbot. Statistisch sind immerhin von 1000 Kindern 799 in die Tageskrippe geschleppt worden.

Moeller: Wirklich, mehr als zwei Drittel?

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Maaz:  Ja, mehr als zwei Drittel. In unseren Krankengeschichten kommt immer wieder vor, wie tragisch das war. Viele Kinder wollten nicht in die Krippe, nicht nur, weil sie nicht von der Mutter getrennt werden wollten, sondern weil zumeist ein autoritäres Erziehungsregime herrschte. Die Vorschrift, daß eine Krippen­erzieherin für sechs oder sieben Kinder dasein sollte, wurde fast nie eingehalten. Meistens hatte eine Krippentante 15 Kinder, manchmal auch noch mehr zu «betreuen». Schon deshalb mußte «durchgegriffen» werden. Aber es entsprach auch den herrschenden Erziehungsidealen. Wenn ein Kind mal weinen wollte, wurde es ermahnt, es solle sich beherrschen. 

Körperlich gespendeter Trost war verpönt aufgrund der eigenartigen Vorstellung, man dürfe kein Kind verwöhnen oder vorziehen, denn dann könnten die anderen auch direkte Zuwendung erwarten. Ich habe solche Geschichten so oft gehört, daß ich immer wieder empört über soviel Borniertheit war, die sich auch noch mit «pädagogischen» Argumenten ummantelte. Überhaupt empfand ich oft einen ohnmächtigen Zorn über den spießigen Mief und den beschämenden Untertanengeist in unserem Land. Die filmischen Dokumente des bestellten Jubels, des albernen Defilierens und der blöden Phrasen, die selbst unsere Intellektuellen mitunter von sich gaben — kein Leiter durfte in irgendeiner Ansprache vergessen, das «Lob des Sozialismus» und den « Dank an die Partei- und Staatsführung » anzustimmen —, diese Bilder können gar nicht oft genug im Fernsehen vorgeführt werden, um diese Zustände nicht zu vergessen. Ich hoffe inbrünstig, daß sich die Leute auch darin wiedererkennen. Kurz: Das Defizit an individueller Zuwendung bei uns war erheblich und setzte bereits von früh auf ein. Die einzige verbleibende Chance war, sich ein- oder unterzuordnen in die Herde bedürftiger Schafe, die sich willfährig dirigieren ließ.

Moeller:  Ich möchte einen Versuch machen, daran etwas positiv zu sehen: Diese Kinder sind doch immer innerhalb einer Kindergruppe aufgewachsen. Waren sie dort ganztägig?

Maaz:  In der Regel handelte es sich um Tageskrippen, manchmal auch um Wochenkrippen, bei denen die Kinder nur am Wochenende von den Eltern oder einem Elternteil nach Hause geholt wurden.

Moeller:  Sind die Gruppen denn immer stabil geblieben?

Maaz:  Ja, meistens.

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Moeller:  Es waren also keine offenen Gruppen, sondern geschlossene Gruppen.

Maaz: Ja. Aber natürlich gab es immer auch Zu- und Abgänge, zum Beispiel wenn eine Familie umzog.

Moeller:  Ist es nicht unter diesen Umständen möglich, daß Kinder — ähnlich wie in der Kibbuz-Erziehung — ein sehr dichtes, stabiles und festes Bindungsgeflecht untereinander entwickeln? Durch meine Beschäftigung mit Selbsthilfegruppen* sind mir Experimente bekannt geworden, bei denen man Säuglinge zusammengebracht hat. Dabei stellte man fest, daß sich Kinder untereinander viel mehr anregen, als Erwachsene dies mit Kindern tun können. Diese Kinderkultur ist ein großes und meist vernachlässigtes Essential der Lebensentwicklung, die bei der familiären Kindererziehung im Westen verlorengegangen ist. Im Osten ist die Geburtenrate ja auch sehr niedrig. Doch könnte die Kinderkultur in den Kinderkrippen unter Umständen eine Wiedergeburt erlebt haben.

 

Maaz: Was Kindergärten betrifft, also etwa ab dem dritten Lebensjahr, würde ich das durchaus gelten lassen — gegenseitige Anregungen, Spiele und Auseinandersetzungen als wichtige soziale Erfahrungen. Aber das Problem war ja der autoritäre Stil, die Erziehung nach Vorschriften, die Ideologie einer planmäßigen Förderung und Entwicklung, die meist das Spontane und Emotionale verhinderte und das Kreative durch permanente Bewertung der Leistung verdarb. Der Gefühlsausdruck sollte stets erzieherisch beeinflußt werden. Auf Aggressivität reagierte man mit Strafe, Beschämung und Ausgrenzung («Wenn du böse bist, mußt du rausgehen!»); auf Weinen folgte schneller Trost oder Bagatellisierung, statt die Gefühle zu beachten und ihre Signalfunktion zu verstehen. Konflikte wurden von den Erwachsenen «geregelt», wobei disziplinierende Ermahnungen am häufigsten waren. Daß sich im Streit wichtige Hinweise auf seelische Befindlichkeiten zeigen könnten, die geklärt und ausgetragen werden müssen, wurde meistens nicht verstanden.

 

*  Michael Lukas Moeller: Selbsthilfegruppen, Reinbek 1978.

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Auf diese Weise wurden unehrliche Beziehungen, verlogene Versöhnungen und Hierarchien nach quasimilitärischem Reglement gefördert. Das angepaßte Kind war gleichzeitig das «liebe Kind». So entstanden Pseudobeziehungen, so wurden Untertanen gezüchtet. Kurz: Nach meiner Erfahrung waren die Verhältnisse in den Kinderkrippen keineswegs lebendigen menschlichen Beziehungen förderlich — mit Spaß, Offenheit und auch streitbarer Auseinandersetzung.

 

Moeller:  Dann liege ich also falsch mit meiner Vermutung. Aber vielleicht können wir noch herausfiltern, was den Unterschied in der prägenden Zeit der seelischen Entwicklung des Kindes ausmacht. Herrschten in Ost und West unterschiedliche Bedingungen während der entscheidenden seelischen Entwicklungszeit in den ersten sechs Lebensjahren?

 

Maaz: Ich wage zu behaupten, daß für uns vor allem Einengung prägend für die seelische Entwicklung war. Die Berliner Mauer war nur der äußere Ausdruck dafür, was durch Einschüchterung, Demütigung und Kränkung im Erziehungsalltag bei den meisten Heranwachsenden innerlich angerichtet wurde. Kinder mußten stets die Erfahrung machen, daß das, was sie dachten und fühlten, nicht in Ordnung sei; sie hatten sich nach den Vorstellungen der Erwachsenen, der Eltern, der Erzieher und Lehrer, zu richten. Dabei kam es selten zu massiver und direkter Gewalt, eher zu Ermahnungen, Belehrungen und sanften Hinweisen, was ein «braves Kind» sei. Also: «Sag schön guten Tag — Benimm dich — Bedanke dich schön — Du hast aber fein aufs Töpfchen gemacht — Du mußt aufessen, damit du groß und stark wirst.» Und vor allem: «Du darfst nicht laut sein — Du darfst nicht so herumtollen — Was sollen denn die Leute denken? — Gib acht auf dich.» Diese Form der Einengung hat Ängstlichkeit, Unsicherheit und Zurückhaltung gefördert — letztlich eine Gehemmtheit, die typisch für uns ist. Später, im Erwachsenenalter, wurde sie durch ganz reale Strafen und Gefahren bestätigt, wenn man sich nicht an die engen Vorgaben der Partei hielt. Die ständige Gängelei war ein Grundmuster unserer Verhältnisse.

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Moeller:  Ich muß dabei an unser gestriges Symposium «Politische Psychotherapie» denken, als eine Teilnehmerin aus der Selbsthilfegruppe Dresden aufstand und sagte, sie hätte schon vor Beginn der Tagung einen Unwillen in sich gespürt, weil sie sich vorstellte: «Da kommen die Westler und wollen was von dir.» Ich fand das sehr spezifisch ostdeutsch. Ein solches Gefühl — gefragt zu werden bedeutet gleich, «nun wollen die schon wieder etwas» — würde im Westen in so einer Gruppe überhaupt nicht aufkommen.

 

Maaz: Wir sind der Belehrungen und Ermahnungen einfach müde. Wir sind satt davon. Immer gab es jemand, der etwas von uns wollte und nach dessen Pfeife wir tanzen sollten. Die Partei hatte das auf die Spitze getrieben, indem sie sagte: «Nur wenn du erfüllst, was wir für richtig halten, wirst du akzeptiert und gehörst zu uns.» Nur wer das «richtige Bewußtsein» hatte, galt als angenommen. Das war doppelt kränkend, weil wir zum einen in Gefahr gerieten, ausgegrenzt und beschämt zu werden, und weil zum anderen im Grunde unerträglich alberne, kleinkarierte und verlogene Dinge von uns verlangt wurden. Daß wir uns dennoch beugen mußten, hat bei manchen Protest ausgelöst, bei anderen Apathie.

 

Moeller:  Das ist also der seelische Widerhall der Reglementierung.

 

Maaz: Ja. Und jetzt müssen wir wieder gehorchen, haben zu übernehmen, was die westliche Bürokratie und die Gesetze der Marktwirtschaft uns abverlangen. Wieder können wir nicht selbst bestimmen, wieder mußten wir die Gestaltung unseres neuen Lebens an eine fremde Obrigkeit abtreten. Bestenfalls können wir aus einer Vielzahl von Angeboten wählen, was uns jedoch belastet, weil man gar nicht so schnell herausfinden kann, was besser oder schlechter ist. Wieder kommen wir uns bereits übervorteilt und hilflos vor.

Was wir im Oktober und November 1989 erlebt haben, war wirklich befreiend. Wir machten zum erstenmal die Erfahrung, daß wir Einfluß haben. Der persönliche Wille erschien auf einmal als Stimme des Volkes, er wurde gehört und zeigte Wirkung. Wir bestimmten unser Leben tatsächlich eine kurze Zeit mit. Das war ein Aufleben überall, eine Lust an der Gestaltung, eine Zeit voller Ideen und Initiativen — aufregend, anstrengend und schön.

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Es war unwahrscheinlich, was in uns gebeugten und vorsichtig gewordenen Menschen an Kraft und Mut steckte. Dies alles ist längst vorbei. Statt der Politbürokratie regiert das westliche Management, wir werden «abgewickelt» und unterwerfen uns neuen Mächtigen. Wir sind zum politischen Alltag zurückgekehrt, könnte man lapidar sagen. Doch tatsächlich geht es um etwas anderes: Wir hatten Kontakt zu unserer Lebendigkeit gefunden — und die ist wieder verlorengegangen.

Jetzt sind wir erneut in der Verteidigungsposition, was mich ärgerlich und traurig macht. Die neuen Politiker behandeln uns genauso wie früher unsere Eltern, wenn sie sagen: «Das tun wir nur für euch, denn euch soll es mal besser gehen.» Selbst wenn diese Versprechungen eingelöst werden sollten, sind wir dadurch in keiner Weise politisch oder gar seelisch reifer geworden. Wir haben die innere Freiheit nicht wirklich gewonnen, sondern uns wurde nur ein Bild davon verordnet. Natürlich sind wir in den Genuß einer Menge verlockender Freiheiten gekommen, und mir ist die demokratische Freiheit sehr wertvoll.

Aber eine seelische Befreiung kann ich weder empfinden noch erkennen. Ich finde die Kultur des Meinungsstreites, die Vielfalt der Ansichten hervorragend. Doch ich gewinne zunehmend den Eindruck, daß man in der parlamentarischen Demokratie den politischen Gegner vor allem deshalb braucht, um im jeweils anderen die eigenen abgewehrten und abgespaltenen Teile denunzieren und bekämpfen zu können. Vielleicht ist das ein Vorurteil, und ich will euer System bloß madig machen, weil ich tief verletzt darüber bin, wie wir jetzt behandelt werden. Das Schlimme daran ist, daß die altbekannte innere Verletzung, die ich als DDR-Bürger ständig empfand, nunmehr aufs neue bedient wird.

 

Moeller: Für mich ist es eine verblüffende Erkenntnis, daß die Vereinigung auch im Osten als Kränkung erlebt wird, denn man hat ja diese Welt des Westens, die D-Mark selbst gewählt. Und jeder sieht ja, daß hier etwas aufgebaut werden muß. Die Kränkung wird dadurch ausgelöst, daß es in einer Form geschieht, in der die eigene Beteiligung also die Partizipation des Ostens gar nicht möglich wird.

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Maaz: Wir befinden uns im Grunde genommen in einem schweren Ambivalenzkonflikt: Auf der einen Seite herrscht eine tiefe Genugtuung, daß endlich das alte Unrechtssystem zusammengebrochen ist und der tiefe Wunsch nach Vereinigung verwirklicht werden konnte. Es geht dabei gar nicht so sehr um die politische Dimension dieses Wunsches, um «Deutschland einig Vaterland», sondern mehr um die Sehnsucht nach der Vereinigung mit den abgespaltenen und verbotenen Seiten des eigenen Selbst. Auf der anderen Seite ist eine riesige Enttäuschung darüber entstanden, « daß wir kolonialisiert werden», wie manche es nennen. Unser bisheriges Leben gilt nichts mehr, durch die neuen Maßstäbe wird alles entwertet. Selbst die Freiräume, die wir uns gegen das System geschaffen hatten, verlieren ihren Sinn. Wir haben also zur gleichen Zeit das befriedigende Gefühl von Befreiung und das bekannte unangenehme Gefühl der Unterdrückung.

Moeller: Im Grunde genommen eine Art befreiender Unterdrückung.

Maaz: Oder eine unterdrückende Befreiung.

Moeller: Was aber meinen Sie mit den Freiräumen, die Sie sich gegen das Regime geschaffen haben und die nun verloren sind?

Maaz: Wenn ich mir meinen eigenen Lebensweg anschaue, war die Psychotherapie der entscheidende Freiraum für mich. Nicht nur ein Schutzraum in unserer «Psychowelt» und dazu im Verantwortungsbereich der evangelischen Diakonie, sondern vor allem die Chance, mit Hilfe meiner Arbeit offener, ehrlicher und authentischer mit anderen Menschen umgehen zu können. Mein Beruf war für mich niemals nur ein Job, sondern die große Möglichkeit, in diesem repressiven System freier leben zu können. Dies hat sich natürlich auch auf meine privaten Beziehungen ausgewirkt, denn ich konnte ja nicht Psychotherapeut werden, ohne an meinen eigenen Problemen zu arbeiten und meine Verbiegungen zu erkennen. Allmählich habe ich meine Kontakte verändert, mich von den oberflächlichen Feten zurückgezogen und meine Beziehungen auf wenige, aber intensive Begegnungen reduziert.

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Auch unter den Kollegen nutzten wir die Möglichkeit, nicht nur über etwas zu sprechen, sondern auch von uns selbst. Dabei haben wir auch immer mal auf das System geschimpft, geflucht und gelästert, ohne gleich Angst haben zu müssen, bespitzelt und denunziert zu werden. Ich hatte für mich entschieden, in diesem Freundeskreis ist mein Freiraum, hier nehme ich keine Rücksichten mehr. Ich heuchle sonst schon genug, und wenn mich jemand denunzieren sollte oder wenn wir abgehört werden, dann muß ich eben die Konsequenzen tragen. Dies war ein langer Prozeß, aber schließlich ein befreiender, und ohne dieses Ventil hätte ich hier kaum leben können. Es entstand eine herzliche Verbundenheit und Vertrautheit, die jetzt verlorenzugehen droht.

 

Moeller: Auch meine Motivation, Psychoanalytiker zu werden, setzte schon sehr früh ein. Ich habe Medizin studiert, um Psychoanalytiker zu werden. Es ging mir nicht sonderlich um das Medizinstudium, das mir viel zu technokratisch, zu äußerlich und zu faktisch war. Ich habe deswegen zusätzlich Philosophie studiert. Bei Ihren Worten ist mir aufgefallen, daß auch ich mir das Ziel gesetzt hatte, selbst intensiv zu leben, um anderen zu einem intensiven Leben zu verhelfen. Vielleicht empfand ich damals schon, daß vieles zu oberflächlich ist, vielleicht wandte ich mich damit unbewußt gegen die Entleerung des Lebens. Im Westen ist das dominante Problem die innere Leere, die Beziehungslosigkeit durch bloßes Nebeneinanderleben — nicht die Unterdrückung. Hier fühle ich mich dagegen eher an frühere geschichtliche Zeiten erinnert. Es gibt noch Beziehungen zwischen den Menschen, sie sind aber konflikthaft. Hier führt die Unterdrückung dazu, daß man nicht zu sich selbst kommt, bei uns ist es die Leere, die Beziehungslosigkeit.

 

Maaz: Das stimmt. Wir waren eine Notgemeinschaft, eine Solidargemeinschaft, die sich verbunden fühlte durch den gemeinsamen Feind und das Miteinander gegen eine unerträgliche Obrigkeit. Wir mußten mit den Schwierigkeiten des Systems irgendwie zurechtkommen, und die Notwendigkeit gegenseitiger Hilfe, die aus diesem Mangel resultierte, stiftete auch Beziehungen, war angenehm.

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Moeller: Ich werde — merke ich — fast etwas neidisch wegen dieser Chance zu Freundschaften, in denen man wirklich eng miteinander verbunden ist. Zwar wurden sicherlich auch die inneren Gegensätzlichkeiten angesichts des ständig präsenten Außenfeindes weggebügelt, aber trotzdem war es eine Gemeinschaft, die durch den gemeinsamen Gegner gestiftet wurde.

 

Maaz: Ohne solche Beziehungen hätte ich es hier nicht ausgehalten. Sie waren für mich einfach überlebenswichtig.

Moeller: Hat dieses unmenschliche Regime auf diese indirekte Weise nicht auch Menschlichkeit produziert? Mir fällt wieder mein zentrales inneres Bild ein: Wenn ich in die DDR fahre, kommt es mir vor, als führe ich in ein Verlies. Ich entdecke, daß es in diesem Verlies eine innere Verbundenheit und Menschlichkeit gibt, die sich im Westen gar nicht bilden kann. Die Verführungskünste der Freizeitindustrie sind so enorm, daß man, selbst wenn man sich in Gemeinschaften trifft, nicht wirklich zusammen ist.

Maaz: Diese Seite unseres Lebens kann ich durchaus positiv sehen. Wenn ich irgend etwas brauchte, blieb das niemals nur eine Geschäftsbeziehung, sondern wir mußten das Entsprechende « organisieren». Vieles bekam man nur über eine Art mittelalterlichen Tauschhandel. Wenn ich irgend etwas haben wollte, was es im Geschäft nicht gab, war mir klar, daß ich demjenigen, der es mir beschaffte, verpflichtet war. Ich bezahlte nicht nur mit Geld, sondern oftmals auch mit Gegenleistungen. Solche Art Geschäfte gingen gar nicht ohne persönlichere Beziehungen.

Moeller: Das war dann eine Art Handelsbeziehung.

Maaz: Ja, eine Handelsbeziehung mit persönlicher Note. Aber das gegenseitige Sichhelfen rückte natürlich auch die äußeren Probleme in den Mittelpunkt und verdeckte die innere Bedürftigkeit. Die Sehnsucht nach Bestätigung und Zuwendung hat sich also mehr im Beschaffen von Ersatzteilen ausgedrückt als in einem wirklich emotionalen Prozeß. Diesen Zusammenhang habe ich erst mit meiner psychotherapeutischen Ausbildung verstanden. Ich merkte, daß ich im Grunde genommen nach ganz anderen Dingen bedürftig bin als nach äußeren Mangelwaren und fand dies später bei vielen Menschen wieder. Aber es war nicht leicht, sich darüber offen zu verständigen.

Moeller: Das ist im Westen wohl nicht anders.

Maaz: Ich empfinde sehr wohl auch die Oberflächlichkeit, den Zweck und die Verschworenheit unserer Beziehungen im Osten — was aber ist dann erst mit den Menschen im Westen, wenn sie die «Menschlichkeit» unserer Beziehungen so hervorheben?

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