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Michael Lukas Moeller 

Deutsche im Gespräch

Eine Anregung zur menschlichen Vereinigung in west-östlichen Zwiegesprächen  

 

 

Zwiegespräche und ihre Anwendung

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Das Zwiegespräch hatte ich in meinem Buch «Die Wahrheit beginnt zu zweit» ursprünglich für das Paarleben entworfen: als ein ungestörtes, wesentliches Gespräch einmal in der Woche von anderthalb Stunden Dauer. Es sollte ein Austausch von Selbstporträts sein mit dem Ziel, sich wechselseitig einfühlbar zu machen. Zwiegespräche berücksichtigen die Grundeinsichten der Psychoanalyse menschlicher Beziehungen und unterscheiden sich von jenen fruchtlosen Zweierdiskussionen, die unter dem Begriff «Beziehungskiste» bekannt und berüchtigt sind.

Schnell wurde aber deutlich, daß Zwiegespräche ihre besten Wirkungen — wie die Steigerung wechselseitiger Einfühlung als Basis von Konfliktfähigkeit, Lebendigkeit, Geborgenheit und kreativer Entwicklung - auch in jeder anderen intensiven oder bedeutenden Partnerschaft entfalten: in Freundschaften, in Beziehungen zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Geschwistern, am Arbeitsplatz oder zwischen zwei Mitgliedern einer Selbsthilfegruppe, wenn in Krisensituationen die Gruppensitzung allein nicht mehr reicht. Wenn ich beispielsweise meinen in den USA lebenden Freund alljährlich sehe, führen wir gleich zu Beginn ein Zwiegespräch und wissen anschließend mehr voneinander, als wenn wir eine Woche wie üblich zusammengewesen wären.

Von politischen Zwiegesprächen hörte ich bisher nur einmal: In frühen menschlichen Stämmen wurde ein Krieg verhindert oder beigelegt durch «Friedenszwiegespräche» der beiden Häuptlinge.* Das Geheimnis der Zwiegespräche beruht auf der Chance, daß zwei Menschen darin ihre Andersartigkeit akzeptieren. Die Kultur des anderen wird aufgrund der wechselseitigen seelischen Übersetzungsarbeit gleichsam durchsichtig. Die übliche Abwertung des Fremden, ein archaisches Angstsymptom und die Essenz jeder Art von Rassismus, verliert ihren Boden.

Allerdings hatte ich vor einiger Zeit in ähnlicher Form Gruppengespräche von Politikern in einem Landesparlament angeregt und begleitet. Diese «Arbeitsplatz-Gesprächskreise» — bei den in emotionaler Hinsicht mutigen Grünen in Hessen — hatten dieselben Grundgesetze wie Zwiegespräche und Gesprächsselbsthilfegruppen. Im politischen Alltag jedoch werden sie stark behindert durch die zentrale Motivation aller Politiker, Einfluß — das heißt Macht — zu gewinnen. So bewegte sich die Gruppendynamik der Politiker während dieses einen Jahres meiner Organisationsentwicklungshilfe zäher als in anderen Berufen. Und doch führte der Versuch der wechselseitigen Verständigung zwischen den rivalisierenden Flügeln zur maßgeblichen (wenn auch natürlich nicht angestrebten) Verschiebung von einer Stimme, die schließlich die erste rot-grüne Koalition in der Bundesrepublik möglich machte. Vielleicht hat auch diese Erfahrung zu unserer deutsch-deutschen Anregung beigetragen.

*  Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1986, S. 534.

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Unterschiede zu üblichen Zwiegesprächen

Indem wir, die Autoren dieses Bandes, Zwiegespräche öffentlich führten, um damit andere West- und Ostdeutsche zu ermutigen, sich auf einen solchen wechselseitigen Erfahrungs- und Erlebnisaustausch einzulassen, haben wir natürlich ein wesentliches Element dieser hochpersönlichen Aussprache verändert: die schützende Verschwiegenheit. Allerdings sind wir beide im Zuge unserer Ausbildung durch eine lange Selbsterfahrung gegangen und haben vielleicht die Überflüssigkeit vieler Geheimhaltungen durchschaut. Für mich kann ich jedenfalls sagen, daß mir die Öffentlichkeit unseres Gespräches, während wir redeten, nicht zusetzte, wenngleich es natürlich sein mag, daß mein Unbewußtes besondere Intimitäten in der Beziehung zu Hans-Joachim Maaz von vornherein ausschloß.

Eine weitere wesentliche Veränderung gegenüber einem «gewöhnlichen» Zwiegespräch ist die Aufbereitung der wörtlichen Rede zu einem lesbaren Text. Da wir uns nicht weiter abgesprochen hatten, wählten wir jeweils andere Verfahren. Hans-Joachim Maaz brachte seine Passagen des Wortlauts durch eine erneute mündliche Fassung in eine flüssigere Sprache, wobei er natürlich weitgehend der Urfassung folgte, während ich den abgetippten Text — wie ich es sonst gewohnt war — handschriftlich lesbarer zu machen versuchte. Der Urtext ist wie üblich zum Lesen nicht geeignet. Ich erwähne das deswegen, weil wir durch unsere überarbeiteten Beispiele nicht den Eindruck perfektionistischer Makellosigkeit unserer Zwiegespräche erwecken wollen. Damit liefen wir womöglich Gefahr, manche zu entmutigen statt anzuregen.

Schließlich unterscheiden sich diese Zwiegespräche von anderen durch ein vorgegebenes Thema — man könnte sie deshalb als themenzentrierte Zwiegespräche bezeichnen. Allerdings stört das die unbewußte Selbstregulation des Austausches wenig. Wir hatten uns nämlich nur große Themenbereiche wie Liebe, Arbeit, Politik vorgenommen und wurden darin durch freie Assoziationen wie von selbst, das heißt von unserem Unbewußten, geführt.

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Übliche Zwiegespräche werden nach einiger Zeit sehr persönlich und offen; sie gehen dann tief, wie man sagt. Das ist auch in den wenigen Zwiegesprächen zu spüren gewesen, die wir in diesem Rahmen führten. Wer davor Scheu empfindet, kann beruhigt sein. Auch das reguliert sich wie von allein. Jede oder jeder bestimmt selbst den Grad der Offenheit. Im übrigen bieten diese Gespräche durch das Thema stets eine gute Chance, Nähe und Distanz zu dosieren. Auch darin unterscheiden sie sich von unmittelbar persönlichen Zwiegesprächen.

 

Wie können Zwiegespräche der sogenannten «menschlichen Vereinigung» dienen?

Bevor ich Grundordnung und Geist der Zwiegespräche skizziere, erscheint es mir sinnvoll, die Anwendung der Zwiegespräche zu umreißen.

Zwiegespräche können von jedem einzelnen persönlich, aber auch von Gruppen und Organisationen genutzt werden.

 

Persönliche Initiative im eigenen Kreis

Jeder kann seine Phantasie spielen lassen, wo er in seinem persönlichen Bereich oder bei Begegnungen Zwiegespräche für sinnvoll hält, um das wechselseitige Verstehen zu vertiefen. In der Regel unterschätzen wir den Unterschied der westlichen und östlichen Lebenswirklichkeit gewaltig. Es geht nicht nur um die vielzitierten Lebensverhältnisse, die noch längere Zeit extrem unterschiedlich bleiben dürften. Es geht vor allem um die Kluft des Erlebens und Verhaltens, also um eine seelische Entwicklung, die sich auf beiden Seiten über vierzig Jahre hin anders vollzog und mit hoher Wahrscheinlichkeit andere psychische Strukturen hervorbrachte. Die Gefahr eines wechselseitigen «Rassismus» ist in solchen Fällen hoch; dieser wird gegenwärtig nur durch die «Helferbeziehung» von West zu Ost verdeckt.

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Und die Ausländer in beiden Teilen Deutschlands sind wahrscheinlich unsere Sündenböcke. Bisher scheint deutlich, daß der Ruf nach Ordnung und Sicherheit im Osten stärker ist als im Westen, ebenso wie die Abneigung gegen Ausländer. Das hat handfeste materielle Ursachen, aber ebenso reale seelische Hintergründe.

Zwiegespräche können im Verwandten- und Bekanntenkreis stattfinden. Ein halber Abend genügt dafür. Er wird mehr bringen als ganze Bücher. Freunde aus Ost und West können dieses wesentliche Gespräch führen, Arbeitspartner oder Ferienbekanntschaften. Es kostet nichts — außer neunzig Minuten Zeit — und ist denkbar einfach. Wo man ungestört sein kann, ist Platz für ein Zwiegespräch. Anders als bei den Paargesprächen müssen die Maßstäbe für das Ungestörtsein nicht so streng sein. Eine ruhige Ecke in einer Wohnung, auf einem Platz, in Kneipe, Cafe oder irgendwo im Freien reichen aus. Bei Familien, die lange Zeit getrennt lebten, gehen solche Gespräche in ganz persönliche Zwiegespräche über. Einen kurzen Überblick bietet dafür der Briefessay, der das erste Kapitel meines Buches «Die Liebe ist das Kind der Freiheit» bildet.*

Zu warnen ist vor einer Unterschätzung der Grundordnung. Sie entspringt oftmals einem unbewußten Widerstand. Um ihr gegenzusteuern, sollte man die Regeln nach Möglichkeit so beachten, wie sie weiter unten beschrieben ist. Denn sehr häufig werden diese Zwiegespräche nur einmal mit einem Partner stattfinden, so daß ein Erfahrungslernen entfällt. Vor allem scheinen mir anderthalb Stunden nötig zu sein, obwohl vielen das recht lang vorkommen mag. Eine Beziehung aber braucht Zeit, sich entfalten zu können — zwischen Partnern wie zwischen Fremden.

*  Michael Lukas Moeller: Die Liebe ist das Kind der Freiheit, Reinbek 1986 und 1990.

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West-östliche Zwiegespräche — Frauen und Männer, Junge und Alte je nach Wunsch zu Paaren kombiniert — können also - nur einmalig mit einem bestimmten Partner stattfinden (wer Mut hat, kann auch einmal einen ganz Fremden für ein solches Gespräch zu gewinnen versuchen);

— sie können aber auch wiederholt mit demselben Partner geführt werden, wie wir es für dieses Buch praktizierten:

• entweder in Zeitabständen — regelmäßigen oder unregelmäßigen, langen oder kurzen, wie es die Begegnungen eben möglich machen

• oder gebündelt zu einem einzigen Zeitpunkt — dabei reicht nach jeweils neunzig Minuten eine Viertelstunde Pause (für zwei Zwiegespräche hintereinander benötigt man dreieinvier-tel Stunden, das ist die Zeit eines überlangen Films; für drei Gespräche sind fünf Stunden nötig, beispielsweise zwischen Mittagessen und Abendbrot; manche gehen noch intensiver vor, sechs Gespräche am Tag sind möglich, wenn man vormittags, nachmittags und abends je zwei vorsieht);

sie können je nach Gelegenheit nacheinander oder in Serie mit jeweils anderen vereinbart werden — bei einem Ferienaufenthalt etwa, während gemeinsamer Unternehmungen, zu größeren Treffen oder auf Tagungen; in kleinen Gruppen kann so jeder mit jedem nach und nach vertraut werden; acht Personen können beispielsweise in vier Zwiegesprächspaaren parallel miteinander reden und nach jedem Gespräch reihum wechseln; in solchen Gesprächen wird die erlebte, hautnahe Einsicht in die Lebenswelt des anderen unvergleichbar konzentriert.

 

Impulse durch Organisationen:
Zeiten oder Treffen für Zwiegespräche

Damit wäre auch schon der Übergang zu mehreren parallelen Zwiegesprächen auf größeren Versammlungen gegeben. Denkbar wäre es, daß Organisationen wie Gewerkschaften, Betriebe und Unternehmen, Kirchen, Jugendverbände, Vereine der öffentlichen Wohlfahrt, Selbsthilfegruppen, Parteien oder Fachverbände — entweder im Rahmen ihrer Versammlungen gezielt einen Zeitraum für einen solchen west-östlichen Austausch von neunzig Minuten in Zweiergesprächen freihalten — oder extra Zwiegesprächstreffen vorsehen und dazu beispielsweise für einen Abend, einen Tag, ein Wochenende einladen.

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Dabei empfiehlt sich ein Dreischritt:

1. Zu Beginn wird das Zwiegesprächsverfahren kurz vorgestellt.

2. Dann gruppieren sich die Anwesenden, wie sie gerade sitzen oder wie sie wollen, zu Gesprächspaaren. Sie führen parallel in einem großen Saal oder auf Räume verteilt ihre Zwiegespräche. Je nach vorgesehener Zeit kann danach auch mit jeweils einem anderen ein weiteres Zwiegespräch folgen.

3. Wenn Interesse besteht, können Zwiegesprächspaare — entweder reihum oder nur einzelne — anschließend im Plenum berichten, wie sie ihren Austausch erlebt haben und was sie am stärksten beeindruckte. Durch diese größere Öffentlichkeit wird das Bewußtsein der gemeinsamen Situation, also die politische Dimension gestärkt. Dabei mag es manchmal angenehmer sein, mehrere nicht zu große, parallele Plena einzurichten — beispielsweise mit je sechs Paaren, also zwölf Personen. Die Wabenstruktur einer großen Versammlung in Form solcher Kleingruppen läßt ein Vertrauensklima wachsen, was in Großgruppen wegen ihrer fundamental anderen psychischen Wirkung nur selten möglich ist.

 

Die Grundordnung der Zwiegespräche

Die Grundordnung enthält die Bedingungen, auf die es ankommt. Ohne diesen Rahmen gelingen Zwiegespräche nicht. Er scheint so leicht, daß er oft nicht beachtet wird. Doch jedes seiner Elemente ist entscheidend für die Wirkung der wesentlichen Gespräche: Zwiegespräche brauchen wenigstens anderthalb Stunden ungestörte Zeit. Jeder spricht über das, was ihn bewegt — wie er gerade sich, den anderen, die Beziehung und sein Leben erlebt. Er bleibt also bei sich. Das Gespräch hat kein anderes Thema, wenn man sich

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auch vorab oder im Verlauf des Gespräches auf große Themenkreise des persönlichen Lebens wie Familien­leben, Freundschaften, Arbeit, Einstellung zu Öffentlichkeit und Politik oder Paarbeziehung und Erotik einigen kann. Im übrigen ist das Gespräch so offen wie möglich, das heißt kaum festgelegt (fachsprachlich: «minimalstrukturiert »). äußern und Zuhören sollten möglichst gleich verteilt werden. Schweigen und Schweigenlassen, wenn es sich ergibt. So sind ausgeschlossen: bohrende Fragen, Drängen und sanfte wie heftige Versuche, den anderen einfach zu übergehen. Zwiegespräche sind kein Offenbarungszwang. Jeder entscheidet für sich, was er sagen mag, auch wenn größtmögliche Offenheit in der Regel am weitesten führt.

Sich wechselseitig einfühlbar zu machen ist das erste Ziel der wesentlichen Gespräche. Nur so können wir uns wirklich miterleben. Wenn uns das gelingt, beginnen wir zu begreifen, was eine Beziehung wirklich vermitteln kann. Viele werden schon beim erstenmal sehr vertraut miteinander; denn je mehr ich von einem anderen erfahre, desto sympathischer wird er mir in der Regel.

Es gibt darüber hinaus kaum Richtlinien. Wenn beide für dieses sogenannte «setting» sorgen, sorgt es seinerseits für alles. Vor allem garantiert es die unbewußte Selbstregulation des Gespräches. Der Stoff geht dem Gespräch nie aus, weil das eigene Erleben mehr als genug bietet. Es gibt aber Momente, in denen es so scheint, als versiege nun die innere Quelle. Dann hat das Unbewußte abgeschaltet — meist aus Scheu, mit dem fortzufahren, was im Gespräch mobilisiert wurde. Gelingt es dann, die Befürchtungen auszusprechen, stellt sich der Redefluß oft wieder ein.

Im übrigen gibt es auch einen deutlichen Geschlechtsunterschied beim Reden: Frauen fällt es in der Regel leichter, ihre innere Situation in Worte zu fassen, als Männern, die lieber Fakten vorbringen. Viele Männer halten ein Sprechen über Erlebnisse und Gefühle für überflüssiges Zeug. Ihre Erziehung, die stärker an Sachleistungen orientiert ist, und ihr stärkeres Eingebundensein in Wirtschaft und Beruf sind unter anderem für diese Einstellung verantwortlich.

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Oft ist man versucht, den seelischen Schwerpunkt im Gespräch von sich auf den anderen zu verschieben. Dann befindet man sich mit seinem Erleben beim anderen — und hat sich selbst vermieden. Auf diese Weise geht die innere Balance des Gespräches verloren, die einen gleichrangigen Austausch anstrebt, und mehr noch: beide erfahren weniger über ihren Unterschied. Die Einfühlung wird gebremst.

 

Zur Qualität der Zwiegespräche

Fünf Einsichten machen den «Geist» jener Zwiegespräche aus, die für eine lebendigere Paarbeziehung entworfen wurden. Sie entsprechen den fünf Grundbedingungen einer guten Beziehung, an die viele nicht mehr recht glauben wollen. Diese Erkenntnisse sind Entwicklungsziele, nicht etwa vollendete Tatsachen, denen jeder folgen muß wie vorgegebenen Regeln. Sie gleichen eher einer Sprache der Zweierbeziehung, die wir mit der Zeit erlernen können. In meinem Buch «Die Wahrheit beginnt zu zweit» habe ich sie ausführlich dargestellt.

Nur ein Teil davon scheint mir für die west-östlichen Zwiegespräche unentbehrlich. Vielleicht aber ist es doch von Bedeutung, zu wissen, daß diese Grundbedingungen als Ganzes und nicht als Einzelteile verstanden werden müssen. Sie geben eine Grundstruktur der Beziehung wieder, die ziemlich genau der Gestalt der «genügend guten» Mutter - ein Begriff des Psychoanalytikers Winnicott - entspricht, besser gesagt: der Beziehung, die sich zwischen ihr und dem kleinen Kind herstellt. Zu ihr gehören Einfühlsamkeit, Zugewandtheit und Achtung der Bedürfnisse des anderen. Genau diese Qualitäten machen auch die wirklich menschliche Beziehung unter Erwachsenen aus. Mit ihnen kann es nicht zu der üblichen « Kolo-nialisierung» des anderen kommen, indem einer über den anderen etwas behauptet und ihn damit als kleine Provinz in das Weltreich seiner Wirklichkeitsauffassung eingemeindet. Und um genau diese Haltung aufzulösen, sind Zwiegespräche zwischen Ost- und Westdeutschen ja gedacht.

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Von den fünf Grundeinsichten scheinen mir drei sinnvoll für die hier vorgestellten west-östlichen Zweiergespräche:

1. Wir können lernen, von der wechselseitigen Unkenntnis auszugehen statt von der gleichen Wellenlänge: «Ich bin nicht du und weiß dich nicht.»

Kurz gefaßt geht es um unsere Neigung, die Andersartigkeit des andern ?y unterschlagen, weil wir uns unbewußt eine schnelle gemeinsame Geborgenheit wünschen. Um uns kennenzulernen, müssen wir erst lernen, uns nicht zu kennen. Das scheint mir auch für die west-östlichen Gespräche ein sinnvolles Ziel zu sein. Die «gleiche Wellenlänge», die wir gern mißbrauchen, um Konflikte unter den Tisch zu kehren, wirkt sich dort von selbst aus, wo sie gegeben ist. Um sie müssen wir uns nicht weiter sorgen. Die Grundeinstellung sollte also davon ausgehen, daß dasselbe Ereignis von uns beiden ganz unterschiedlich erlebt wird.

 

2. Wir können lernen, wesentliche Gespräche als Kreislauf einer lebendigen Beziehung zu begreifen, statt mit Worten unsere Beziehung nur noch zu verwalten: «Daß wir miteinander reden, macht uns zu Menschen.»

Dieser letzte Satz stammt von dem Philosophen Karl Jaspers und hatte durchaus einen politischen Sinn. Viele scheuen sich vor direkten Gesprächen und argumentieren mit einer Fülle von Vorwänden dagegen — meist mit der platten Behauptung, «das bringt doch nichts». Probieren geht über Studieren. Es braucht vielleicht einige Rückbesinnung, ehe einem einleuchtet, daß Gespräche unter Menschen beziehungsstiftend sind. Ich bin sicher, daß jeder in seinem Leben den Wert wesentlicher Gespräche kennengelernt hat — merkwürdigerweise aber wird diese Selbsterfahrung nicht ernst genommen. Die Sprachlosigkeit der Menschen verbreitet sich so erschreckend wie die Wüstenzonen der Erde, trotz des Massensprachsalates aus Medien und Werbung. Dabei geht es nicht nur um die unmittelbare Sprachlosigkeit, sondern auch um das Ausweichen ins technische, sachliche oder verwaltende Reden.

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Damit werden Anweisungen zum Handeln ausgetauscht — nicht Erlebnisse. Wir sprechen «über» etwas — und nicht von uns. Wir kommen nicht mehr dazu, uns auszusprechen, und zwar im doppelten Sinne: uns aus uns heraus zu äußern — und miteinander zu reden, bis das gesagt ist, was uns bewegt. Gelingt uns das, werden wir auch feststellen, daß vier Augen mehr als zwei sehen. Die wechselseitige Bindung ermöglicht gleichsam einen doppelten Verstand.

 

3. Wir können lernen, in konkreten Erlebnissen statt in Gefühlsbegriffen zu sagen, was wir meinen: In Bildern statt in Begriffen sprechen. 
   Wir reden üblicherweise — auch wenn es um unsere Gefühle geht — in begriffsartigen Kürzeln: ich finde das «furchtbar» oder «toll» oder «aufregend». In diese Allerweltswörter kann jeder hineinlesen, was er will. Sie fördern wechselseitige Projektionen. Im Ost-West-Zweiergespräch geht es aber gerade darum, Projektionen aufzuheben, indem man sich einfühlbar macht. Ein Bild ist dafür mehr wert alstausend Worte. Jys gelingt relativ schnell, sich den «inneren _Filrn », die kleinen konkreten Szenen bewußt zu machen, die zu dem jeweiligen Wortbegriff führten. Eine solche oft winzige, auf alle Fälle konkrete, erlebte Szene detailliert mitzuteilen, bewirkt beinahe schlagartig eine umfassende Einfühlung. Der Wirkungsgrad des Gespräches wird deutlich erhöht.

Ein Beispiel aus «Die Wahrheit beginnt zu zweit»: Mann und Frau sitzen beim Abendbrot. Er sagt: «Ich finde dich toll.» Die Frau — zwiegesprächserfahren wie er — fragt: « Das finde ich schön, es tut mir gut, aber was meinst du mit <toll> ? Sag mir das in einem Bild.» Der Mann: «Warte, einen Moment — ja, gestern morgen sah ich dich vom Auto aus, wie du auf dem Rad mit dem leichten, wehenden Rock um die Straße bogst. Die Sonne leuchtete durch deine langen Haare — diese Szene, das meine ich mit <toll> — du kommst mir darin so leicht, klar und ausgeglichen vor, ganz du selbst, finde ich.»

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Während unserer Zwiegespräche in diesem Buch kommen gelegentlich auch solche Nachfragen nach konkreten Szenen vor, obwohl wir uns beide von vornherein bemühten, bildhaft und konkret zu bleiben. Die Bildersprache ist der Begriffssprache an Informationsfülle weit überlegen. Es kommt mehr «rüber». Und das ist ja das Hauptziel der west-östlichen Gespräche.

Weniger bedeutsam, aber auch nicht gerade belanglos erscheinen mir die beiden anderen Einsichten, die vor allem für eine kontinuierliche Paarbeziehung Brisanz haben:

1. Wir können lernen, unser gemeinsames unbewußtes Zusammenspiel wahrzunehmen, statt uns als zwei unabhängige Individuen aufzufassen: Wir sind zwei Gesiebter einer Beziehung und sehen es nicht.

Zwei Menschen, die eine intensivere Beziehung verbindet, sind mit jedem Wort unbewußt aufeinander abgestimmt. Dieses unbemerkte und erstaunliche Zusammenspiel — fachsprachlich: Kollusion - prägt das gesamte Verhalten und Erleben des einen durch den anderen und umgekehrt. Das Tun des einen ist gleichsam das Tun des anderen. Dadurch werden beispielsweise Vorwürfe und Selbstvorwürfe als Abwehrmanöver enttarnt; denn jeder wirkt im anderen mit. Bei zwei Menschen, die sich erstmals begegnen — das dürfte bei West-Ost-Begegnungen oft der Fall sein —, ist dieses Zusammenspiel wahrscheinlich geringer ausgeprägt. Dennoch ist das, was in einem Gespräch vor sich geht, viel mehr als das gesprochene Wort. Die unbewußte Beziehung ist schneller und zehnmal umfangreicher als die bewußte. Wer also mit einem anderen für anderthalb Stunden spricht, hat sehr viel mehr erfahren, als ihm bewußt wird. Die Modulation der Stimme, die Bedeutungen zwischen den «Zeilen», die Bewegungen und Haltungen während des Sprechens, die sogenannte Mikrogestik, bewirken das.

2. Wir können lernen, auch unsere Gefühle als unbewußte Handlungen mit geheimer Absicht zu verstehen, statt zu meinen, sie überkämen uns von innen — wie Angst und Depression — oder würden uns von außen gemacht —wie Kränkung und Schuldgefühl: Ich bin für meine Gefühle selbst verantwortlich.

Vielleicht ist aus dieser oft bitteren Erkenntnis das am bedeutsamsten für die hier vorgeschlagenen Gespräche, was ein englisches Sprichwort so ausdrückt: «If you want a thing done, do it your-self.» Warte nicht, daß der andere den ersten Schritt mache, sondern mache ihn selbst. Das geht natürlich in seelische Tiefen und ist oft mit Ängsten verbunden. Der Satz fordert auf, eigenständig zu handeln, selbstverantwortlich zu sein, bei sich zu .bleiben und zu sich zu stehen. Für die Ost-West-Gespräche ist das unschätzbar: «Wisset, daß der Freund seiner selbst auch der Freund anderer ist.» (Seneca)

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