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6. Die schwarzen Schafe der Nation

 

 

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Daß der wesentliche Teil der Stasi-Akten vor der Vernichtung gerettet und einer vormund­schaft­lichen Verwendung durch westdeutsche Behörden und Archive entzogen wurde, verdanken wir dem engagierten Einsatz mutiger Menschen der Bürger­bewegung, einer der wenigen Siege, die von der <Revolution> — die keine wurde — übriggeblieben sind. 

Auch das Stasi-Akten-Einsichtsrecht, mühsam gegen die empfohlene Absicht zur Generalamnestie und zum vorschnellen Vergessen, die vor allem immer wieder im Westen hörbar wurde, durchgesetzt, erschien bislang wie ein Rest-Triumph, doch noch in Würde unsere eigenen Angelegenheiten klären und regeln zu können. Doch auch diese Hoffnung zerrinnt immer mehr. Diese Akten dienen mehr der Jagd auf Sündenböcke als der Aufklärung von Schuld und der Verstrickung in abnorme gesellschaftliche Verhältnisse.

Ich will nun zu erklären versuchen, weshalb gerade die inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi zu den schwarzen Schafen der Nation avancieren. 

Diese Rolle wächst ihnen aus mehreren Wurzeln zu: aus der persönlichen Psychologie, aus dem Charakter der besonders anrüchigen Drecksarbeit, dem Verrat, und aus den sensiblen Bereichen der Gesellschaft, in die bevorzugt ihre Spitzel­dienste eingebunden waren. Das spezifische Zusammenspiel von Persönlichkeits­struktur, Verrat und Strukturen der Gesellschaft ist für die meisten Menschen unseres Landes von Bedeutung. 

Fast alle sind davon Betroffene, nicht nur als Opfer, vielmehr noch als potentielle und reale Täter, eben nur nicht unbedingt im Gewand eines verpflichteten Spitzels. Aber die Verhältnisse in den Seelen der meisten Menschen lassen die Grenzen der Schuld fließend werden, manch einer dürfte nur deshalb nicht Spitzel der Stasi geworden sein, weil er von der »Firma« gar nicht gebraucht wurde, und noch viele mehr dürften Spitzel und Denunzianten gewesen sein, ohne jemals der Stasi gedient zu haben.

Weil die psychologischen Vorbedingungen für verwerfliches Handeln so ubiquitär sind und ich lediglich — bis auf wenige Ausnahmen — nur graduelle Unterschiede zwischen einem Spitzel und einem Noch-Nicht-Spitzel erkennen kann, eignet sich der IM auch so hervorragend als Projektions­schüssel. Sie ziehen praktisch alle unangenehmen Erregungen auf sich und saugen wie ein Tampon den unreinen Ausfluß auf, der möglichst hygienisch sauber und diskret dann durch sie beseitigt werden soll.

So war bereits die Auseinandersetzung mit den Folgen autoritär-repressiver Gewalt nach der Wende an der Stasi hängengeblieben. Sie war praktisch zum »Ausbund des Bösen« erklärt worden — wozu sie allerdings auch hinreichend Anlaß bot: Hier soll also keine Schuld bagatellisiert werden —, doch ermöglichte die Stasi es den meisten, ihr ganz persönliches Schicksal von Unterwerfung und Anpassung, von Entfremdung, von Demütigung und Kränkung nicht an den konkreten Personen und Verhältnissen des eigenen Lebens festmachen zu müssen.

Und vor allem konnte die Betroffenheit über das eigene aktive und passive Mitläufertum an der unleugbaren Schuld des Staats­sicher­heits­dienstes verblassen. Der Sündenbock war also benannt, und so konnte der schnelle Umstieg auf die neue Verheißung — äußere Freiheit und Wohlstand — als Erlösung von der Schmach versucht werden. Die Ernüchterung ist nun bei vielen längst eingetreten, aber was nun anfangen damit? Gott sei Dank haben wir ja noch unsere Stasi-Akten! Und damit können wir ja vielleicht die Sündenbock-Jagd wieder aufnehmen, aber natürlich nur gegen den geringsten und kleinsten aller Täter, wir wollen doch unsere Obrigkeits­ehrfurcht nicht aufgeben.

Die Verwunderung darüber, wie groß und heftig doch das Interesse an der Einsicht in die Akten ist, findet in diesem Zusammen­hang eine sinnvolle Erklärung: Wer in seiner Akte Stasi-Spitzel findet, der hat wieder konkrete Gegner und Täter, denen er seinen Zorn und seine Enttäuschung entgegenschleudern kann. Das, was als notwendige und bittere Einsicht und Erklärung finsterer Machtstrukturen und des eigenen Lebens gedacht war, droht in eine neue Sündenbock-Jagd zu entarten. Und die allgemeine Erregung und das sensationslüsterne Interesse der Medien sind dabei besonders auffällig. 

Gibt es denn wirklich Neuigkeiten in den Akten? Wußten wir denn nicht, daß wir überwacht und kontrolliert wurden? Damit und davon lebten wir doch! Saßen wir in kleinen Gruppen zusammen, hatten wir unsere bitteren Spaße doch auch darin, daß wir wie bei Kinder-Abzähl-Reimen: Eins, zwei drei, und du bist von der »Polizei« — unsere gemeinsame Angst zu bannen versuchten, ihr einen Grund geben und auch durch Galgenhumor etwas Distanz zur unerträglichen Wahrheit gewinnen wollten.

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Alle Enthüllungen über kleinliche Observation und banalste Informations­sammlungen, über Post- und Telefon­überwachung, über Wohnungs­einbrüche, Intrigen und Zersetzungs­kampagnen, über psychischen Terror und körperliche Gewalt und schließlich auch über Verrat können doch keine Überraschungen mehr für uns sein — hätten wir davon nichts gewußt, wie hätten wir sonst unser Verhalten in der DDR erklären und entschuldigen können? Weshalb also jetzt diese Entrüstung?

Unsere latente Angst war an die Stasi gebunden! Mit »latenter Angst« meine ich einen seelischen Zustand, der aus dem »Mangel­syndrom« und »Gefühlsstau« resultiert. Natürlich löst ein solcher Zustand auch Empörung und Protest aus, doch das vorhandene Gefühlsverbot macht daraus nur Schuldgefühle, weil der Mensch doch nicht so ist, wie von ihm erwartet wird, und weil er nur so tun kann, wie die Mächtigen es wollen und dabei immer Angst hegen muß, noch den letzten Rest an Bestätigung zu verlieren, wenn er durchschaut würde. Diese Angst muß gebunden werden, damit wir Menschen überhaupt überleben können, also müssen Gründe, Anlässe und Verursacher her, sie müssen phantasiert, erfunden, behauptet, aufgebauscht oder provoziert werden, und vor allem sind Schuldige nützlich, die eh schon beschmutzt sind, und so mag es wohl nicht auffallen, wenn wir ihnen unseren Dreck auch noch aufladen.

Das war die große Chance für die Stasi. Vor unserer Angst konnte sie sich aufblähen, wir ließen sie wuchern, wir verliehen ihr Kraft und Macht — sie war der Packesel unserer Angst. Habt Dank ihr Tschekisten! An unserer Last seid ihr zerbrochen, wir gaben euch zu viel zu schleppen. Ihr habt über uns gewacht, uns beschützt und gesichert — ihr brauchtet einen immer größeren Apparat, einen Moloch an Verwaltung, Millionen Akten, Hunderttausende offizielle und inoffizielle Mitarbeiter — die einzige »Firma« in der DDR, die nie Personalmangel hatte, keine Nachwuchssorgen. Es gab offenbar keinen wirklichen Bruch zwischen dem Volk und seinem Sicherungs-Organ. Und nebenbei gesagt: Die westlichen Versicherungen sind jetzt nicht viel schlechter dran — Hochkonjunktur, riesiges Geschäft, willige Klienten, rundherum alles sicher, alles versichert! 

Wieviel Sicherheit braucht der Mensch? Soviel, wie er latente Angst in sich trägt! Jedenfalls haben die »Tapfersten und Edelsten« des »real existierenden Sozialismus« ihre letzte große Aufgabe noch hervorragend erfüllt. Als sie ausspioniert hatten, daß der Kampf verloren ist, haben sie die Massenflucht in den Westen, sicher und ordentlich, wie es ihre Art ist, organisiert und geführt. Sie gaben dem Volk einen treuen Diener zum Minister­präsidenten, der die DDR an die Bundesrepublik zu übergeben hatte, wofür Millionen Wähler ihn auch nominiert hatten.

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Das große Verdienst de Maizieres liegt also darin, keine latente Angst aufkommen zu lassen — nur die Kontroll­organe und -strukturen mußten gewechselt werden. Und nicht zu vergessen, daß unser erster frei gewählter Minister­präsident »Czerny« war, wußte die Bundesregierung lange bevor es die Presse enthüllte. Ein Narr, der nichts Schlechtes dabei denkt.

Wie zuverlässig letztlich die Stasi ihre Arbeit noch erledigte, kann man vor allem an der Tatsache des friedlichen Ablaufs der Wende erkennen. Nur die Staatssicherheit besaß letztlich die Verfügungs- und Befehlsgewalt über einen Waffeneinsatz. Polizei und Armee waren ja ebenso unter ihrer Kontrolle wie alle anderen Organisationen und Institutionen der Gesellschaft. Wieso ist denn keinem der bis an die Zähne bewaffneten Tschekisten auch nur ein Schuß losgegangen? War es doch nicht die äußerste Bedrängnis für sie? Wir können uns entscheiden zwischen gut organisierter Besonnenheit — wie es Stasi-Art war — oder einer lähmenden Kollektiv­hypnose, was dann aber auch als Beweis für ungewöhnlich wirksame unbewußte Kräfte angesehen werden muß. 

Ich will meinen bitteren Sarkasmus etwas dämpfen und einräumen, daß es weiterer historischer Forschung obliegen wird zu klären, ob die Stasi aus bloßer Schwäche oder eben gezielter Absicht ein Blutbad verhinderte. Aber den friedlichen Verlauf der »Revolution« der Besonnenheit der »Revolutionäre« zuschreiben und mit ihrer besonders ausgeprägten menschlichen Reife erklären zu wollen und zu glauben, daß mögliche Gewalt sich allein durch Schärpen über der Brust bannen ließe, wer solches heute immer noch ernsthaft behauptet, dessen Naivität ist bereits wieder gefährlich. Man müßte dann nämlich auch einräumen, daß die demonstrierenden Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking weniger edel und besonnen als wir Ost­deutschen gewesen sind, denn dort war der Ausgang ja nun bekanntermaßen ein anderer.

Nein, wir haben uns wirklich um unsere Revolution gebracht, und die Stasi hat dabei noch mächtig mitgemischt. Doch deshalb erregen wir uns nicht, wir schämen uns nicht einmal eines de Maizière — nein, wir verfolgen die inoffiziellen Mitarbeiter. Sie stehen am Pranger, nicht etwa die Führungsoffiziere, die aus Menschen Spitzel machten. Wären die etwa schon unseren Eltern zu ähnlich, zu nahe? Also: Führungsoffiziere sind gefährlicher als Spitzel, aber auch sie sind nicht die eigentliche Gefahr. Wir erst sind es, die sie wirklich gefährlich machen: Unsere Angst, unsere Bedürftigkeit, unsere Abhängigkeit und Autoritätshörigkeit, unser Obrigkeitsdenken und die mangelnde Zivilcourage sind die wirkliche Gefahr. Dies ist der belastete Boden, auf dem jede Menge Unkraut wuchern kann.

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Es geht nicht so sehr darum, sich über die IMs zu entrüsten, als um das, was man über uns erkennen kann, wenn wir uns die inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit etwas näher anschauen. Ihre Persönlichkeiten werden offensichtlich durch Eigen­schaften charakterisiert, die sie für die speziellen Aufgaben ihrer Tätigkeit brauchen: Sie müssen wegen der auferlegten Verschwiegenheit eher gehemmt und zurückhaltend sein, die Verpflichtung zur Konspiration verlangt Zuverlässigkeit, Disziplin, einen Schuß Abenteuerlust und ein deutliches Bedürfnis nach Geltung, Bedeutung und Wichtigkeit, die aber nicht autonom-kreativ genutzt werden, sondern nur in Abhängigkeit gelebt werden darf. Bedeutung muß sozusagen verliehen werden, sie wird nicht aus innerer Sicherheit und Selbstwert geschöpft. 

Dies würde ich auch für so bedeutende IMs wie »Sekretär« oder »Czerny« annehmen, da die Cleverness und Souveränität von relativem Wert sein dürften, also mehr die ausgestaltete Oberfläche der Persönlichkeit ausmachen, die gerade deshalb so tüchtig erscheint, weil damit eine tiefe innere Not abgewehrt werden soll. Eine Tatsache, die bei vielen großen Persönlichkeiten der Geschichte festgestellt werden muß; ja, die innerseelische Problematik stellt nahezu die Energie zur Verfügung, um besondere Leistungen vollbringen zu können. Für bedenklich halte ich besonders die meist völlig falsche Bewertung solcher Leistungen, die gewürdigt und honoriert werden, ohne die innere Problematik zu erkennen. Auf diese Weise vollzieht sich oft unter dem Deckmantel des Erfolges eine tiefe Zerstörung der Seele, die sich letztlich als schwere psychosomatische Erkrankung, als tragischer Beziehungs­konflikt oder im destruktiven sozialen Ausagieren manifestieren wird.

Das konspirative Leben erfordert eine besondere psychische Konstellation. Man darf dabei überhaupt nicht an Spione aus einschlägigen Filmen denken, die als Meister der ganz bewußten, eingeübten und hart antrainierten Verstellung dargestellt werden — die IMs müssen eher als das genaue Gegenteil angesehen werden. Sie sind nicht »gespalten« in eine Persönlichkeit, die hier lebt und arbeitet und dort denunziert und verrät. Sie gehen in der Regel nicht hin, um auszuspionieren, sie schleichen sich nicht in das Vertrauen anderer, sie spielen nicht eine Freundschaft, Partnerschaft und kollegiale Beziehung mit der Absicht, dadurch verwertbares Material zu bekommen — nein, vielmehr sind die sogenannten Informationsdienste und das normale Leben eins.

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Ein Doppelleben ist gar nicht nötig und eine besondere Verstellung auch gar nicht mehr möglich, weil diese schon längst vollzogen ist, und zwar aus ganz anderen, von der Stasi völlig unabhängigen Gründen. Das Sicherheitsorgan ist nur der Nutznießer davon.

 

Die entsprechende Vorbereitung dazu ist die Einengung der Seele, die der Mensch sich zwangsläufig erwirbt als Folge der bitteren Enttäuschungen und Entbehrungen in Zuwendung und Bestätigung in den frühen Jahren seiner Lebensgeschichte. Die gelernte und ehemals hilfreiche »Abpanzerung« von den Verletzungen der Seele ist die beste Voraussetzung für ein konspiratives Leben — besser läßt sich diese innere Konstellation äußerlich nicht leben. Die verlangte Geheimniskrämerei, die selbst Ehepartner mit einschließt, ist nahezu das perfekte Abbild des Schutzbedürfnisses der kranken Seele. In der auferlegten Verschwiegenheit und Vertraulichkeit findet das schmerzende und belastete Innenleben, das sich ständig gegen unkontrollierte Erregungen und Gefühlsausbrüche schützen muß, die optimale äußere Ergänzung, das passende Korsett also für das schon längst gebrochene »Rückgrat«. Die Stasi nimmt die innerlich gebrochenen Menschen an die Brust und gibt ihnen ein hilfreiches, wenn auch makabres Gerüst.

Dies würde ich auch für die erpreßten und genötigten sogenannten Opfertäter sagen, denn das Delikt oder die Schwäche, die denjenigen verwundbar machen, sind in den meisten Fällen auch schon Ausdruck einer inneren unbewältigten Problematik, und wenn man dafür zu Spitzeldiensten angeheuert wird, wird auch eine notwendige klärende Erkenntnis und Schulderfahrung mit entsprechender Lebensveränderung verhindert. Subjektiv gesehen ist dann die Erpressung immer noch das kleinere Übel, sonst wären so viele ja auch nicht darauf eingegangen. Immerhin wäre es ja auch möglich gewesen, die Strafe anzunehmen, das straf­bare Verhalten mit Reue und Buße als eine Chance zur sinnvollen Lebensveränderung zu nutzen, anstatt sich noch ein zusätzliches moralisches Versagen mit weiterer Schuld aufladen zu lassen. Auch dabei sind die Delinquenten nicht allein, das gleiche Prinzip herrscht im Grunde genommen bei allen neurotischen Störungen: Die Krankheit mit allen auch gravierenden Beschwerden, Konflikten und belastenden Lebenseinengungen ist für den betroffenen Patienten immer das kleinere Übel als die Erkenntnis der ursächlichen Zusammenhänge und die Notwendigkeit zur Lebensveränderung.

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Wenn dies nicht so wäre, gäbe es keine Neurosen mehr, würden die Menschen nicht eine Erkrankung bitterer Erkenntnis und anstrengender Veränderung vorziehen.

Der Kontakt der IMs zu ihren Führungsoffizieren entspricht häufiger einer eher selbstverständlichen, durchschnittlichen und normalen Beziehung, wobei eigene Interessen und Bedürfnisse befriedigt wurden. Daß ein IM dabei sich abgequält hätte und mit schweren Gewissensbissen beladen gewesen wäre, dürfte mehr einer Legende oder späteren Schutzbehauptung entsprechen, an solchen unsicheren Mitarbeitern hatte die Stasi kein sonderliches Interesse. Aber natürlich hat es auch Entwicklungen und neue Einsichten bei IMs gegeben und welche, die ausgestiegen sind, was zuvor natürlich auch ihre Einstellung zu ihrer Tätigkeit verändert hat, nur ist eben dies nicht die Regel gewesen.

In diesem Zusammenhang muß leider auch festgestellt werden, daß nur ganz wenige IMs sich nach der Wende selbst offenbart haben. Wenn also sehr viele von den IMs sich widerwillig zu diesen Diensten erpreßt gefühlt hätten, so ist nicht einzusehen, weshalb sie nach der Wende nicht sofort die Gelegenheit ergriffen haben, ihre Führungsoffiziere zu denunzieren und vor allem Strafanzeige gegen sie zu stellen. Daß dies nicht oder nur höchst selten vorgekommen ist, macht eben auch deutlich, daß zur Erpressung immer auch eine innere Bereitschaft oder eine bestimmte seelische Konstellation des Erpreßten hinzugerechnet werden muß.

Ich fürchte schon wieder Mißverständnisse, daß ein Kritiker sagen wird: Also sind die Opfer schuld! Nein, wer Mittel der Erpressung anwendet, ist ein Schweinehund und muß dafür entsprechend bestraft werden! Nur löst dies noch nicht das Problem, von dem ich rede, gemeint sind die gesellschaftlichen Strukturen, die Menschen im allgemeinen so seelisch einschüchtern, daß sie relativ leicht erpreßbar werden. Darauf will ich vor allem aufmerksam machen, um die Prozesse der Schuldverschiebung zu erschweren, denn damit lösen wir unsere Lebensprobleme überhaupt noch nicht.

 

Motive, Interessenlage und die Art und Weise, wie jemand zum IM wurde, sind sehr verschieden und doch lassen sich Tendenzen für »Kategorien« erkennen.

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1. Die Karrieretäter : Sie sind die geltungsstrebigen, die machtbesessenen, die aktiven Macher und Aufstreber, die immer bei den Stärkeren sein wollen, um innere Schwäche und Angst, um Ohnmacht und Ratlosigkeit auszugleichen. Sie wollen im Beruf an die Spitze, das ist ihre Schwachstelle, an der sie gepackt werden können und korrumpierbar sind. Aber sie erleben das nicht als sonderlich problematisch, sie haben gute Rationalisierungen: Nur oben könne man wirklich etwas bewirken und Einfluß nehmen, dafür müsse man halt auch einiges in Kauf nehmen. Sie fühlen also Verantwortung, erleben sich in die Pflicht genommen, wollen etwas bewirken und Positionen besetzen, damit es nicht noch schlimmer oder manches besser gemacht wird. Sie handeln aus Ehrgeiz, aus Berechnung, mit der vollen Absicht, aufzusteigen. Sie haben nichts anderes gelernt.

Oder: Erfolgreich sein war die einzige Möglichkeit, »Gnade« bei den Eltern zu finden. Die Bestätigung und Anerkennung für Tüchtigkeit und Leistung sollte die nicht genügend vorhandene Einfühlung und Liebe ersetzen. Das muß nicht mit Zuckerbrot und Peitsche geschehen sein. Es gibt Familien, da herrscht auch unausgesprochen eine selbstverständliche Atmosphäre, die unbe­zweifelbar übermittelt: Wir sind tüchtig und erfolgreich! Nur Leistung zählt! Haste was — biste was! Das ist insgesamt eine schwere seelische Last, weil man um die herrliche Erfahrung gebracht wird, auch ganz einfach nur für das bloße Dasein ange­nommen zu sein.

Es ist besonders tragisch für nicht so begabten Nachwuchs und schlimm für uns alle, wenn sich solche Haltungen fortpflanzen, weil sie letztlich zerstörerisch sind.

Für die Karriere heiligt der Zweck die Mittel und als Zweck werden meist hehre Ziele bemüht: Frieden, Wohlstand, das Wohl des Volkes, menschliche Erleichterungen. Und sie glauben daran, daß sie etwas bewirken und erreichen könnten und fühlen sich bestätigt und entschuldigt durch tatsächliche Ergebnisse. Es ist der eigene Größenwahn, der die innere Nichtigkeit vergessen machen soll. Diese Täter werden von den Mächtigen jeder Couleur beschützt und verteidigt — ihre Aktivitäten und Leistungs­fähigkeit, ihre Kompetenz und Erfahrung werden gerühmt, ihre Verdienste herausgestrichen — selbstverständlich bleiben die psychischen Motive verdeckt, sie haben dann natürlich auch niemandem geschadet, weil sie ja nur das Beste wollten, und so wird fast jede Drecksarbeit und Schweinerei verklärt und veredelt.

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Vor allem aber bleibt die innere Not verborgen, die zur Täterschaft verführt. Machtinteressen, Erfolgs­denken und Pragmatismus sind die Trias, die auch die Unmoral der Spitzeldienste umdeutet in die Zwänge höherer Interessen. Da hat dann auch letztendlich ein einzelnes Menschenschicksal keine besondere Bedeutung mehr.

Die Karrieretäter wollen im Dialog mit der Macht sich selber mächtig fühlen. Sie brauchen zu ihrer Selbst­bestätigung Einfluß und Bedeutung, das ist ihre Droge gegen die tief erfahrene Bedeutungslosigkeit. Sie brauchen sich zu Spitzeldiensten gar nicht erst verpflichten zu lassen, sie handeln aus eigener Überzeugung — nicht unbedingt für das herrschende Machtsystem, aber für die eigenen Machtgelüste. So dürften auch zwischen ihren Idealen und denen der Führungsoffiziere kaum Differenzen bestehen: Ordnung und Disziplin, Sicherheit und Ruhe als oberste Bürgerpflicht, Effizienz und Erfolg des Handelns — all diese deutschen Sekundärtugenden als absolute Wertorientierung dürften es ihnen leicht machen, sich miteinander zu verstehen und zu verständigen. Aus diesem Grunde konnte es sich die Stasi auch erlauben, fast alle höheren Leiter in allen gesellschaftlichen Funktionen regelmäßig »abzuschöpfen«. Da die Interessenlage identisch war, wurden Kontakte und Gespräche als selbst­verständlich empfunden, ja sie wurden mitunter sogar gesucht. Einmal mußte man der Stasi dabei etwas entgegenkommen und gefällig sein, ein anderes Mal konnte man freundliche Unterstützung und Hilfe bei den Organen der Macht erwarten. Ein Mann wie Stolpe mußte gar nicht erst IM werden, um ein IM zu sein!

 

2. Die Bedürftigkeitstäter : Sie handelten vor allem aus innerer unerfüllter Bedürftigkeit, die aber eher aus passiver, subalterner und abhängiger Haltung heraus befriedigt werden möchte — im Unterschied zum aktiv-expansiven, dominanten Bemühen der Karrieretäter. Die Grundstörung ist bei beiden Varianten durchaus vergleichbar, nur ihre Bewältigungsversuche sind verschieden und abhängig von Persönlichkeitsstruktur, Energiezustand und sozialem Milieu bei der ursprünglichen Prägung. Sie sind meist blaß, leise und zurückhaltend, dabei eher fleißig und strebsam, aber meist nicht sonderlich talentiert. Sie haschen ein Leben lang mühsam nach ein wenig Anerkennung. Durch Anstrengung und Tüchtigkeit, durch gute Zensuren und Lob, meist mühsam erarbeitet, wollen sie sich Aufmerksamkeit und Bestätigung holen. Sie dienen durch Gefälligkeiten, sind angepaßt und gehorsam, können schlecht nein sagen und ablehnen, wenn von ihnen etwas verlangt oder erbeten wird.

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Sie sind zum Spitzel besonders geeignet, weil ihr Gehorsam die psychische Abhängigkeit vom Führungsoffizier und damit das konspirative Handeln sichert.

Der Führungsoffizier scheint das erfüllen zu können, was die Eltern schuldig geblieben sind: Interesse, Aufmerksamkeit, Bestätigung und Anerkennung. Endlich hört mal jemand zu, ist an den Mitteilungen interessiert und zeigt Wohlwollen. Die freundliche Tour und die persönliche Ansprache: Wir brauchen dich, du bist wichtig, du dienst einer großen Sache, du kannst helfen, wir fördern dich, wir schützen dich — waren die wirksamsten Mittel, Spitzel zu machen. Die Anerkennung und Bedeutung, die diese Menschen in ihrem Leben nie bekommen hatten, hat die Stasi praktisch feilgeboten. Die IMs, die in diese Gruppe passen, hatten vielmehr in ihrer Kindheit zu hören bekommen: Du taugst nichts, deine Meinung ist nicht gefragt, wir mögen dich nicht, du bringst es zu nichts — dies mußte nicht expressiv verbis ausgesprochen worden sein, es genügte die allgemeine Atmosphäre von Ablehnung, um eine tiefe Verunsicherung zu hinterlassen.

Das leichte Zusammenspiel autoritärer Erziehung mit dem inneren Mangelsyndrom als Folge und der späteren geschickten Ausnutzung dieses Zustandes durch Partei und Staatssicherheit zeigt besonders deutlich, wie menschenfeindlich autoritäre Herrschaftsstrukturen sind und wie gefährlich sie werden können. Diese zutiefst unmoralischen konspirativen Gespräche wurden auf diese Weise gar nicht mehr als etwas Verwerfliches empfunden, sondern konnten zu ganz normalen, mitunter sogar zu angenehmen Begegnungen heruntergespielt werden. Man traf sich zu einem Essen, bei Tee oder Kaffee, plauderte über dieses und jenes, und die Gesprächs­partner waren freundlich interessiert, jovial, vermittelten positive Bestätigung, die geeignet war, das verletzte Selbstwertgefühl der Ausgehorchten aufzupolieren. Da war kein besonderer Auftrag mehr nötig. Die IMs plauderten aus ihrer Bedürftigkeit und konnten sich endlich »angenommen« fühlen. Ein Umstand, der das fast vollständige Fehlen eines Schuld­bewußtseins und die Schutzbehauptung: »Ich habe doch keinem geschadet« erklären mag.

Die Gespräche verliefen so, daß gar nicht der Gedanke aufkommen konnte, man würde jemanden »in die Pfanne« hauen. Seelische Bedürftigkeit macht blind. Laßt die Kinder in einem Mangelzustand und ihr habt später ein Heer von Spitzeln, Soldaten und Konsumenten!

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So können wir auch verstehen, daß es zumeist eben gerade kein Doppelleben für die Spitzel gab, sie waren nicht »angesetzt« und allein zum Aushorchen irgendwo hingegangen, um dann nur darüber Bericht zu erstatten. Das hat es sicher auch gegeben, aber eher ist es die Ausnahme. Es wäre also ein großer Irrtum zu glauben, diese Täter seien wie Agenten: einerseits verkappte Akteure in einer subversiven Gruppe und andererseits Lauscher, Späher und kaltblütige Verräter. 

Nein, auch die oppositionelle Haltung muß dann nur als eine andere Variante derselben Problematik angesehen werden, die zu Spitzeldiensten verführt. Es geht um Sehnsucht nach etwas Aufmerksamkeit, Anerkennung und Zuwendung. Und dies wird zugleich doppelt geboten: als »Held« der Opposition und als liebevoll »Betreuter« des MfS (siehe Böhme, Schnur, Anderson). Die Stasi war der ideale Partner für alle, die sich bei Autoritäten beliebt machen mußten. Das Sich-Aussprechen-Können einerseits und das verständnisvolle Angehört-Werden andererseits sind eine große Versuchung für viele Menschen, die schon bei ihren Eltern wirkliche Annahme nie erfahren, aber Unterwerfung unter ihren Willen lernen mußten. Wer so erzieht, schafft die Grundlagen für eine Organisation wie den Staatssicherheitsdienst — ohne eine solche »Firma« wären die Menschen im Mangelzustand verurteilt zur Krankheit und Gewalt. Es klingt absurd, und ich will damit keineswegs eine solche Organisation rechtfertigen — nein, was ich will, ist, daß wir alle unseren Anteil daran erkennen und Verantwortung übernehmen für die künftige Verhinderung der psychosozialen Grundlagen solcher Verführbarkeit. Denn eine Stasi braucht Spitzel, und die Spitzel werden durch Erziehung produziert. Wir können zwar die Stasi abschaffen, aber wenn wir z.B. die Erziehung nicht verändern, haben wir bald wieder eine neue Stasi oder eben Gewalt auf unseren Straßen.

 

3. Die Opfertäter (die Verfehlungstäter) : Das sind die Erpreßten, Gezwungenen und Genötigten. Entweder wurden kriminelle Delikte genutzt oder Handlungen, die als »politische Straftat« verfolgt werden konnten, aber auch die empfindlichen Schwach­stellen eines Menschen wurden aufgegriffen, um ihn gefügig zu machen. Deshalb war die Stasi ja auch so interessiert, vieles über viele Menschen, auch über ganz Privates und Belangloses zu erfahren, um es bei Gelegenheit psychologisch geschickt gegen den Betreffenden nutzen zu können. Schon deshalb war prinzipiell jede Mitteilung an die Stasi zum Schaden für andere.

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Mit dem Wissen konnte die Stasi dann andeuten, drohen und ängstigen. Immer den Nerv anzielend, konnten kleine Vorteile versprochen und Möglichkeiten eröffnet werden, die für den Betreffenden von zentraler Bedeutung waren. Da konnten Strafen gemildert oder erlassen werden, da ging es um die kleinen Privilegien von Ausbildung, Studium, Reise, Wohnung und Geld.

Die Anwerbung geschah bei Verhören, im Gefängnis, bei der Armee oder in anderen Abhängigkeitssituationen, in seelischen Notlagen und psychischen Konfliktsituationen. Im Zustand größter Not, wo sie als Opfer menschlicher Schwächen und Verfehlungen labilisiert und korrumpiert sind, wo sie dringend der mitmenschlichen Hilfe, des Einfühlens und Verstehens bedürfen, tritt die Stasi als »Freund und Helfer« auf und übernimmt »elterliche« Funktionen: Sie verspricht, verzeiht, versteht, eröffnet neue Chancen, oder auch in der brutalen Form: Sie bedroht, schüchtert ein, erpreßt, nutzt schamlos aus, quält und macht sich die vorhandene Selbstunsicherheit zu nutze.

Es ist mitunter schon erstaunlich, für welche Bagatelle sich Menschen erpressen lassen. Im Grunde genommen ist dies nicht durch die reale Tat zu erklären, sondern nur durch das viel größere Schuldgefühl, durch die Angst vor phantasierten Folgen, durch die Scham. und Peinlichkeit als Folge einengender, tabuisierender, kleinkarierter und bigotter Erziehung. Menschen im Mangel­zustand sind leicht verführbar und suggestibel, schwach und ohne klare Orientierung und ohne sicheren Halt. Da lassen sich auch immer sexuelle Begierden oder pekuniäre Nachlässigkeiten provozieren und kleine Delikte aufbauschen, um die Unsicherheit auszubeuten. Autoritäre Erziehung erzeugt eben Lug und Trug, Heimlichkeit und Hinterlist, Angst und Schuldgefühle — ein idealer Nährboden für die dunklen, üblen Machenschaften eines Geheimdienstes, der das Dunkle sucht und den »Schlamm« braucht, um seine schmutzigen Geschäfte im Verborgenen halten zu können.

Diese Täter haben wohl häufiger unter ihren Diensten auch gelitten, sie waren gequält, verzweifelt, reagierten auch eher mit seelischen, funktionellen und psychosomatischen Beschwerden. Sie kamen als Patienten auch zu DDR-Zeiten schon mal vor, die anderen nie. Allerdings haben auch sie sich nach der Wende nicht gerade häufig offenbart, doch wohl nicht allein aus Scham, sondern weil eben das infam ausgebeutete Delikt oder die menschliche Schwäche einen Zugang zur belasteten Lebensgeschichte und zum fragwürdigen Lebensarrangement (auch völlig ohne Stasi) eröffnen und damit eine umfassendere Schuld zutage fördern würde, wollten sie sich damit offenbaren.

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4. Die Gehorsams-, Überzeugungs- und Rachetäter : Es bleibt noch diese geringe Zahl. Aus Gehorsam mag dieser oder jener Mitteilungen gemacht haben, einfach weil es von ihm verlangt oder erbeten wurde, weil, das Neinsagen nie geübt, aus innerer Unsicherheit und Abhängigkeit gar keine Verhaltensalternative zur Verfügung stand. Ihre Scheu machte sie aber für die »Firma« auch nicht gerade sehr geeignet.

Die Überzeugungstäter handelten ideologisch verblendet, fanatisiert oder auch nur von der guten Sache überzeugt, die Idee einer besseren Welt wirklich noch vor Augen. Von den Idealen des Sozialismus beseelt, stammten sie meist aus antifaschistischer Tradition. Aber solche Täter waren eher bei der SED aktiv als bei der Stasi, weil sie ihre Überzeugung in der Regel offen zur Schau trugen und jeder sehen und hören konnte, was sie dachten und wollten und so für konspirative Tätigkeit kaum zu gebrauchen waren. Nein, die Stasi war für ihre Belange vielmehr an den Menschen interessiert, denen man »so etwas« überhaupt nicht zutrauen konnte.

Und schließlich gibt es noch die Rachetäter, das sind die wirklich schmierigen Denunzianten, die ihre kleinlichen und spießigen Lebensprobleme und Nachbarschaftskonflikte glaubten feige und hinter dem Rücken, die üblen politischen Verhältnisse nutzend, lösen zu können — Menschen, die in ihrer Entwicklung auf der infantilen Stufe des Verpetzens stehengeblieben sind. Wenn auch äußerst widerwärtig: natürlich läßt sich auch bei ihnen eine zuvor erfolgte seelische Einschüchterung diagnostizieren. Aber auch diese Typen dürften bei der Stasi kein besonderes Interesse geweckt haben.

Wer sich aus solcher Perspektive als potentieller Spitzel oder als möglicher Handlanger überhaupt nicht wiederfinden sollte, der möge mir schreiben. Ich habe keine Furcht, an der Post zu ersticken. Wer die Stasi bekämpfen oder lediglich die IMs verfolgen will, rackert sich sinnlos nur an Symptomen ab, wo grundlegende Strukturveränderungen einer Gesellschaft vonnöten sind, die vor allem autoritäre Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau, Politikern und Wählern, Experten und Laien, Bürokraten und Bürgern aufheben müssen.

Die Stasi muß zwar aufgelöst und die Spitzel müssen enttarnt werden, aber nicht stellvertretend und schuldverschiebend, sondern um Strukturen und ihre Folgen aufzudecken, zu verstehen und zu verändern. Täter müssen bestraft und geächtet sein, aber sie dürfen nicht für ewig ausgegrenzt und verdammt werden. Sonst wird altes Unrecht nur durch neues ersetzt.

Zum Strafen ist nur berechtigt, wer auch Raum für Reue läßt und zur Vergebung fähig ist, aber Vergebung kann nur nach Einsicht und Buße erfolgen. Lippenbekenntnisse und Gehirnwäsche sind keine geeigneten Methoden dafür. Psychologische Analyse kann und will nicht Schuld exkulpieren, aber sie kann Schulderkenntnis- und -bekenntnis erleichtern und damit auch neue Schuld vermindern helfen. 

Ich sage es noch einmal: Bei der öffentlichen Erregung über die IMs geht es nach meiner Beobachtung vor allem um Schuldverschiebung: Von den wirklich großen Tätern, die offensichtlich durch die Obrigkeits­scheu geschützt sind und von der eigenen Mittäterschaft auf Sündenböcke, die auf sich Eigenschaften versammeln, die Abscheu und Empörung geradezu anziehen: der Verrat, die Verlogenheit, die persönlichen Vorteile, die moralische Schwäche, das Kungeln mit der Macht, die Gewissenlosigkeit, die Gefühlskalte. 

Wer aber würde sich darin nicht bei genauem Hinsehen wiedererkennen. Insbesondere, wenn man an Partner, Kinder, Freunde und Kollegen denkt, die man verraten, belogen, betrogen, im Stich gelassen und enttäuscht hat. Und die Bedürftigkeit, die von vielen Spitzeln so schamlos ausagiert wurde, wie sehr sind wir davon nicht auch betroffen und quälen uns mit Verbergen und Beherrschen und mit Kompensieren, wo andere sich so gehenlassen.

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