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7.  Zum Umgang mit den Tätern 

 

Vom Opfer zum Täter? (95)  Das unfreiwillige Outing (98)  Schuld als Tragödie (100)  Die Schuld der »Schwachen« (103)

 

Vom Opfer zum Täter? 

95-105

Ein völlig ungelöstes Problem ist der Umgang mit den Tätern. Strafrechtsverfahren, Überprüfungen und Entlassungen sind notwendig, aber völlig unzureichend, um dem viel komplexeren Geschehen einigermaßen gerecht zu werden. Opfer-Täter-Gespräche können sehr sinnvoll und nützlich sein, wenn sie nicht nur vordergründigen Showinteressen und Medien­rummel dienen mit kommerziellen Gewinnen und exhibitionistischer Befriedigung.

Aber die meisten Täter sind ja nicht zu ernsthaften, verstehenden, klärenden Gesprächen bereit, sie verweigern sich und schweigen. Und wenn sie doch zur Rede gestellt oder bekannt werden, leugnen sie häufig, bagatellisieren ihr Tun und sagen fast immer: »Ich habe aber niemandem geschadet!«

Gerade enttarnte IMs zeigen überwiegend eine bockige Abwehr, verteidigen und erklären sich, sie verharm­losen ihre Schuld und zeigen mehr Selbstgerechtigkeit als eine Bereitschaft zum Schuldbekenntnis. Und wenn doch, dann ist es meist diese peinliche und infantile, von Eltern und Schule abgerungene Entschuldigung und verlogene Zerknirschung: Ja, ich sehe ja alles ein, ich will mich bessern und bin auch wieder ganz lieb.

Im Grunde genommen ist dies eine unmögliche Situation. Unter solchen Bedingungen könnte zum Beispiel keine Therapie geschehen, weil diese immer an die ehrliche Bereitschaft des Klienten gebunden ist, sich wirklich zu öffnen und mitzuteilen, auch über das Unangenehme, Peinliche, Schmerzliche und scheinbar nur Nebensächliche.

Was also kann man über die mögliche Strafverfolgung und Entlassung aus öffentlichen Diensten und Führungs­funktionen hinaus noch tun?

Wer Schuldverschiebung und den Sündenbockmechanismus vermeiden will, was moralisch dringend geboten ist und auch öffentlich bestärkt werden sollte, um nicht vom Opfer zum Täter zu werden, vom Verfolgten zum Verfolger, der kann Gespräche suchen oder anbieten, aber er muß unbedingt seine eigene Einstellung zu den Tätern vor sich selbst klarstellen. Gespräche werden nur selten zustandekommen, was zu bedauern ist, aber wer als Opfer vor der inneren Selbstklärung kneift, der wird schon wieder schuldig.

Gespräche sind der Ort, wo Aug' in Aug' Empörung, Enttäuschung, Angst, Schmerz und Trauer geäußert werden können, wo Zusammenhänge und Hintergründe aus der Lebensgeschichte und sozialen Verstrickung deutlich und persönliche Motive, Not und Versagen benannt werden können. Solche Gesprächsangebote können wir offenhalten, ich halte aber nichts von »Rettungs­aktionen« und aufgedrängter »Hilfe« — das wäre ebenso sinnlos, wie Süchtige von ihrem Fehlverhalten abbringen zu wollen, was meist auch mehr der »Helfer« braucht, als daß es dem Betroffenen dient. Aber eine Hand können wir immer hinhalten, müssen aber mit der bitteren Tatsache leben, daß sie häufiger wohl nicht ergriffen wird. Als reife Haltung empfinde ich die eigene Fähigkeit, auf Verfolgen und Bekehren verzichten zu können, aber für die auch belastende Beziehung offen zu bleiben. Wer als Täter freiwillig und bereitwillig klärende Kontakte sucht, öffnet für sich und andere neue Möglichkeiten, wenn dabei Schuld erlebt und mit allen Gefühlsfacetten durchlitten werden kann. Der Gesprächspartner sollte also auf Trost, Entschuldigung und Verurteilung verzichten, nicht aber auf seine eigenen Gefühle, auf den Ausdruck seiner Betroffenheit.

Schwierig bleibt die Situation, wenn IMs bekannt werden (zum Beispiel durch Akteneinsicht), die sich nicht freiwillig offenbart haben und auch dann noch leugnen und ihre Unschuld beteuern, wenn die Indizien gravierend sind. Erneut sind dann die ehemaligen Opfer wieder Betroffene, die eine Last zu tragen haben: Sie müssen Klärungen herbeiführen, Entscheidungen treffen und die Beziehungen neu ordnen — schließlich sind es Familienangehörige, Freunde und Bekannte, Kollegen, mit denen man weitere Kontakte hat, haben muß, haben möchte oder eben auch nicht.

Bei mangelnder Klärungsbereitschaft und vorwiegender Abwehr und Verschlossenheit der Schuldigen werden die Stasiakten nahezu zu »objektiven« Beweismitteln, um das Verhalten und die mögliche Schuld des Stasi-Mitarbeiters halbwegs einschätzen zu können. Dies ist eine unwürdige und beschämende Situation, wenn man die Stasi und ihre Produkte zu Zeugen oder Zeugnissen nehmen muß. Die Entscheidungsnot läßt aber oft keine andere Wahl zu.

Die Tatsache des hartnäckigen Leugnens kann uns auf den verdeckten aggressiven Charakter der Verweigerung aufmerksam machen. Ich hatte bereits die Zurückhaltung der IMs als eine Schutzfunktion herausgearbeitet, weil die Offenbarung über die Stasi-Mitarbeit zum Einstieg in die verdrängte gesamte Lebens­problematik werden kann, die den Betreffenden dann wie bei einem Dammbruch überfluten könnte.

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Aber die Aggression der Verweigerung weist uns noch auf eine andere Funktion der Spitzeldienste hin: Sie waren offensichtlich auch ein möglicher Abfluß gestauter Aggressivität gegen Verwandte, Freunde, Kollegen und Vorgesetzte, mit denen eine offene Auseinandersetzung offenbar gescheut wurde. Dies macht uns erneut aufmerksam auf die innere Konstellation der IMs: Mangelsyndrom und Gefühlsstau, unbefriedigte Bedürftigkeit und Enttäuschungs­wut, die nicht gegen die schuldigen Verursacher gerichtet werden, sondern gegen die »Geschwister« und »Ersatzeltern«, zu denen alle Autoritäten gemacht werden können. Und ein Rest dieser abgelenkten Aggressivität kann mit dem Leugnen jetzt noch ausgelebt werden, andernfalls würden ja eventuell die wirklichen und ängstlich gemiedenen Haßobjekte als Zielscheibe fällig.

Als Betroffener kann ich mein Verhalten aber nicht von der Bereitschaft der ehemaligen Täter und Verräter abhängig machen, ich muß mich klarmachen, auch wenn kein Entgegenkommen vorhanden ist. Dies gelingt am ehesten, wenn ich über meine eigene Lebenssituation mit all ihren Erfolgen und all ihrer Schuld gut Bescheid weiß. Das mag paradox klingen, doch ist es sicher einleuchtend, daß nur durch eine umfassende Selbstkenntnis und möglichst unverzerrte Selbsteinschätzung die mögliche Projektion, Schuldverschiebung und die ängstliche Nachsicht und das vorschnelle Verzeihen vermindert werden können. 

Zwar ist auch der verstockte Täter meinen offenen Zorn, die berechtigte Entrüstung und schmerzliche Enttäuschung wert, aber er sollte durch sein Verhalten nicht weiterhin Macht über mein Befinden haben und auch nicht herhalten müssen für meinen eigenen Gefühlsstau. Wenn sich Täter der Konfrontation entziehen, kann ich mich an Freunde oder Therapeuten wenden, um meine Beziehung zu ihnen zu klären, auch wenn diese dazu gar nicht bereit sind. Wenn ich mit mir halbwegs klar bin, beende ich meine Opferrolle, ohne in die Täterrolle umzusteigen. Keinen Zweifel will ich aber an unserer Pflicht lassen, keine Mühen und keinen Kampf zu scheuen, um nicht schuldbereite Täter aus einflußreichen Positionen zu verjagen.

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Das unfreiwillige Outing 

 

In Halle ist von anonymen Absendern eine Liste von Namen veröffentlicht worden, die etwa 4500 vermutliche inoffizielle Mitarbeiter der Stasi nennt. Eine Stadt kennt nun ihre Spitzel. Darf man uns darum beneiden oder nicht? Vorerst ist viel Aufregung und Diskussion um die Art und Weise des Outings — viel zu viel, das verrät schon wieder die Abwehrabsicht. Man streitet über die Formalia und vernachlässigt dabei die Inhalte und eigentlichen Themen: Verrat, Schuld, Schuldverschiebung und Bedingungen, welche Menschen leicht schuldig werden lassen. 

Die Anonymität der Liste ist zu bedauern, sie schmälert vor allem den Aussagewert. Es gibt offenbar zu Unrecht Genannte, und es fehlen wohl noch viele, die die Liste nicht nennt, auf jeden Fall gibt es aber große Unterschiede hinsichtlich der Schuld der aufgeführten Personen — eine differenzierende Beurteilung tut also Not.

Mir wäre es lieber gewesen, die Liste wäre nicht nötig geworden, weil durch Selbstoffenbarung der IMs oder durch rechtlich sauber und halbwegs gerechte Aufdeckung ein solcher Weg überflüssig geworden wäre. Dies ist aber leider nicht geschehen. So sehe ich diese Liste auch als eine dringliche Notlösung an: Es muß endlich auf den Tisch, was auf den Tisch gehört! Es ist nicht akzeptabel, wenn die Täter von gestern, die moralisch Ehrlosen unbehelligt bleiben oder sogar in neuen Ämtern und Würden ihre Gesinnung weitertragen dürfen. Es ist auch für sie selbst nicht gut, weil die Chance zur tieferen Einsicht versperrt bliebe, und es ist vor allem für die Opfer unzumutbar und für die Strukturen unseres Zusammenlebens eine gefährliche Last. Es ist zu bedauern, daß wir keine andere Möglichkeit gefunden haben, und es ist ein Skandal, daß das Einsichtsrecht in die Stasiakten so ungenügend und schleppend nur umgesetzt wird.

Wir brauchen sofort die Einsichtsmöglichkeit, damit der persönliche und differenz­ierende Prozeß der Klärung und Auseinandersetzung mit den Schuldigen endlich geführt werden kann. Die fortgesetzte Verschleierung der wahren Verhältnisse, die unaufgedeckte Konspiration sind eine wesentliche Ursache für die belastete Atmosphäre in Deutschland, für weiteres Mißtrauen und neue Verdächtigungen, für vergiftende Gerüchte und für wilde Projektionen. An die Bundesregierung und die Landesregierungen muß deshalb die Forderung gestellt werden, die Gauck-Behörde finanziell und personell dringend so auszustatten, daß wir von unserem Akteneinsichtsrecht sofort Gebrauch machen können.

Es war von Anfang an klar, ohne Aufklärung unserer dunklen Vergangenheit gibt es keinen sozialen Frieden in Deutschland. Aber die hingeworfenen Namen schaffen noch keine reinigende Klärung.

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Das können solche Listen auch nicht leisten. Damit wurde aber eine völlig neue Situation geschaffen, die auch das Stasi­unter­lagengesetz nicht vorsieht: Namen von vermutlichen IMs wurden öffentlich bekanntgemacht. Sie werden damit alle in einen Topf geworfen, bekommen ein Zeichen eingebrannt und sind umfassenden Verdächtigungen und Projektionen ausgesetzt, ohne sich angemessen erklären zu können, und selbst wenn sie dies mit ihren Opfern täten, bliebe ein weites Feld nicht klärbaren Mißtrauens offen. Natürlich ist auch der zynische Standpunkt berechtigt, das sei nun mal die gerechte Strafe für Verwerfliches Tun, ein Akt öffentlicher Achtung, wo juristische Verfahren nicht mehr greifen. Nur die großen Unterschiede der individuellen Schuld und ihre sehr verschiedenen Bedingungen lassen gegen diese Haltung deutliche Bedenken aufkommen.

Wir brauchen in Halle Gesprächsrunden und Akteneinsicht. Wir haben einen schwierigen Prozeß des Aufklärens zu bestehen. Täter bekommt man nur aus großem Leidensdruck oder bei angstverminderter, zum Verstehen bereiter Atmosphäre zum Gespräch. Wir müssen Räume schaffen, wo Anklagen und Verteidigen, Be- und Entschuldigungen nicht mehr nötig sind, sondern ein Sich-Öffnen möglich wird. Die Stasischuld ist immer ein Einstieg in tiefere Schuld, die aber durch Schuldgefühle verdeckt wird. Und wenn es gelingt, dies im Gespräch zu durchdringen, eröffnet sich eine heilsame Möglichkeit zur Katharsis des Gefühls­staus.

Ich kann den von dem unfreiwilligen Outing betroffenen Tätern nur raten, solche klärenden Gespräche mit den Opfern zu suchen. Aber auch das Aussprechen und das Klären und Bekennen von Schuld gegenüber Therapeuten oder Seelsorgern ist eine durchaus akzeptable und empfehlenswerte Chance. Hier trifft das gleiche zu wie bei den Opfern, die nicht zu Tätern werden wollen, wenn die Täter nicht zu Opfern werden wollen, daß sie klar werden mit sich selbst. Nur die ungetrübte Aufrichtigkeit vor sich selbst ist ein wirk­samer Schutz vor unberechtigten Beschuldigungen und Belastungen infolge des öffentlich preis­gegebenen Verdachtes.

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Schuld als Tragödie

 

Mit der Veröffentlichung von Namen vermutlicher IMs ist offenbar bei einigen Benannten ein Leidensdruck entstanden, der ihnen den Weg zum Therapeuten geöffnet hat.

Möglicherweise ist dies nur eine kleine Zahl von Betroffenen, deren Geschichte ich aber deshalb besonders tragisch empfinde, weil in ihnen sich mehr die Perversität der Strukturen widerspiegelt, als daß die persönliche menschliche Schwäche oder die bewußte böse Tat zum Ausdruck käme. Es paßt auf sie weder die Charakteristik des »Schwächlings« noch des »Schurken«, sondern ganz im Gegenteil sind sie meist hochangesehene, tüchtige, im Beruf sehr kompetente Persönlichkeiten, ehemals oder immer noch in leitenden Funktionen und allseits als ausgesprochen zuverlässige, treue und integre Menschen bekannt. Sie waren in der Regel auch nicht in der Partei, sie befanden sich innerlich mitunter sogar in deutlicher Distanz zum politischen System und riskierten manchmal auch äußerlich eine kleine kritische Bemerkung.

Die hervorstechendsten Merkmale sind Tüchtigkeit und Fleiß, Leistungsbereitschaft und große Fähigkeiten, weswegen sie doch, obwohl parteilos, allmählich und unvermeidbar in immer höhere Funktionen und Ämter aufgestiegen sind. Das gab es auch in der durchorganisierten Kaderschmiede DDR. Das hohe fachliche Können und die brauchbaren, politisch ungefährlichen Persön­lichkeits­eigenschaften machten das möglich, und parteilose oder Blockpartei-gesteuerte Alibimenschen mußte es natürlich geben, und bei hohem Können waren sie erst recht geeignete Objekte, um dem »demokratischen« Charakter und das »Weltniveau« des »sozialistischen Vaterlandes« demonstrieren zu können.

Jeder staatliche Leiter in der DDR konnte jederzeit von der Stasi aufgesucht und zu informellen Gesprächen »verpflichtet« werden. Das war üblich und das wußte auch jeder. Solche Gespräche brauchten keine schriftliche Verpflichtung, auch keinen Handschlag, nicht einmal eine verbale Zustimmung, allein die Obrigkeitsfurcht und Autoritätshörigkeit waren Grund genug, solche Gespräche zu tolerieren. Dies konnte durchaus auch widerwillig geschehen, vor allem aber war Furcht eine starke Antriebskraft zur Gesprächsbereitschaft. Eine Furcht, die sich in der Hauptsache aus latenter Angst speist und die wirkliche Bedrohung verdecken soll. Man fürchtete vor allem eigene berufliche Behinderungen, Aufstiegs­schwierigkeiten für die Kinder und den Verlust der kleinen Privilegien (Wohnung, Wochenend­grundstück, bevorzugte Vergabe von Autos und Reisen).

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Das Besondere dabei ist aber, daß gerade der berufliche Erfolg, für den keine Mühen noch Anstrengungen gescheut worden waren, affektiv maximal besetzt, praktisch zur wichtigsten Angelegenheit im Leben aufgestiegen war. Hier konnten sich höchst edle Haltungen: Altruismus, Helferwille, menschliches Mitgefühl und hoher Gerechtigkeitssinn entfaltet haben. Damit wurde umfassend kompensiert und all das ausgelebt für andere, was man sich zutiefst selbst gewünscht, aber nie erfüllt bekommen hatte. Wenn sich solche Menschen auf der anonymen Stasi-Liste wiederfinden, erfüllt sich doch noch ein alter Fluch, dem man ein Leben lang durch große Bemühungen entfliehen wollte: Du bist nicht wirklich angenommen und geliebt!

Ich sah solche traurigen Gestalten in tiefster Erschütterung und völligem Unverständnis vor mir sitzen, die ganze Welt stimmte nicht mehr, alle orientierende Ordnung war zusammengebrochen, die großartigen Erfolge des Lebens waren plötzlich entehrt, und sie erlebten sich einer pauschalen Verurteilung ziemlich wehrlos ausgeliefert. Ich gewann dabei selbst wieder Kontakt zu den ganz tiefen Bereichen schmerzlicher Sehnsucht und Enttäuschung und verfluchte die offenbar unausweichliche Tragödie, die mögliche Täuschung, der man im besten Glauben verfallen kann, und nicht einmal etwas davon ahnt, bis vielleicht durch eine schwere Krankheit oder ein demütigendes soziales Dilemma die Notbremse gezogen wird, vielleicht die einzige und letzte Chance vor dem Sterben, die man auch noch verfehlen kann. wenn nur medizinisch oder mit Distanzierung darauf geantwortet wird.

In den Gesprächen mit der Stasi entstand niemals das Gefühl, man hätte jemanden verraten und irgendwelchen Schaden zugefügtdaß alleine schon der Kontakt zu einer kriminellen Organisation schädigend ist, lag nicht im Gedankenhorizont und auch nicht, daß die Stasi natürlich ihren eigenen Bewertungsmaßstab hatte und man nicht in der Lage war, den entsprechenden Mißbrauch übermittelter Informationen zu verhindern — so wurden eigene Befindlichkeiten und Meinungen, die Stimmung im Arbeitsumfeld, die Sorgen und Probleme anderer Menschen mitgeteilt, auch durchaus in der Überzeugung kritischer Auseinandersetzung mit dem Machtorgan und notwendiger Information an die für unser aller Leben in der DDR so wichtige Institution.

Auch wenn einige dies heute nur als Schutzbehauptung für ärgeres Tun benutzen mögen, es gab tatsächlich dieses verzweifelte Bemühen um Einsicht bei den Oberen, daß sie Veränderungen und Entwicklungen in Gang brächten und daß ihnen Hilfen für die kleinen, ganz konkreten, alltäglichen, mitunter aber schlimmen Querelen abzutrotzen wären.

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Manch einer sah dabei, nicht zu Unrecht, in der Stasi das eigentliche Machtorgan und verfing sich unweigerlich in ihren Netzen. Wir wollen auch nicht vergessen, daß dieses politisches System sich bereits wieder als neues »1000jähriges Reich« verstand und Worte wie »ewig« und »unverbrüchlich« alltäglich verwendet wurden. Wir hatten uns alle einzurichten, ohne die geringste Hoffnung, daß dieses totalitäre System aufzulösen sei. Und für dieses eine einzige Leben, das gestaltet sein wollte, gab es natürlich Wichtigkeiten, die aus einer größeren Perspektiven zu Nichtigkeiten schrumpfen können. In einer Gefängniszelle halte ich es nicht für absurd, zu einem Sonnenstrahl zu beten, der die Gitter durchdringt, und Zwiesprache mit einer Wanze zu halten und Freund des Wärters werden zu wollen. Unsere Werte sind schon ausgesprochen relativ. So war auch der Kontakt zur Stasi eine denkbare Variante, um sich das schwierige Leben erträglicher zu machen.

Eine Einstellung und Haltung, die übrigens auch von der evangelischen Kirche und vielen westlichen Politikern vertreten wurde, um durch Gespräche und Kontakte einen »Wandel durch Annäherung« zu bewirken. Der Übergang zu den Karrieretätern ist dabei fließend, und jeder einzelne muß mit sich ins Reine kommen, der mit der Stasi schmutzige Hände geschüttelt hat. Nur wenn man jedes Wort und jede Geste und die ganz tief verborgenen Motive kennen würde, wäre vielleicht eine halbwegs gerechte Beurteilung möglich.

Spitzel, Denunziant, inoffizieller Mitarbeiter sind keine passenden Bezeichnungen für derart Betroffene. Es ist ihre Gutmütigkeit und Beflissenheit, ihre Schwäche, nicht ablehnen zu können, und ihre Überschätzung, durch Bemühen (in diesem Fall: richtig erklären, überzeugen, richtigstellen, die notwendige Meinung sagen), etwas bewirken zu können, was schamlos ausgenutzt und »abgeschöpft« wurde, so daß wertvolle Informationen für das Sicherheitsorgan herausgefiltert werden konnten. Ich sprach welche, die auch heute noch mit »tiefer Überzeugung« dafür stehen: Wie denn sonst hätte in diesem Land etwas bewegt werden können, wenn man nicht die Stasi dafür gewonnen hätte. Ist das absurd? Nein! Die Tragik aber liegt in der unheilvollen Allianz des in seiner Moral zutiefst verrotteten Sicherheitsdienstes (auch das sehen viele hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter noch heute völlig anders und qualifizieren ihre Tätigkeit als hochmoralische und tapfere Arbeit) und der neurotischen Anständigkeit des Einzelnen, die aus Not und Bedürftigkeit in ein schmutziges und dunkles Gewerbe nur allzu leicht hineintrödelt.

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 Wer es immer noch nicht wahrhaben will: Neurose ist eine tragische Gefahr! Zunächst eine sinnvolle Leistung, um sich unerträgliche Umstände erträglich zu machen, wird schließlich ihre unvermeidbare Einengung zur Behinderung von Vitalität, Kreativität, Authentizität und Ehrlichkeit. Der Schutz vor lebens­bedrohenden Gefahren wird nun zur Gefahr für das Leben und Zusammenleben. Gesellschaften also, die massenhaft Neurosen produzieren, sind höchst gefährliche Gesellschaften.

Als Therapeut stehe ich vor solchen Tätern ziemlich hilflos: Hunderttausendmal in ihrem Beruf positiv bestätigt, mit -zig Beweisen ihres erfolgreichen, mitunter sogar begnadeten Wirkens ausgerüstet, was jede tiefere Erkenntnis und Schulderfahrung nahezu unmöglich macht, wird damit die ganze Absurdität dieser Welt, die umfassende Perversion der Kultur vor einem ausgebreitet — da bleibt kein Rat mehr, da ist nur noch blanker Schmerz.

 

Die Schuld der »Schwachen«

 

Unlängst bekam ich eine Kritik zu meiner Meinung in die Hände, in der vor allem mein Vorwurf gegen uns selbst, gegen das Untertanen­syndrom bemängelt wurde und unser fehlender Widerstand doch ganz schlicht aus Angst vor den Sanktionen des Terrorregimes zu erklären sei. So unsensibel kann eigentlich nur ein Westdeutscher denken, der sich nicht mit der permanenten Frage des Mitläufertums auseinandersetzen mußte und den zwar engen Spielraum, aber die doch gewichtigen Nuancen nicht kennt, die zwischen Würde und Ehrlosigkeit entscheiden konnten, ohne Held oder Märtyrer werden zu müssen.

Gerade in totalitären Systemen kann deutlich werden, wie der Obrigkeit immer mehr Macht verliehen wird, wie es zu einem Wechselspiel zwischen oben und unten, zwischen Repression und Unterwerfungs­bereit­schaft kommt, wie sehr Abhängigkeit, innere Unfreiheit und Bedürftigkeit nach strenger Führung, Enge und Härte gieren, um das Bewußtwerden der erlittenen frühen seelischen Kränkung zu vermeiden, um die Empörung und den Schmerz zu zügeln, der unweigerlich aktiviert würde, wenn plötzlich wirkliche Freiheit ausbräche. Lebensfreude ist eben nicht so einfach zu halfen, wenn das bisherige Leben Angst und Plage war: Das Gute macht erst das Schlechte richtig bewußt.

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So ist das Bessere niemals ohne Schmerzen zu erreichen. Aber genau das, weil es wirklich weh tut, will nicht wahrgehabt werden. Es wird bekämpft und dann heißt das einfache Märchen: Schuld sind die bösen Führer, die halten ein ganzes Volk durch Terror in Schach, die Menschen aber überdauern durch kluge Anpassung und bewahren sich das Gute, und wenn die Bösewichter gestorben oder auch mal vertrieben sind, dann kann das Gute endlich wieder blühen und gedeihen. Das dachten viele nach dem Sieg der Alliierten über das faschistische Deutschland, so denken heute viele West­deutsche und wundern sich, daß die Menschen im Osten nicht dankbar aufblühen und ihre »Befreiung« feiern.

Immer wieder werden die berühmten »Nischen« erwähnt, in denen angeblich das andere Leben, das ehrlichere, aufrechtere, würde­vollere, stattgefunden haben soll. Was sich die Menschen alles für Ausreden einfallen lassen, um dem bösen Fluch zu entkommen, dem sie Tribut gezollt haben. In dieser geschlossenen Gesellschaft gab es keine Schlupfwinkel, die der Macht- und Sicherheits­apparat nicht erreicht oder unberührt gelassen hätte. Einen geschützten Raum gab es ebensowenig, wie es einem Verbrecher oder Ausflippenden möglich gewesen wäre, unterzutauchen. Auch deshalb gab es kaum eine nennenswerte schwere Kriminalität in der DDR.

Die Gaus'sche liebenswürdige Metapher von der »Nischengesellschaft« mag für ihn, den Westdeutschen, der in der DDR seine Nische gefunden hatte, zutreffen, sie verkennt aber die unweigerliche Selbstzensur, die sich die meisten Menschen auferlegt hatten, um sich das enge Leben erträglicher zu machen und um sich nicht ständig an den Ketten wund zu schlagen. 

Das war ja das Ziel der »sozialistischen Erziehung«: solange ängstigen und beeinflussen und keinen Zufluchtsort lassen, bis die Menschen von selbst das gewünschte Verhalten zeigten. Es wäre auch ein großer Irrtum zu glauben, wenigstens die Kirche sei noch ein Ort des freieren Lebens gewesen. Es wäre eben keine »Kirche im Sozialismus« gewesen, wenn das wirklich stimmte. Da gingen schon »Thron und Altar« Hand in Hand, um für Anpassung, Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Kette war nur ein wenig gelockert, der Auslauf etwas erweitert, aber an den entscheidenden Grenzen ging nichts mehr: Der Protest, die Lust, das Experiment, die Tat blieben stets im Rahmen, und wenn doch einer mal über die Stränge schlagen sollte, dann waren die Stolpes »hilfreich« zu Diensten.

Die Nische galt nur so weit, wie der Radius der Kette reichte: Man konnte saufen, schweineigeln, schachern, oder schönen Gedanken nachsinnen, auch lästern und fluchen, aber ohne Konsequenz für das reale Leben. Es war eine Spielwiese im Freiraum der Kette. Ein gewünschter Rückzug ins Private, die Rücknahme sozialer Energie für politisches Engagement und Lebens­veränderung in den kleinbürgerlichen Zeitvertreib. Die Nische als ein Ort für Modelleisenbahnfans: liebenswert, aber gesellschaftlich kastriert. Und auch da und erst recht da, war die Stasi immer dabei, und wenn sie nicht dabei war, wurde stets angenommen, sie wäre dabei. Wir waren längst soweit, daß dies keinen Unterschied mehr machte, die Stasi war längst verinner­licht.

Nein, Schuld ist nicht nur oben, sie ist auch unten, Schuld ist aktiv oder passiv, sie entsteht durch Tun oder Unterlassen, durch Befehlen oder Gehorchen, durch Bestimmen oder Zustimmen, durch Führen oder Mitlaufen. Jedem wachsen an seinem Platz Schuld­möglichkeiten zu durch die entsprechende Kompetenz und Pflicht. Wem dieses Denken fremd ist, mag sich mal in menschliche Beziehungen hineindenken, in denen einer der Partner meistens schweigt oder nur depressiv jammert oder sich rat- und hilflos gibt. Man soll nicht die Kraft unterschätzen, die im Schweigen andere reden macht, die im Jammer Trost provoziert und bei Hilflosigkeit Zuwendung aktiviert. Das ist die Macht der Schwachen! Die Menschen in der DDR wußten oder ahnten zumindest etwas davon.

Ich will nichts nivellieren oder bagatellisieren — ein Mörder bleibt ein Mörder, der seine Strafe verdient, und man kann seinem Opfer nicht die gleiche Schuld zuweisen, selbst wenn es die Tat provoziert hätte —, da bleiben schon erhebliche Unterschiede. Aber die Schuld des Mörders findet schon ihr Gegenstück, vielleicht in der verweigerten Liebe der Eltern oder in den gesellschaftlichen Verhältnissen, die soziale Unsicherheit und schweres Unrecht erzeugen. 

Wir haben keinen Mangel an Recht, wenn es um eindeutig kriminelle Schuld geht, aber wir haben ein tiefes Verständnisdefizit von den Ursachen und Zusammen­hängen, die Schuld verursachen, bedingen, verschieben und zu Unrecht anderen zuweisen. Und wir wollen meistens nicht zur Kenntnis nehmen, daß im Rückzug und Privatisieren, in den individualistisch gepflegten Nischen, im politischen Desinteresse und passiven Dulden sich erhebliche Schuld anhäufen kann, weil dadurch »den anderen« das Feld von Macht,  Einfluß und Entscheidung überlassen wird. 

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