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8.  Der Schrei nach Liebe 

 

 

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Von den inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi wissen wir bereits, daß ein wesentliches Motiv ihres Handelns in ihrer Bedürftigkeit, in ihrer Sehnsucht nach Anerkennung, Bedeutung und Wichtigkeit zu finden ist. Die Beziehung zu den Führungs­offizieren ist von vielen offenbar wie ein quasi familiär-privates Verhältnis empfunden worden. 

Dabei mögen durchaus väterlich belehrende, beratende und interessierte Züge wie auch mütterlich-fürsorgliche, nährende und beschützende Zuwendungen der begehrte Lohn für anrüchiges Tun gewesen sein. So kam wohl meistens ein Gefühl für das Beschämend-Schmachvolle gar nicht erst auf oder wurde schnell wieder weggesteckt, weil das Gespräch mit dem »Organ« so persönlich, freundschaftlich-plaudernd oder ganz offen geführt werden konnte, was eben für viele Menschen sonst kaum zu haben ist. 

Die Lieblosigkeit der Kindheit machte zu anfällig für die kleinste Geste des Interesses und der geschenkten Aufmerksamkeit. Der Verrat ist der geflüsterte Schrei nach Liebe, wie die Gewalt auf den Straßen der wütende Aufschrei wegen nicht erfahrener Liebe ist! Und was die Führungsoffiziere ihren »Babys« gaben, das schenken die lüsternen Zaungäste und johlenden Sympathisanten der Randale ihren »Monstern«. Führungs­offiziere und Spitzel gehören ebenso zusammen wie kleinbürgerliche Untertanen und Gewalttäter.

Die Hatz auf die IMs wurde wohl durch den lauten Aufschrei Wolf Biermanns eröffnet, der in seiner Preisrede zur Verleihung des Büchner-Preises der »Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung« die tiefe Kränkung und Verletzung seiner Seele so wohltuend offenbarte. Er benannte den »unbegabten Schwätzer Sascha Arschloch« als Stasi-Spitzel, ließ seine Enttäuschung über »meine lieben Ossis, ich mag sie nicht mehr, sie wurden mir vor 16 Jahren gestohlen, und sie können mir gestohlen bleiben« heraus und hielt auch mit seinem Unmut nicht zurück: »Aber das massenhafte, das breitärschige Selbstmitleid dieser wohl­genährten Untertanen in der ehemaligen DDR widert mich an. Es ging ihnen zu lange zu schlecht, und es ging ihnen dabei offenbar nicht schlecht genug ...«

Ich kann das gut hören, auch wenn es weh tut, aber leider stimmt es! Dieser ewige Kreislauf: erst Anpassung und Unterwerfung, dann schuldig mitverursachtes Desaster, dann jammerndes Selbstmitleid mit ungebrochen neuem Anpassungswillen.

Das dumpfe Erlösungsbegehren und die sich jedem geeigneten Herrn andienende Unterwerfungs­bereitschaft sind von tödlichem Übel. Ich kenne zwar die Entstehungs­geschichte dieser Widerwärtigkeit, aber dies entläßt uns nicht aus der Verantwortung für Wider­spruch und Verweigerung, für Ungehorsam und kreatives Chaos angesichts der Kriege, der Gewalt und der Zerstörung, die immer wieder durch Gehorsam, Disziplin und Ordnung verursacht werden.

Wenn ich über Wolf Biermann nachdenke, den ich leider noch nicht persönlich kennengelernt habe, dann spreche ich mehr über meine Phantasien, ich will und kann ihm nicht mit einer psychologischen Analyse gerecht werden. Dazu müßte ich ihn gut kennen, und dann würde sich eine Analyse in der Öffentlichkeit von selbst verbieten. Nein, ich will ihn nur benutzen als eine Symbol­gestalt der Öffentlichkeit, der es immerhin als Einzelner fertigbrachte, das ganze hochgesicherte, aufgerüstete und die Menschen mitunter wie Marionetten mißbrauchende DDR-System zu erschüttern und dessen Kläglichkeit und Schwäche zu entlarven.

Schon einmal, bei seiner Ausbürgerung, ging eine Welle der Erregung, des aufkeimenden Widerspruchs, der aus der Lähmung erwachenden Lebendigkeit durch unser Land — da war eine Energie aufgebrochen, und er, der Verzweifelt-Unbeugsame, hatte sie entzündet —, und jetzt wieder, längst nicht mehr so vehement, aber die Flamme der Revolution war ja auch schon lange wieder erstickt, da rührt seine hinausgeschriene Enttäuschung und Empörung erneut an den Nerv der Nation.

Biermann ist für mich deshalb ungewöhnlich, weil er ein tiefes Feeling für die Seelenlage vieler Menschen hat und die Gabe, dies auch treffend zu entäußern. Dies kann ich mir nur so erklären, daß auch er im Grunde vor allem nach Liebe schreit. Und daß er sich mit einem ganzen Staat, einem ganzen Volk wagt anzulegen, sehe ich als ein Maß für seinen Schmerz. Darin fühle ich mich ihm verwandt. Es ist auch der gleiche Schmerz, den ich auf der Therapie-Matte zum Aufschrei bringen möchte. Und ohne ein Gespür für das eigene schmerzliche Elend, könnte Biermann nicht so reden und so singen und ich auch meine Arbeit so nicht tun.

Der große Widerhall bei den Menschen, die begeisterte Zustimmung bis haßvolle Ablehnung auf Biermannsche Worte verrät das Getroffensein, den jeweils eigenen, zum Klingen gebrachten Schmerz. Klare und wahre Worte sind dazu in der Lage, sie sind also sehr wichtig und der Affekt dazu erst recht.

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Und dennoch ist dabei die Gefahr groß, daß Gefühle in den großen Affekt gepackt werden, die in Wirklichkeit Vater und Mutter, Lehrer, Arzt und Pastor meinen, die unser Leben mit Angst, Schuldgefühlen, Enge und Verlust belastet haben. Es geht um die Liebe, die wir gebraucht hätten, statt dessen wurden wir versorgt, erzogen und hergerichtet. Und unsere Spitzel, die Schweinehunde, sind daran nicht schuld! Und die blöden Ossis, die ich oft genug auch nicht leiden kann, sind unsere Brüder und Schwestern!

Unsere Empörung aber tut dennoch dringend Not, und sie entzündet sich zu Recht an den IMs oder an dem unerträglichen Untertanengeist, aber wir sind gefordert, den eigenen Resonanzboden für unsere Erregung zu kennen und zu bedenken. Ich meine damit nicht, daß wir uns allzuviel Sorge um das rechte Maß unserer Gefühle machen sollten, viel wichtiger ist es, sie zu zeigen und zu äußern. Aber es ist von Übel, daraus einen Feldzug zu machen oder eine Verfolgungsjagd oder auch nur mit beschwicht­igender Mahnung eine (gefühllose) vernünftige Zurückhaltung einzuklagen, weil dann aus Resonanzaffekten, aus dem Urgrund eigener Verletzung die falschen Täter verfolgt würden oder die angebliche Vernunft und Diplomatie nur die eigene Betroffenheit weiterhin verbergen würde. Und solche »Vernunft« führt geradewegs ins Unheil, sie führt nach Rostock oder zu noch finstereren Exzessen. Wer sich gegen den Aufschrei Biermanns verwahrt, der will seine eigene Betroffenheit nicht wahr­haben, und ein solcher Mensch ist hochgradig gefährdet, und als potentieller Faschist, Stalinist oder Wohlstandsbürger für uns alle gefährlich.

Der Verrat, gegen den die Empörung und Entrüstung geschleudert wird, der Verrat, den die Spitzel als Partner, Freund und Kollege verübt haben, trifft eine Wunde in uns, die uns schon längst zugefügt war und die wir nur mühsam zugekleistert haben mit allerlei Eitelkeit und Firlefanz, und auch mit so manch echter stolzer Tat. Plötzlich ist sie wieder aufgerissen und blutet und tut ganz einfach nur weh. 

Ich kann den gesammelten Aufschrei aus Millionen Mündern so zusammenfassen: Vater und Mutter, euer Verrat wiegt schwer, als ihr nicht bei mir ward, als ich allein war und Angst hatte, als ihr meine Wünsche nicht erfüllen wolltet, weil ihr zu sehr mit euren eigenen Bedürfnissen beschäftigt ward, als ihr gar nicht zuhören und verstehen wolltet, weil ihr genug Sorgen hattet, als ihr mich mit meinen Fragen und Problemen allein ließet, weil so wichtige Sachen im Fernsehen gesendet wurden, als ihr mein Weinen und Schreien nicht aushalten wolltet und als euch wichtiger war, was die Nachbarn denken würden, als ihr mich Kindergärtnerinnen und Lehrern ausgeliefert habt, die mich ängstigten, einengten, bedrohten und auf eine verlogene Weltanschauung einschwörten — wo ward ihr, warum habt ihr nicht gestritten mit den Lehrern? Und als ihr mich zu den Ärzten gebracht habt und sagtet, es würde nicht weh tun und ich sollte tapfer sein, aber es tat sehr weh, und ich hatte nur Kummer, der mit Tabletten und Spritzen und Trennung von euch nicht kuriert werden konnte. Und warum habt ihr meine sexuelle Neugier bestraft und mir nicht gezeigt und vorgelebt, wie wichtig sexuelle Erfüllung im Leben ist, und später habt ihr uns zur Ehre des sozialistischen Vaterlandes um Medaillen rennen lassen, euch war es egal, wie wir mit Hormonen vollgestopft wurden, nur um den Klassenfeind zu schlagen, aber das hat euch gar nicht sonderlich interessiert, ihr brauchtet nur eure Ruhe und das Gefühl, daß wir zu »ordentlichen und tüchtigen Menschen« erzogen werden. Und ihr habt uns stillschweigend auf kriminelle Befehle gehorchen lassen, oder ist irgendwann mal eine Mutter hingegangen und hätte ihren Sohn von der Grenze nach Hause geprügelt und den Offizier verflucht?

Ja, ja, ich weiß, das war alles viel zu gefährlich und hätte schwere Strafe eingebracht. Ist Liebe stärker als Vernunft? Nein, sicher nicht — die Liebe scheitert bereits an der Brustentzündung, die leider das Stillen unmöglich machte oder an der notwendigen Arbeit (für den Trabi), so daß die Kinderkrippe notwendig war, oder am Nachttopf, der beweisen sollte, was für eine tüchtige Mutti ich doch habe, oder ... oder ... Ja, ich weiß, ihr habt alles nur aus Liebe getan, und uns sollte es mal besser gehen als euch, und ich war häufig ganz verwirrt, wenn ich eure Liebe in mir nicht wiederfand, das muß wohl an mir gelegen haben, ich bin schuld, verzeiht mir! — Und überhaupt: Ist die Welt nicht schlecht? So viele böse Spitzel!

Wer das Lieblose und Böse nicht zur Kenntnis nehmen will, das ihm angetan wurde, der muß Spitzel jagen oder Gewalt ausüben oder die Welt (die »Mutter Erde«) zerstören. Oder er zerstört sich selbst, um endlich zu vollenden, was seine ersten Lebens­erfahrungen ihm vermittelt haben. Der Aufstand gegen die autoritären Strukturen, die Verurteilung der Unterdrücker und der Vorwurf gegenüber mangelnder Liebe sind nicht nur berechtigt, sondern geradezu erforderliche Schutzmaßnahmen, um nicht Schuldgefühlen zum Opfer zu fallen, die den notwendigen Verrat an den Mächtigen zur stellvertretenden Verfolgung der IMs, der Verräter, umlenken.

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