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1. Einführung 

 

 

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Verschiedene Erfahrungen meines Lebens haben mich in den letzten zehn Jahren zu einem zentralen Thema geführt, das mir Probleme meines eigenen Lebens, notwendig gewordene Veränderungen psycho­therapeut­ischer Praxis und wichtige Ursachen und Zusammen­hänge sozialer Konflikte und gesell­schaftlicher Pathologie unversehens verständlich gemacht hat: Es sind dies die Störungen der Mütter­lichkeit in unserer Kultur, in der ich wesentliche psychosoziale Wurzeln für individuelle, familiäre und gesell­schaftliche Konflikte erkenne.

Ich möchte deshalb mit diesem Buch darauf aufmerksam machen, wie sehr gute mütterliche Werte in unserer Gesellschaft fehlen und eine falsche und verlogene Mütterlichkeit dominiert. In diesem Zusammen­hang will ich die wesentlichen mütterlichen Eigenschaften und Fähigkeiten — «gebären», «nähren», «gewähren», «beschütz­en» — sowohl in ihrem individuellen Wert für das Kind als auch in ihrer symbol­ischen Bedeutung für das soziale Zusammenleben hervorheben.

Dabei stehen die Bedürfnisse des Kindes im Mittelpunkt meiner Perspektive. Ich will deutlich machen, was ein Kind für seine psychosoziale Entwicklung braucht und welche schwerwiegenden Folgen Beziehungsdefizite, mangelhafte Befriedigung und seelische Verletzungen in der individuellen Frühgeschichte für das ganze Leben haben können. Und wenn viele Kinder davon betroffen sind, weil geltende Erziehungsstile, gesell­schaftliche Verhältnisse und kulturelle Normen «frühe Störungen» zum Massenproblem machen, dann lassen sich auch bedeutende Zusammenhänge zwischen individueller Lebensgeschichte und gesell­schaft­licher Fehl­entwicklung zeigen.

Wesentliche Erkenntnisse verdanke ich dabei meinen Patienten, die unter vertiefenden therapeutischen Angeboten bereit sind, sich Erfahrungen aus ihrer frühesten Lebensgeschichte zu stellen.* Das wird von ihnen sehr häufig als lebensbedrohlich erlebt und soll deshalb in aller Regel vermieden werden.

* Die zitierten Fallberichte beruhen auf authentischen Erfahrungen konkreter Personen. Zum Schutz der Persönlichkeit sind die Identi­fikations­merkmale (Name, Alter, Beruf, Ereignisse) verändert. Mitunter sind Daten und Erlebnisse verschiedener Personen in einem Fallbericht zusammen­gefasst.

 

Wenn ein Kind nicht wirklich gewollt war, kaum liebende Zuwendung erfahren hat und wesentliche Bedürfnisse nicht befriedigt worden sind, dann hat es sehr traumatische Lebenserfahrungen durchgemacht, die nachhaltig negative Folgen für seine Entwicklung und die Entfaltung seiner Persönlichkeit haben.

Diese Erkenntnis wird dadurch erschwert, daß sich psychosoziale Traumatisierungen sehr oft nicht auf bedrückende Einzelereignisse zurückführen lassen, sondern Eltern-Kind-Verhältnisse betreffen, in denen seelische Verletzungen und soziale Mangelerfahrungen nach außen nicht unbedingt erkennbar werden müssen, ja sich auch dem Verständnis der Eltern durchaus entziehen können. 

Genau darin liegt die verhängnisvolle Tragik: Eltern können redlich bemüht sein, «ihr Bestes zu tun», und handeln — da sie es nicht anders wissen — im mainstream des Zeitgeistes, denn sie entwickeln kein Gefühl dafür, wie sie die Beziehung zu ihren Kindern vernachlässigen, sie emotional unterdrücken, ihre Reaktionen nicht mehr verstehen können, ihnen aber mit ihren Erwartungen Gewalt antun.

Ich habe Tausende von geradezu ungeheuerlichen Lebensgeschichten gehört und die davon betroffenen Menschen in ihrer herzzerreißenden frühen Not und Bedürftigkeit erleben müssen und begleiten dürfen. 

Dabei stellt sich immer wieder die Frage nach der Schuld der Eltern. 

Ihre Verantwortung steht zwar prinzipiell außer Zweifel, ihre individuellen Fähigkeiten zu guter Elternschaft können aber durch die eigenen unbewußten Haltungen und Einstellungen ebenso eingeschränkt sein wie die sozialen Verhältnisse, die ihnen keinen ausreichenden Raum für ihre so wichtigen elterlichen Funktionen lassen. In der Therapie führen Wut, Haß, Enttäuschung, Schmerz und Trauer über elterliches Versagen auf den Weg der Heilung. Aber diese Auseinandersetzung betrifft die «inneren Eltern», Erfahrungen mit den Eltern also, die zu bedeutenden seelischen Inhalten geworden sind und das Leben des inzwischen erwachsenen Menschen erheblich beeinträchtigen. Therapie zielt nicht auf die Auseinandersetzung mit den realen Eltern, sondern auf die elterlichen Repräsentanzen in der Seele mit dem Ziel, mit den heutigen Eltern wieder normal und relativ unbefangen umgehen zu können.

Für die therapeutische Praxis war es wichtig, ein Verständnis und Behandlungskonzepte zu entwickeln, durch die ein nonverbaler Zugang zu unbewußten seelischen Bereichen möglich wird, so daß die präverbale Entwicklungszeit des Menschen Chancen hat, wiederbelebt zu werden und zum Ausdruck kommen zu können. Dafür mußten klassische psychoanalytische Positionen verlassen und manche ihrer Theoreme aufgegeben werden. So eröffnet der Körper einen wesentlichen Weg zum präverbalen Unbewußten, aber auch Imaginationen, Bilder und Musik, die wir zu einer multimodalen tiefenpsychologischen Therapiepraxis entwickelt haben. Auf der psychoanalytischen Couch, in einem berührungsfreien Therapeut-Patient-Verhältnis und ohne Entwicklung tiefer Gefühlsprozesse ist diese Arbeit nicht möglich.

Auch wesentliche psychoanalytische Theorien, wie die Treibtheorie und der Ödipuskomplex, können im Lichte der Säuglings- und Kleinkindforschung der letzten 20 Jahre nicht mehr aufrechterhalten werden. 

Die Triebtheorie hat im zeitgenössischen sozialen Kontext und in den historisch tradierten Mustern familiärer Hierarchie vor allem dem Kind Verantwortung für die Zähmung seiner sexuellen und aggressiven Strebungen zugewiesen, aber den Einfluß und die Verantwortung der Eltern an psychosozialen Fehlentwicklungen vernachlässigt und den reaktiven Charakter von Aggressivität verleugnet.

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In der Ödipus-Sage wird die Schuld der Eltern dargestellt, die ihr Kind dem Tode aussetzen. Dieser Mythos ist bereits von der Aussage her nicht geeignet, dem Kind eine normale entwicklungs­psycho­logische Tendenz sexuellen Interesses am gegengeschlechtlichen und Rivalität mit dem gleich­geschlechtlichen Elternteil zu unterstellen.

Alle unsere Erfahrungen in der Therapie der «Frühstörungen» weisen darauf hin, daß sexualisierte Verhältnisse mit Eltern und eifersüchtige Kämpfe mit ihnen immer Folge von Defiziten und Verletzungen basaler Lebensbedürfnisse durch die Eltern sind. Wenn auch das hier vorgelegte Erkenntnismaterial von Psychotherapie-Patienten stammt, so darf man nicht davon ausgehen, daß es sich nur um Erfahrungen einer Minderheit handelt. Ganz im Gegenteil: Vielmehr ist anzunehmen, daß auch von Menschen, die sich keiner Therapie unterziehen, vergleichbare frühe Störungen im Sozialverhalten ausagiert werden und auf diese Weise pathologische Prägungen innerhalb der Gesellschaft (Nationalsozialismus, real existierender Sozialismus, Links- und Rechts­extremismus, Terrorismus, Fundamentalismus, Konsumismus) zustande kommen. Ich bin deshalb bemüht, Verhaltens­weisen zu beschreiben, deren «Normalität» vor allem in ihrer Durchschnittlichkeit und allgemeinen Verbreitung besteht, die aber dennoch höchst abnorm sind und destruktive Folgen haben.

Mütterlichkeit im hier gemeinten Sinne zielt nicht allein auf die Aufgaben und Funktionen von Müttern, sondern auf mütterliche Werte und Normen in der Gesellschaft. Natürlich können auch Männer «mütterlich» sein, und sie sollten diese Fähigkeiten auch leben können (wie Frauen auch «Väterlichkeit»), aber vor allem geht es um mütterliche Formen in der Politik, in der Wirtschaft und in der Kultur.

Dieses Buch plädiert für mehr Mütterlichkeit, es will aufklären und informieren, will die gefährlichen Folgen von Mütterlich­keits­störungen zeigen und Wege der Hilfe und Veränderung weisen. Es geht mir nicht um Schuld­zuweisungen, weil wir alle nicht nur Opfer, sondern auch als Täter Betroffene sind, aber wir müssen unsere Verantwortung übernehmen für die eigenen Mütter­lichkeits­störungen und ihre sozialen Auswirkungen.

In «Lilith» (Brandwein-Stürmer 2000; Hurwitz 1998; Koltur 1994; Pielow 1998; Zingsem 1999) habe ich einen in der christlichen Welt tabuisierten Mythos gefunden, der die weitverbreiteten Störungen der Mütterlichkeit auch aus ihrem kultur­historischen Hintergrund erklären kann und verstehen läßt. Die psychosozialen Folgen der verleugneten «Lilith» für den einzelnen und die Gesellschaft beschreibe ich im Lilith-Komplex.

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