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3.  Die Mutter als Lilith

 

 

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1) Wie kamen Sie auf die Lilith? Warum haben Sie gerade diese Figur ausgegraben? Man hätte in der Folge vom Ödipus-Komplex auch von der liebeswütigen - Kinder mordenden - Medea ausgehen können, um auf altgriechischen Spuren den Faden weiter zu spinnen.

 

Das verdanke ich einem Zufall. Ich erzähle Ihnen gerne die ganze Geschichte. 

Ich werde von Feministinnen oft falsch verstanden und angefeindet; sie haben  <Lilith> bereits für den Emanzipationskampf besetzt. Ich habe lange nicht verstanden, weshalb ich kritisiert werde, bis deutlich wurde, dass vor allem mein Bemühen, eine gute Mütterlichkeit in die Diskussion zu bringen und Mütter­lichkeitsstörungen als ein wesentliches Problem unserer Gesellschaft anzuprangern, nicht zur Geltung kommen soll. Die Feministinnen führen ihren berechtigten Kampf um Frauenrechte nach meiner Einschätzung auf Kosten der Mütterlichkeit, was ich für verhängnisvoll für Frauen, Kinder und Familien halte.

Der Zufall war also folgender: 

Ein befreundeter Kollege drückte mir vor ungefähr zehn Jahren einen Zeitungsartikel in die Hand und sagte zu mir: "Lies mal, das wird dich interessieren." Es war ein Artikel über die mythologische Gestalt der Lilith. Ich hatte bis dahin noch nichts von Lilith gehört, worüber ich mich wunderte, weil ich relativ belesen bin. Noch merkwürdiger empfand ich meine Unkenntnis, als ich in diesem Artikel las, dass Lilith zur jüdisch-christlichen Überlieferung zählt und es eine Schöpfungsgeschichte gibt, die als erste Menschen Adam und Lilith nennt, die durch einen bemerkenswerten Schöpfungsakt entstanden sind, nämlich von Gott aus gleicher Erde geschaffen. 

Von Anfang an also werden Mann und Frau als gleichwertige Menschen dargestellt. Ich fragte Kollegen, auch Theologen, nach Lilith und musste erstaunt feststellen, dass dieser Mythos den meisten unbekannt ist. Wird Lilith verleugnet und tabuisiert? Was bedeutet das? Ich habe weiter gelesen und kam zu der Meinung, dass Lilith für eine Weiblichkeit steht, die tatsächlich in unserer Gesellschaft tabuisiert und verpönt ist: die Tatsache, dass Mann und Frau selbstverständlich gleichwertig sind, dass die Frau sexuell aktiv und selbstbestimmt ist und auch kinderfeindliche Aspekte in sich trägt. Diese drei wesentlichen Eigenschaften kann man der Figur der Lilith zuschreiben. 

Die Gleichrangigkeit von Mann und Frau ergibt sich aus dem Schöpfungsakt. Der Mythos erzählt dann, dass Lilith im Sexualakt auch aktiv sein wollte. Adam und Lilith gerieten darüber in Machtkämpfe — auch ein interessanter Gesichtspunkt, denn es fehlt in dieser Schöpfungsgeschichte die Mutter-Göttin, deren Liebe narzisstische Kämpfe überflüssig machen würde, und die Liebe der Mutter-Göttin kann natürlich ein patriarchaler Gott nicht leisten. Lilith flieht aus dem Paradies, da eine gute partnerschaftliche Verständigung mit Adam nicht gelingt. Ihre Flucht wird von Gott bestraft, sie wird zur Dämonin, die täglich ihre eigenen "Kinder" tötet — für die Lilith-Expertin Vera Zingsem ein symbolischer Hinweis, dass die geistige Aktivität und Kreativität von Frauen unterdrückt werden soll. Aber Lilith raubt und tötet auch andere Kinder.

Für meine Erfahrungen ist Lilith wegen der Dämonisierung als kinderraubende und kindertötende Frau so wichtig. Denn ich hatte als Psychotherapeut längst zur Kenntnis nehmen müssen, dass praktisch jede Mutter auch kinderablehnende Einstellungen und Verhaltensweisen kennt, über diese aber kaum zu sprechen wagt, um nicht als "Rabenmutter" beschimpft zu werden.

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Aber die Realität sieht schon so aus, dass jede Mutter immer auch egoistische Frau bleibt, meistens auch Partnerin ist und sein möchte und berufliche Interessen und Ansprüche hat. Zudem sind die Bedürfnisse von Kindern so umfassend, dass beinahe jede Mutter mit der undankbaren Aufgabe überfordert ist, Begrenzung zu vermitteln und erfahrbar zu machen. Nur werden leider die Konflikte von Müttern und ihre Überforderung wenig thematisiert oder entsprechendes Verständnis dafür aufgebracht und Abhilfe ermöglicht. 

Die Frage, wie Mütter ihre so wichtige Aufgabe — Kinder zu gebären, zu stillen und gut zu versorgen — erfüllen können, geht im Streit um die Emanzipation unter oder wird mit einem verlogenen, idealisierten Mutterbild abgewehrt. So hört man Frauen darüber sprechen, dass sie natürlich die Doppelrolle mit Kindern und Beruf bestens meistern können; wiederum andere heroisieren ihre Mutterrolle — beide Positionen entsprechen meistens nicht der Realität und tieferen Wahrheit und führen zu Stress und Befindlichkeits­störungen, die dann häufig am Partner abreagiert oder gegen die Kinder gerichtet werden.

In meiner Sprechstunde erinnern sich Menschen häufig daran, dass sie sich als Kind schuldig am schlechten Befinden, an den Sorgen und Problemen ihrer Mütter empfunden haben — was eine tragische Verkehrung natürlicher Verhältnisse ist, wenn Kinder sich verantwortlich für ihre Eltern fühlen, statt die Fürsorge ihrer Eltern als selbstverständlich erfahren zu dürfen. Man kann unvermeidbare Begrenzungen auch als eigene Schwierigkeit als Mutter oder Vater deutlich machen, ohne die Kinder offen oder versteckt schuldig zu sprechen.

Die Tatsache, dass wir in unserer Kultur das Mutterbild an Eva und Maria ausrichten — also an einer dem Manne untergeordneten Frau und einer asexuell-heiligen Mutter — und damit die Lilith sowohl aus dem kollektiven Gedächtnis als auch aus dem realen Lebensvollzug gestrichen haben — hat zu einem völlig falschen Mutterideal geführt. 

Wie man wirklich gut Mutter sein kann, das wird weder vermittelt, noch sozial ausreichend unterstützt. Mit dem Lilith-Komplex will ich die Verleugnung der Störungen und Behinderungen an guter Mütterlichkeit in unserer Kultur zur Diskussion bringen.

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Ja, ein ungerechtes Frauen- und ein verlogenes Mutterbild. Die Gleichrangigkeit der Geschlechter ist in der christlichen Kultur immer noch nicht selbst­verständlich — eher noch wird eine völlig absurde Gleichartigkeit kämpferisch behauptet. Sexualität bleibt bei aller äußeren Vermarktung in ihrer wirklichen Bedeutung als wesentliche gesunderhaltende Lust- und Entspannungsquelle ungelehrt und die natürliche Begrenzung jeder Mütterlichkeit bleibt tabuisiert. Damit wird eine zentrale Tatsache des Lebens: die unvermeidbaren Grenzen und der Tod geleugnet und mit einer irrwitzigen Wachstums-Utopie manisch abgewehrt. 

 

Ja, in den Therapien ergeben sich immer wieder Themen und Erfahrungen, die unabhängig von den sehr individuellen Lebensproblemen verallgemeinert werden können. Die frühen Mütterlichkeitsstörungen, das Versagen der Väter, und wie die damit verbundenen frühen Prägungen später in den sozialen Bindungen und der Gesellschafts­entwicklung sich widerspiegeln, wenn eine Mehrheit der Menschen von vergleichbaren Einflüssen in ihrer Entwicklung betroffen sind. 

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Auffällig bleibt dabei, dass die Bedeutung der frühen Kindheit immer noch umstritten bleibt, obwohl inzwischen nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch die Säuglings- und Kleinkindforschung und die Neurobiologie die empirischen Befunde längst gesichert hat. Die Mütterlichkeitsstörungen bleiben weitgehend tabuisiert. 

Und dass es einen Zusammenhang zwischen individueller und gesellschaftlicher Entwicklung geben könnte, wird fast unisono als unstatthafte Psychologisierung abgetan.  

Ich fühle mich nahezu herausgefordert, meine Erfahrungen als Psychotherapeut, dann, wenn sie Gesellschaftsrelevanz erreichen, aus dem Intimbereich einer therapeutischen Beziehung — anonymisiert und verallgemeinert natürlich — zur öffentlichen Diskussion zu bringen. Die psychosoziale Dimension gesellschaft­licher Fehlentwicklung wird immer noch vernachlässigt und ist doch zum Verständnis totalitärer, radikaler, fundamentalistischer Tendenzen unerlässlich. <Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient>.

Frühstörungen in der Entwicklung von Menschen sind die wichtigste unbewusste Quelle für Fehlentwicklungen, die später Eingang in politisches Handeln findet und so weitergetragen werden. Die Politik wird eben auch nur von Menschen gemacht, deren unbewusste Motive für ihre Positionen und Entscheidungen streng hinter den vordergründigen Verlautbarungen verborgen bleiben. Vermutlich könnte kein Politiker sein Amt noch versehen, wenn er sich bewusst machen würde, wovon er in der Tiefe seiner Seele wirklich beeinflusst wird. 

Politik und Macht sind sehr starke Abwehrfunktionen. Indem Machbares, Notwendiges, Dringendes entschieden werden muss und gar keine Zeit bleibt zu zögern, Unsicherheiten und Ratlosigkeit zu bekennen. Damit werden dann eben auch vorhandene, ganz individuelle Zweifel, Bedenken und Verletzungen gut verdeckt. Und die Wähler wählen die Politiker, die am besten die tiefere Wahrheit verbergen und überdecken können — auch wenn es nur noch Phrasen sind —, um in der eigenen Abwehr nicht in Frage gestellt zu werden.

In der so intensiv verleugneten Lilith habe ich eine mythologische Figur gefunden, mit der die tabuisierten Mütterlichkeitsstörungen eine Erklärung finden: Gerade die Verleugnung der Kinderfeindlichkeit und ein verlogenes Mutterideal tragen entscheidend zum Drama vieler Kinder bei.

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Da regt sich vielfacher Widerspruch. Zunächst zu den beiden Aspekten der Weiblichkeit, die sie mit dem heutigen Frauenbild gut vereinbar halten: 

Das sieht nur so aus! Die Frauenbewegung kämpft um Gleichberechtigung; leider besonders auf Kosten der Mütterlichkeit und nicht selten in der Nachahmung schlechter Männlichkeit. Es geht aber viel mehr um Gleichwertigkeit bei wesentlicher biologischer, sozialer und psychischer Verschiedenheit. Es wird schon manchmal grotesk, wenn die Frauenemanzipation die Andersartigkeit von Mann und Frau zu leugnen versucht, statt gerade durch die Verschiedenheit der Geschlechter in Kontakt zu kommen und zu Verbundenheit und Ganzheit zu finden.

Der zweite Punkt: die sexuelle Aktivität der Frau. Neben der plakativen Freizügigkeit und den vielfältigen sexuellen Informationsmöglichkeiten bleiben viele Themen und Erfahrungen tabuisiert. Vor allem wie man zur sexuellen Lust und Entspannung gelangt, welche sexuellen Möglichkeiten und Wünsche, aber auch Grenzen individuell vorhanden sind, wie man Sexualität in der Beziehung kommuniziert, abstimmt und praktisch lebt, wie wichtig Masturbation ist und welche großartigen Dienste und Leistungen die Prostituierten vollbringen.

Nun zur Kinderfeindlichkeit: 

Sie haben Recht, dass das keine Frau gerne zugibt und das Gegenteil viel lieber behauptet und sich dazu zwingen will. Wenn es aber eine Vertrauens­beziehung gibt und man sich wirklich ehrlich mitteilen kann, geben die meisten Frauen auch kinderablehnende Affekte und kinderfeindliche Impulse bekannt. 

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Das gesellschaftliche Tabu — der Lilith-Komplex — verhindert aber dieses Bekenntnis aus Angst, sofort verurteilt zu werden. Eine solche Offenheit scheint für eine Mehrheit sehr bedrohlich zu sein, weil sie selbst Betroffene sind und deshalb jede mögliche Berührung dieses Themas meiden und unterdrücken müssen. Meine Arbeit hat mich aber gelehrt, dass kinderfeindliche Aspekte normal sind.

 

Diese Normalität ergibt sich aus der Tatsache, dass praktisch jedes Kind seine Mutter überfordert: Das Kind wird in seinen Bedürfnissen anfangs vom Lustprinzip gesteuert, das heißt, es will Befriedigung sofort und vollständig. Am besten, die Mutter ist ständig und ausschließlich für das Kind da, also praktisch 24 Stunden am Tag, und dabei soll sie noch einfühlsam sein und das Kind zufrieden stellen. Das ist irreal und jede Mutter muss sich dieses Anspruchs erwehren und Begrenzungen setzen. 

Das wiederum ist an sich schon nicht leicht und manche Mütter können das gar nicht oder nur halbherzig aus der eigenen Unsicherheit heraus. Häufig haben sie sogar Schuldgefühle, dass sie eben nicht das Beste für ihr Kind tun (können), und wollen das dann wieder mit falscher Nachgiebigkeit wettmachen, — was Kinder schnell herausfinden und dann natürlich ausnutzen und so zu "Quälgeistern" werden. Wer nicht begrenzen kann, erzieht sich "Monster", die später gar nicht so selten in Süchtigkeit abrutschen. Zur Begrenzung gehört die Akzeptanz von Gefühlen. Ein gesundes Kind würde natürlich aufschreien, protestieren und weinen, wenn es begrenzt wird.

Mit dem Gefühlsausdruck ihres Kindes sind viele Frauen überfordert, sie bekommen ein schlechtes Gewissen, werden evtl. an die eigenen unterdrückten Gefühle erinnert und fühlen sich natürlich durch den Gefühlsausbruch — je nach Situation — vorgeführt, blamiert, auch in Frage gestellt — man denke nur an einen Wutausbruch des Kindes im Supermarkt.

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Aber der Gefühlsausdruck bei Begrenzung ist die wichtigste Reaktion zur Verarbeitung von Unlust und Stress. Er sollte unbedingt zugelassen, ja sogar gelehrt werden. Jeder echte Gefühlsausbruch ist in wenigen Minuten abgeführt, nur der erpresserische Gefühlsausdruck, das Wissen um die Schwäche der Mutter mit allen Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten macht die Entladung von Gefühlen zu einem nachdrücklichen Terrorakt. Das Lehren von Begrenzung gehört zu den wichtigsten Übungen für das Leben, letztlich beginnt damit schon die Akzeptanz des Todes.

Jede Mutter ist aber noch aus ganz persönlichen Gründen mit einem Kind immer überfordert. Sie bleibt natürlich auch ein egoistischer Mensch. Auch wenn sie jetzt vor allem geben muss, bleibt sie selbst bedürftig und muss auch an sich denken, an eigene Bedürfnisse und Interessen. Und sie ist ja in aller Regel Partnerin, Kollegin und Freundin. Sie hat weiterhin natürlich ein Sexualleben und bleibt meistens auch in ihrem Berufsleben, ihrer sozialen Stellung selbstverständlich engagiert. Das alles wird durch ein Kind eingeschränkt, auch wenn es eine "Mutterschaftskonstellation" gibt, mit der anfangs das Kind ganz automatisch in den Mittelpunkt des mütterlichen Lebens rückt. 

Aus all diesen Umständen wird leicht verständlich, dass Kinder eben auch mal zu viel wollen, nerven und stören. Das ist normal! Unnormal und verlogen ist, wer das übersieht oder leugnet. Es ist die natürliche Realität einer jeden Frau, dass sie in ihrer Mütterlichkeit begrenzt ist. Im Lilith-Komplex wird das geleugnet, was die Mutter zur Lügnerin werden lässt, sie selbst unter Druck setzt und das Kind durch widersprüchliche Botschaften verwirrt und Entwicklungsstörungen provoziert. Immer wieder erfahren wir von den Konflikten, denen ein Kind ausgeliefert war, wenn "Liebe" von der Mutter behauptet, diese aber nicht spürbar wurde. Es gibt Kinder, um die sich die Eltern reichlich bemühen und doch kommt die Zuwendung nicht von Herzen. Oft stimmt die materielle Versorgung, nicht aber die emotionale. Solche Widersprüche haben verheerende Wirkungen auf das Kind, weil es nicht mehr weiß, woran es wirklich ist.

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Ja, es handelt sich meist um Frauen, die glauben, dass sie gerne für andere da sind, gerne Mutter sind, aber sie tun dies in der Tiefe mehr für sich als für das Kind. Sie sind selbst bedürftig gebliebene Frauen, die das Gefühl brauchen, durch besondere Leistungen endlich doch wertgeschätzt zu werden. Und als Mutter kann man immer besonderen Wert einklagen, dem selten widersprochen wird, weil sehr viele Menschen mit falscher Dankbarkeit ihre Mutterdefizite verleugnen. Es ist der früheste Missbrauch, den Kinder erleiden, wenn die Mutter das Kind für sich braucht, um sich Bedeutung zu geben, Ansehen zu erheischen und sich an eine Aufgabe zu binden. In ihr selbst ist wenig Struktur, Eigenwille und Sinn, sie muss sich dies alles von außen holen, da bietet sich ein Kind nachgerade an. 

Kinder werden auf diese Weise nahezu abgerichtet, auf die Mutter zu achten, darauf, was diese braucht und will, um sie zufrieden zu machen. Das sind die späteren Helfer, die Mutterbediener und Frauenversteher oder Männerversorgerinnen, die selber nicht mehr gut wissen, was sie wirklich wollen oder brauchen und sich für andere erschöpfen und, wenn sie Glück haben, durch psychosomatische Erkrankungen gebremst werden. Nur dürfen sie dann nicht nur medizinisch behandelt werden, dann wäre die Chance vertan, die Botschaft und Bedeutung der Erkrankung zu verstehen und zu lernen, sich allmählich zu verändern.

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Immer wenn ich Vorträge oder Seminare zum Thema Mütterlichkeit halte, dann besteht meine Zuhörer­schaft fast ausschließlich aus Frauen — und ich habe wirklich die erstaunliche Erfahrung gemacht, dass die meisten Frauen sehr dankbar sind und mir das auch ausdrücklich mitteilen: Endlich hat es mal jemand ausgesprochen, dass es nicht normal ist, eine hundertprozentige Mutter sein zu wollen, dass es vielmehr natürlich ist, dass man seine Begrenzungen hat und dass es darum geht, mit diesen Begrenzungen umgehen zu lernen.

Natürlich gibt es auch Frauen, die aufschreien: "An allem sollen wohl die Mütter schuld sein!" Dann antworte ich: "An allem nicht, aber für Schwangerschaft, Geburt, Stillzeit und die Beziehung zu ihrem Kind sind sie schon verantwortlich." Und die Bedeutung der ersten Erfahrungen des Kindes für das ganze Leben ist gesichert, sodass Mütter alle Unterstützung brauchen, um ihre Aufgabe gut erfüllen zu können.

Immer gibt es auch die Stimmen, die sich selbst beruhigen wollen: "Ich habe meine Kinder schon sehr früh zur Kinderkrippe gebracht — und hat es ihnen geschadet? Sie sind alle wohlerzogene und erfolgreiche Menschen geworden."

Grotesker Weise klagen sich manchmal auch Männer an, dass sie doch auch mütterliche Funktionen übernehmen und sich in die Kinderbetreuung mit ihren Frauen teilen können. Gegen diese Unterstützung ist gar nichts einzuwenden, doch die Kritik dieser Männer macht ihren Neid auf die mütterliche Bedeutung deutlich oder sie empfinden in der Tiefe Eifersucht auf das Kind, das jetzt alle Zuwendung ihrer Partnerin bekommt. Beim genaueren Nachfragen kann auch deutlich werden, dass diese Männer an einem "Mutterbediener-Syndrom" leiden und unter der Einbildung, für das Kind da sein zu wollen, regulieren sie nur ihre neurotische Bring-Schuld gegenüber der Mutter.

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All diese Themen sind sehr sensibel, sie bergen viele Missverständnisse. Erst der militante oder aggressive Ton macht auf Abwehrvorgänge gegenüber eigener Not und Problematik aufmerksam, in Wirklichkeit geht es gar nicht um die gute Elternschaft oder um das Kind. Es wird fast immer nur aus der Sicht der Erwachsenen gestritten, die Position des Kindes wird fast nie berücksichtigt, für das jede zu frühe Trennung von der Mutter — auch wenn der Vater, die Oma, die Krippenerzieherin noch so bemüht sind — Stress bedeutet und traumatisierend wirken kann.

In all den Diskussionen wird ein wesentlicher Unterschied im Verhalten der Mutter deutlich: Es gibt Mütter, die ihre eigene Begrenzung dem Kind anlasten und ihm signalisieren: "Du bist mir zu viel! Du willst zu viel! Du bist unmöglich! Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin? Sei ruhig, stör mich nicht, lass mich zufrieden!" Auf diese Weise kann die ganze Natürlichkeit, Spontaneität, Lebendigkeit und Emotionalität eines Kindes belastet und abgewertet werden, so dass das Kind zunehmend Schuldgefühle für ganz normale Ansprüche und Reaktionen entwickelt. 

Die Mutter kann auch ganz anders mit der gleichen Situation umgehen: "Es tut mir leid, ich bin jetzt müde oder erschöpft, ich hab jetzt keine Zeit für dich, ich muss jetzt erst dies oder jenes erledigen. Nachher bin ich für dich da." Das Kind bleibt im Recht, es wird nicht beschuldigt, die Mutter spricht von ihrem Problem und zeigt ihre Begrenzung. So lernt das Kind allmählich mit der Lebensrealität umzugehen. Es darf dann natürlich auch traurig sein oder wütend. Die gute Mutter wird das aus der Sicht des Kindes verstehen und akzeptieren und doch dabei bleiben, was ihr jetzt wichtig ist oder richtig erscheint. Wenn dem Kind sein Verhalten angelastet wird, entwickelt es sich schließlich zu einem Menschen mit verinnerlichter Selbstabwertung: Ich bin schlecht oder falsch oder unerträglich!

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Für viele Mütter ist das Kind ihr Eigentum. Sie verfügen über das Kind und erwarten, dass das Kind sich ihnen anpasst und nur tut, was Mutter will. Ihre <Liebe> wird an diese Bedingung geknüpft. So lernt das Kind zwangsläufig in erster Linie auf die Mutter zu achten und nicht auf sich selbst. Es muss schnell herausfinden, was Mutter will und braucht, was ihr gefällt, dann ist Mutter zufrieden, lobt und gibt Zuwendung. Dies ist sehr ähnlich der Art, wie Tiere dressiert werden: ein "Leckerli" für erwünschtes Verhalten! 

Das Kind entwickelt meisterliche Fähigkeiten, der Mutter abzuspüren, was diese will. Nach einer Weile genügen schon Gesten oder Blicke und das Kind reagiert wie gewünscht. Die Tragik liegt darin, dass das Kind immer weniger wahrnimmt, was es selbst braucht und will, wie es sich befindet, weil es ja auf die Mutter fixiert ist. Das Kind wird von der Innenwahrnehmung auf Außenwahrnehmung getrimmt, was für das eigene Selbstverständnis zum verhängnisvollen Mangel wird. Der Mutterversteher und -bediener war anfangs natürlich ihr "Sonnenschein", aber später verglüht der Strahlemann, er laugt allmählich, aber sicher aus, bis ihn evtl. eine depressive Krise oder psychosomatische Erkrankung noch rechtzeitig rettet. 

Natürlich sucht er als erwachsener Mann wieder eine Partnerin, die er bedienen kann und beide fixieren sich dann in einseitigen Rollen, die am Ende häufig mit Enttäuschung und Hass enden.

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Ja, wird ein Kind nicht ausreichend geliebt, ist sein Leben gefährdet und alle Bemühungen um Mutters Liebe bekommen eine existenzielle Bedeutung. Dafür macht ja ein Kind auch alles! Eine bedürftige Mutter, die ihr Kind nicht wirklich von Herzen lieben kann, verführt das Kind regelrecht, sie zu bedienen, und das Kind glaubt: "Wenn ich nur alles richtig gut mache, wird sie mich doch noch lieben!" 

Und so kommt es, dass der bedienende Mann Erwartung auch in seine Partnerschaft hineinträgt und denkt, dass seine Frau ihn wegen seiner Bemühungen besonders lieben wird. Wenn das dann aber ausbleibt, weiß er sich nicht mehr zu helfen und kann Todesangst z.B. in Form von Panikzuständen bekommen. Wirkliche Liebe kann man sich nicht verdienen und ein Mann, der einen so "verwöhnt" verliert an Wert und Respekt und wird allmählich verachtet werden, vor allem dann, wenn das Bediener-Syndrom zur Impotenz führt. Und wenn sich die Partnerin dann einer selbstständigen Aufgabe oder sogar anderen Männer zuwendet, reagiert ein Mutterbediener krankhaft eifersüchtig und gerät in eine narzisstische Krise mit oft schwerer depressiver oder psychosomatischer Symptomatik.

 

Dies Klischee ist ein Symptom des Lilith-Komplexes mit der Abwertung der sexuell-erotischen Bedürfnisse der Frau. In der Realität ist es für viele Frauen ein echtes Problem, wie sie Partnerschaft und Mutterschaft, sexuelle Bedürfnisse und Kinderbetreuung zusammenbringen. Wenn ein Kind gekommen ist, erkalten gar nicht so selten die erotischen Bedürfnisse, und Beziehungen gehen auseinander.

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Zu dem Begriff "Rabenmutter" kann man nur kommen, wenn man ein falsches, idealisiertes Mutterbild hat, wenn vorgeschrieben wird, wie eine "wahre Mutter" zu sein hat. Dann kann man von jeder Frau, die die Auflagen "wahrer Mutterschaft" nicht erfüllt, behaupten, sie sei eine Rabenmutter. Wenn es akzeptiert wäre, dass es kinderfeindliche Aspekte in der Einstellung jeder Frau zu ihrem Kind gibt, dass es also Begrenzung in der Mütterlichkeit einer jeden Frau gibt, dann könnte man nicht von einer "Rabenmutter" sprechen und genauso wenig von einer idealen oder heiligen Mutter, wie es in unserer Kultur durch das Eva-Maria-Bild suggeriert wird. Erst wenn die selbstbewusste und geile Lilith in das Frauen- und Mutterbild integriert ist, wird auch die Begrenzung der Mütterlichkeit anerkannt sein und nicht mehr als "Rabenmutter" diffamiert werden.

 

Meine Beobachtungen diesbezüglich sind folgende: Wenn eine Frau ein Kind bekommt, ist es meist sehr schwer, beides unter einen Hut zu bringen — die Mütterlichkeit und die Sexualität. Das sind eben auch zwei Funktionen und Bedürfnisse, die ihre unterschiedliche Wichtigkeit haben. Ich habe als Therapeut so viele Frauen erlebt, die darunter leiden, dass sie entweder das eine oder das andere vernachlässigen. Eine Frau kann nicht für beides gleichzeitig zur Verfügung stehen — es ist immer so, dass sie für eins von beiden ungenügend da ist. Natürlich untersuchen wir dann in der Therapie, ob es denn eine latente Feindseligkeit gegenüber dem Mann und der Sexualität gibt bzw. ob Probleme im Ausgestalten der Mütterlichkeit aufgetaucht sind.

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Dem können wir selbstverständlich auf den Grund gehen. Aber angenommen, es lässt sich alles gut klären, bleibt die Situation trotzdem unlösbar: Mütterlichkeit und Sexualität passen schlecht zusammen. Und deshalb kommt es darauf an zu vermitteln, wie man beides leben kann, ohne wegen der Vernachlässigung des einen oder anderen Aspekts Schuldgefühle zu haben. Jede Frau muss Wege finden, beides zu leben, aber eben getrennt voneinander. Keine Frau kann es schaffen — jetzt mal ganz krass formuliert —, oben zu stillen und unten Geschlechtsverkehr zu haben. Ein Säugling ist auf die Mutter angewiesen — zweifelsohne, aber jede Mutter ist auch Frau und muss zusehen, wie sie sich ihre Freiräume schafft, um auch mit ihrem Partner Zeit zu verbringen. Die Frage taucht im Leben jeder Frau auf: Wie kann ich meine Partnerschaft pflegen, Erotik und Sexualität leben, ohne mein Kind vernachlässigen zu müssen?

In den meisten Fällen lösen Frauen das Problem so, dass sie eine gute Betreuung für das Kind suchen. Denn es wird jeder Frau klar, dass das zwei verschiedene, aber gleichwertige Dinge sind, die nicht in einen Topf geworfen werden dürfen. Man braucht einen Freiraum für sich, das ist klar, aber dann muss fürs Kind gesorgt sein — man kann nicht Sex haben und mit einem Ohr ständig lauern, ob es dem Kind gut geht, ob es schreit, was es denn anstellt... Also muss man das ganz praktisch in die Hand nehmen und beidem Zeit und Raum gewähren. Es geht hier meist nur darum, wie man sich organisiert. Klärende, einfühlende Gespräche zwischen den Partnern können dabei sehr hilfreich sein. Für die organisatorischen Hilfen braucht es natürlich real hilfreiche Familienpolitik mit finanzieller Unterstützung.

 

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Mütterlichkeit und Sexualität lassen sich miteinander vereinbaren — vielmehr: Jede Frau ist gut beraten, ihre Sexualität zu bejahen, auch wenn sie Mutter geworden ist. Aber sie muss das Problem ernst nehmen, das sich hieraus ergibt: Sie muss sich klar vor Augen halten, dass beides nicht selbstverständlich zusammenpasst, dass es zwei verschiedene Bereiche sind, die nicht zur selben Zeit bedient werden können. Wenn eine Frau akzeptiert, dass ihre Mütterlichkeit begrenzt ist, dann kann sie auch sagen: "Ich kann und will auch mein Leben leben! Und ich muss dafür sorgen, dass mein Kind gut behandelt und betreut wird, wenn ich mal nicht zur Verfügung stehe."

 

Ja, weil es gar nicht so sehr um die Zeit geht, die eine Mutter mit ihrem Kind verbringt, sondern darum, wie sie innerlich zur Verfügung steht — sie kann dann meinetwegen auch nur kurz für das Kind da sein, aber dann ist sie wirklich da! Wir gehen davon aus, dass das Kind spürt, wenn die mütterliche Zuwendung nicht von Herzen kommt und es wird dann zum Problem-Kind, obwohl die Mutter ständig da war. 

Und wenn man als Frau aufrichtig sich selbst gegenüber ist und die eigene Begrenzung, die ganz normal ist, spürt, dann braucht man niemandem was vorzumachen — dann kann man sich an andere Menschen wenden und um Hilfe bitten in den Bereichen, wo einem selbst etwas fehlt: Dann kann der Partner, der vielleicht sogar mütterlicher ist als seine Frau, einspringen oder die Omas oder Geschwister usw. Auf diese Weise kommt dem Kind das zu, was es braucht und was der Mutter fehlt, was sie ihm einfach nicht geben kann. Und so zu handeln — seine Begrenzung einzugestehen und nach Hilfe Ausschau zu halten, empfehle ich immer wieder aufs Dringlichste. Da ergeben sich sofort viele alternative Lösungen und Möglichkeiten. Befindet sich aber eine Frau im Lilithkomplex, wird sie ihren Mangel verleugnen, nämlich dass sie sich in manchen Aspekten unzulänglich fühlt. Und sie wird alles dransetzen, um ihre Umgebung damit zu täuschen, was für eine "perfekte" Mutter sie ist. Damit vergiftet sie ihre ganze Umgebung — am schlimmsten ihr Kind!

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Nein, bitte keine Spaltung! Ich habe mit vielen Frauen an diesem Thema gearbeitet, sie haben an sich fast immer Eva-Maria und Lilith-Anteile entdeckt, meist im großen Ungleichgewicht, unterschiedlich schuldhaft beladen und oft nicht gelebt: die abhängige, untergeordnete Eva und die eigenständige, selbstbewusste Lilith, die keusche Maria und die geile Lilith.

Ein gutes Befreiungsgefühl ist es für viele Frauen, die unterdrückten, abgewehrten und tabuisierten weiblichen Aspekte zu entdecken und zuzulassen und alle Teilaspekte in das reale Leben zu integrieren. Familie und Beruf stehen als Konfliktfeld an erster Stelle, und zwar in zweierlei Hinsicht: das Bedauern, auf berufliche Entwicklung zugunsten von Kindern verzichtet zu haben und das Erschrecken, das Kinderkriegen verschoben zu haben, bis es zu spät war. 

Aber auch Partnerschaftskonflikte zwischen Abhängigkeit und Eigenständigkeit, zwischen Dominanz und Unterordnung, zwischen gefühlter Enttäuschung und erklärter Zufriedenheit, zwischen lustbetonter Phantasie und frigider Realität. Und die Sexualität bleibt ein heißes, krisenbelastetes Gebiet zwischen Machen und Lassen, zwischen Wollen und Verweigern, zwischen Masturbation und Konflikten mit dem Partner. Oft gibt es in den Partnerschaften große Unterschiede in den Gelüsten, den Techniken, den Zeiten und der Häufigkeit gelebter Sexualität — und es wird leider kaum darüber miteinander gesprochen.

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In allen Bereichen des Lebens spielen Eva- und Lilith-Aspekte eine wichtige Rolle: Darum zu wissen, sich davon zu befreien, sich zu entwickeln, auszugleichen und zu integrieren ist die Aufgabe und die Kunst. Dabei helfen ehrliche Frauengruppen, offene Partnerschaftsgespräche und ein soziales Engagement gegen eine einseitige Emanzipation der Lilith-Anteile, statt einer integrierenden Emanzipation, gemeinsam mit den Männern. Denn viele Männer haben Angst vor "Lilith" und verkümmern an der Seite einer "Eva" oder sie idealisieren und bedienen ihre "Eva", gehen dann aber heimlich zu Huren oder erkranken an ihrer Lebenslage.

 

In diesem Zusammenhang wäre es vielleicht besser, nicht von einem Ideal, sondern eher von einer Hoffnung oder Vision zu sprechen im Sinne eines Ziels, das man zwar nie erreichen wird, aber wo man spürt, es lohnt sich, den Weg dahin zu beschreiten — dann kommt man ganz real und nicht nur eingebildetermaßen der Vision etwas näher. Jeder Mensch kann jeder Zeit bemüht sein, sich weiter zu entwickeln — zu einer besseren Mutter oder zu einem besseren Vater... Aber gerade dazu braucht es das Bewusstsein und die Einsicht in die Begrenzung, dann kann ich allmählich versuchen, in mir Eigenschaften zu entwickeln, die ich nicht frei habe.

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Schon dieser ehrliche Umgang mit sich selber, Grenzen einzuräumen, ist ein wesentlicher Schritt, ohne den Entwicklung gar nicht möglich wäre. Es ist unerlässlich, die Attitüde: "Es ist alles bestens und ich hab keine Schwächen!" zu durchschauen und aufzugeben, denn erst das Zugeben von Grenzen und Schwächen lässt uns Befreiung erleben.

 

Ja, das ist gar nicht selten. Die Kinder sind dann von Anfang an mit einer "Schuld" beladen, für die sie gar nicht verantwortlich sind. In den therapeut­ischen Analysen ergibt sich dann oft, dass die Frau gar nicht studieren wollte — vielleicht nur einen väterlichen Auftrag erfüllen wollte — oder sie ist überfordert oder hindert sich durch psychische Blockaden. Das alles wird dann nicht realisiert, sondern dem Kind als Fluch auferlegt. Kinder bekommen ist ein natürlicher Vorgang, ein Auftrag unserer Natur, den man dankbar erfüllen kann. — Dankbarkeit aber von den Kindern oder der sozialen Umwelt für Mutterschaft zu erwarten, weist auf eine schwere narzisstische Problematik der Mutter hin. Keine Kinder kriegen zu können oder zu wollen, bleibt dagegen eine intrapsychische Konfliktlage, die oft verleugnet und mit rationalen Gründen abgewehrt wird.

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Ich mache andere Erfahrungen. Die meisten Frauen fühlen sich entlastet: Sie wissen ja längst um ihre Grenzen und Defizite als Mütter, nur haben sie nie darüber zu sprechen gewagt, weil sie Verurteilung befürchten. Die Unkenntnis und Unerfahrenheit, wie man gut Mutter sein kann, sind erschreckende Tatsachen. Die meisten Frauen tragen die Mütterlichkeitserfahrungen in sich, die sie mit der eigenen Mutter gemacht haben, und nehmen diese als "normal" und "selbstverständlich", sie denken nicht weiter darüber nach, um das eigene Leid mit der Mutter nicht zu berühren. Oder sie wollen es jetzt betont anders und besser machen als die Mutter und drängen dann den Kindern praktisch ihre "Heilungsversuche" auf. 

Die Unsicherheit führt auch häufig dazu, Ratgeber zu benutzen, sich zu belesen und Beratung aufzusuchen — das ist höchst ehrenwert, bleibt aber mit der Gefahr belastet, Rat anzunehmen und danach zu handeln, ohne wirkliches Gefühl, was für das Kind gut ist. Ich habe im Laufe meiner Berufszeit viel Unsinniges, Absurdes und Abnormes über die Geburtspraxis, das Stillen, die Sauberkeitserziehung und allgemeine Erziehungsregeln gehört und erlebt, sodass ich mich nicht mehr wundere, was später bei einer Mehrheit der Betroffenen alles schief läuft für den Einzelnen und in der Gesellschaft.

Was ich befördern will ist, Begrenzung an Mütterlichkeit zu erkennen und zu akzeptieren, ehrlicher zu werden, aus der Verlogenheit und dem damit verbundenen Stress herauszufinden, die Beziehung zu den Kindern damit zu entlasten. Wer dem Kind ehrlich seine Grenzen eingestehen kann und dann auch die Trauer, den Schmerz oder auch die Empörung des Kindes akzeptiert und zulässt, hilft dem Kind sehr, sich in der Wahrheit und der Realität einzuüben und den Umgang mit Konflikten zu erlernen.

Es ist ein großer Unterschied — das ergeben immer wieder die Analysen der Entwicklungsgeschichte —, ob auf das Kind mit sogenannten Ich- oder Du-Botschaften reagiert wird. Eine Ich-Botschaft wäre zum Beispiel: "Ich kann dich im Moment schwer aushalten, weil ich mit mir beschäftigt bin." Oder "Mir fällt es schwer, dich jetzt gern zu haben, weil ich mit mir selbst große Schwierigkeiten habe". 

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Dazu gehört aber auch die Botschaft: "Das sind meine Probleme, du kannst nichts dafür und ich bemühe mich, das für mich zu klären und dann auch wieder offen für dich zu sein." Das Kind weiß dann, woran es ist, dass es nicht schuld an Mutters Befinden ist und auf weitere ehrliche Zuwendung hoffen darf. Das ist etwas ganz anderes, als wenn es mit Du-Botschaften gesagt bekommt: "Ich habe dich doch ganz lieb, das musst du doch spüren!?" Aber das Kind erlebt das nicht! Oder wenn es hört: "Du machst es mir schwer! Du musst doch einsehen und Verständnis haben!" — Dann muss das Kind fürchten, dass es schuld oder falsch ist, dass es an ihm liegt, wenn es nicht richtig geliebt wird — eine verhängnisvolle Fehlannahme.

Wenn man früh lernt, dass es Grenzen gibt und wenn man das Unvermeidbare fühlen darf, dann kann man sich in der Realität zurechtfinden lernen und durch den Gefühlsausdruck trotz allem Entspannung finden und so bei allem Stress gesund bleiben. Dagegen führt Verlogenheit zu innerer Verwirrung, die emotional nicht befreiend abgeführt werden kann, so entwickelt sich chronischer Stress, der Verhaltensstörungen und Symptome produziert. Die Wahrheit mag manchmal hart sein, aber sie erhält die Beziehung, dagegen führt die Verlogenheit — mag sie auch noch so "süß" sein — in Beziehungsfrust, schafft Misstrauen, Zweifel und Distanz.

 

Es gibt Hinweise, dass es in matriarchalen Gesellschaften anders gewesen sein könnte. Spekulationen, zu denen ich nicht viel sagen kann, damit habe ich mich zu wenig befasst. Da das Mutter-Sein so tief in das Leben des Menschen eingreift — oft auf Leben oder Tod, auf Freiheit oder Gefangenheit, auf Lust oder Frust — ist zu vermuten, dass schon von Anfang an Mütterlichkeitsstörungen eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des Einzelnen wie der Gesellschaften gespielt haben.

In den christlich-jüdischen Überlieferungen wird Lilith von Anfang an verbannt. Die Schriften sind ja nicht von Gott geschrieben, sondern von Menschen — ausschließlich von Männern, so viel ich weiß — und immerhin haben wir mit Lilith einen wichtigen Hinweis auf ein zentrales Thema unseres Lebens. Im Grunde ist symbolisch aufgeschrieben, dass ein Gott-Vater allein keine gleichwertigen Menschen schaffen kann, die gut miteinander auskämen. Es fehlt die Mutter dazu — die ersten Menschen Adam und Lilith leben im Muttermangel, müssen also narzisstische Störungen entwickeln und sich in Machtkämpfe verwickeln. 

Uns ist hiermit eine Warnung überliefert, wohin Mütterlichkeitsstörungen führen. Uns fehlt das Vorbild einer Mutter-Göttin und eines Götter-Paares. Wir müssen diese Herausforderungen annehmen und uns nicht mit der Idealisierung eines Vater-Gottes täuschen. 

Auch Jesus ist symbolisch ohne klare Elternschaft geboren. Seine Liebesbotschaft und sein Leidensweg verkörpern das zentrale menschliche Thema: die Sehnsucht nach Liebe und den Schmerz des Mangels. Die bittere, aber befreiende Botschaft lautet: "Ich muss den Schmerz annehmen, um zu neuem Leben zu finden!"

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