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1. Die Liebesfalle

 

 

Verliebtheit .... 

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Die Verwirrung über das Verständnis von Liebe ist umfassend. Im Namen der «Liebe» wird gequält, missbraucht, ausgebeutet und Leben zerstört. Das menschliche Liebesbedürfnis ist so fundamental, dass viele beim Gebrauch des Wortes «Liebe» allzu leicht auf Suggestionen, Verheißungen und Versprechungen herein­fallen. Illusionen und Verwechslungen beherrschen viele Handlungen, die im Namen der Liebe erfolgen.

Liebe ist ein Grundbedürfnis des Menschen mit zwei Seiten: dem Wunsch, geliebt zu werden, und dem Bedürfnis, lieben zu können. Beide Formen der Liebe sind an «Objekte» gebunden: an jemanden, der liebt, und an jemanden, der sich lieben lässt. Das Liebesbedürfnis bringt jeder Mensch mit auf die Welt, die Entwicklung der beiden Liebesfunktionen ist hingegen von den frühen Beziehungserfahrungen abhängig.

Liebe ist die Fähigkeit und Bereitschaft, dafür zu sorgen, dass es dem Geliebten gut geht. Der Maßstab dafür ist aber nicht das eigene liebende Tun, sondern das, was dem Geliebten wirklich nützt. Der Liebende steht damit vor einer schier unlösbaren Aufgabe, sich in den Geliebten einzufühlen und zu erspüren, was dieser wirklich braucht. Dazu sind ein hohes Maß an Empathie und Uneigennützigkeit vonnöten. 

Wie aber kann man sich befreien von eigenen Vorstellungen und Erwartungen — wie kann Liebe tatsächlich bedingungslos sein? Und wie kann man wissen, was dem anderen wirklich guttut? Eine Erwartung, ein Wunsch oder eine Bitte bieten noch keinerlei Gewähr dafür, dass es wirklich um Liebe geht und dass die Erfüllung tatsächlich liebevolle Zuwendung bedeutet. Der Ruf nach Liebe ist gar nicht so selten ein Erpressungsversuch. Im Glauben, das Beste für den anderen zu tun, ist schon reichlich Terror ausgeübt worden.

Ist es Liebe, dem Süchtigen im Entzug die Droge zu verschaffen? Ist es Liebe, dem Bettler ein Almosen zu geben und für karitative und humanitäre Zwecke zu spenden? Ist es Liebe, einem Kind gegen dessen Wunsch Grenzen zu setzen? Ist es Liebe, dem Partner bittere Wahrheiten zu sagen? Auf viele solche Fragen gibt es keine eindeutige Antwort, weil das Wissen über das eigene Motiv des Handelns und erst recht über die tatsächliche Situation des Empfängers nie umfassend und zweifelsfrei ist.

Das, was wir das Unbewusste, das Komplexe, das Systemische und Prospektive nennen, entzieht sich unseren Berechnungen und Überlegungen. Damit soll keiner fatalistischen Resignation das Wort geredet werden. Die genannten Schwierigkeiten und Unsicherheiten lassen sich natürlich verringern und das liebende Tun optimieren, nur letzte Sicherheit gibt es in dieser Hinsicht nicht.

Was wir als «Liebe» erleben oder aus «Liebe» vollbringen, gehört meist in den Zustand des Verliebtseins. Die Vorsilbe «ver» lässt sich schon als ein Hinweis darauf lesen, dass es sich um einen Irrtum handelt. Ist man verliebt, schwebt man förmlich in glückseligen Zuständen. Man ist erregt, hitzig, voller Tatendrang, begeistert sich für den anderen und überschüttet ihn mit überschwänglichen positiven Zuschreibungen.

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Verliebtheit ist ein Zustand veränderten Bewusstseins mit Verzerrung der Wahrnehmung und Einschränkung der kritischen Reflexion. Man sieht sich das «Liebesobjekt» schön! Es ist dann einmalig, großartig, phantastisch! Meist ist es eine unerfüllt gebliebene kindliche Liebessehnsucht, die heute den Blick verklärt und das Denken lähmt. So ist bei Verliebtheit gewöhnlich schon von Anfang an Eifersucht vorhanden, und die quälende Sorge um Erwiderung der galoppierenden Gefühle verrät die Bedürftigkeit des Verliebten, die mit wirklicher Liebe wenig zu tun hat.

Mit ungeduldig-schmerzlichem Drang wird eine Erfüllung ersehnt, die prinzipiell nicht mehr möglich ist. Der erlebte Mangel ist längst Geschichte und durch nichts mehr wirklich aufzufüllen. So bleibt der Inhalt der Sehnsucht lange Zeit oder grundsätzlich unklar und unbestimmt. Man sucht etwas, das nicht mehr zu finden, das schon längst auf immer verloren ist.

Im Zustand des Verliebtseins wird das «Objekt» mit unbewussten Wünschen und Phantasien besetzt, deren Realisierung in Form von Gesten, Worten und Taten erhofft wird. Anfangs mag es ein Blick sein, ein freundliches Wort, ein Körperkontakt, dann wohltuende Gespräche, intime Geständnisse, schließlich Wunschvorstellungen von Partnerschaft, Familie und dauerhaftem Glück. Die Pläne und Phantasien sind abgehoben, irrational und künden vom tiefen Wunsch nach Verschmelzung, Bestätigung, Sicherheit und Gemeinschaft. Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, dass solche Sehnsucht aus der Frühbedürftigkeit des Menschen erwächst, insbesondere dort, wo sie mit Störungen und Defiziten an Mütterlichkeit und Väterlichkeit verbunden war.

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So ist Verliebtheit der drängende und aus der Kontrolle laufende Wunsch, endlich jemanden gefunden zu haben, der alles gut werden lässt und ausgleicht, was Vater und Mutter offengelassen oder gar verbrochen haben. Mit dieser frühen Last ist jede gegenwärtige Beziehung überfrachtet und letztlich zur Enttäuschung verdammt.

Die großen Lieben enden fast immer dramatisch. So findet denn auch die Verliebtheit bald ein bitteres Ende: Unvermeidliche Ernüchterung im Alltag sorgt für ihre Abkühlung, an der Realität erlahmen die Gefühle, und unerwartete Reaktionen führen zu Kränkungen. Auf das Erlebnis der Überforderung, die mit der Verliebtheit transportiert worden ist, reagieren nicht wenige mit Flucht aus der Beziehung. Abweisung kann im Extremfall zu Selbstmord, rasende Enttäuschungswut gar zu Mord führen.

Nach der Verklärung kommt der Absturz. Die Schönheit wird zur Fratze, Hass und Ekel vernichten alle Zuneigung. Auf die Irrationalität der Verliebtheit folgen die gleichermaßen verzerrten Zustände der Abwertung und Verachtung. Die eigene Fehleinschätzung und die Verkennung werden in der Regel jedoch nicht wahrgenommen. Fast immer finden sich Gründe und Eigenschaften, die einem das enttäuschende Objekt madig machen. Die bittere Erkenntnis, dass die Verliebtheit aus unerfüllten frühen Bedürfnissen und Sehnsüchten gespeist war, die sich prinzipiell nicht nachholen und durch nichts und niemanden später erfüllen lassen, muss unbedingt verhindert werden. Wesentlich einfacher und schützender ist es, den Adressaten der eigenen Verliebtheit zum Träger schlechter Eigenschaften und zum Schuldigen zu machen.

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Die großen Hoffnungen, die man häufig erwartungsvoll auf einen Partner richtet, werden fast immer mit ebenso großer Enttäuschung bezahlt. Der Abwehrkampf gegen den frühen Ursprung der Liebesbedürftigkeit produziert neue Verletzungen und Kränkungen im Hier und Jetzt. Der im Stadium der Verliebtheit gerade noch idealisierte Partner wird zum Inbegriff des Bösen, ein lächerlicher Versager, ein Ekelpaket, gleich einem Verbrecher, der jetzt an allem Lebensunglück Schuld haben soll.

 

.... und Partnerschaftshölle 

 

Wir wundern uns immer wieder über Menschen, die permanent miteinander im Streit liegen, sich mit Vorwürfen belasten, sich immer wieder verletzen und kränken. Sie leben in einer quälenden Beziehung, klagen und jammern über ihre Situation. Meistens wird der Partner zum Inbegriff des Schlechten, Bösen, Falschen und Verlogenen stilisiert. Im Extremfall duldet ein Partner über Jahre hinweg sogar Gewalt, Vergewaltigung und Ausbeutung. Warum nur akzeptiert ein Erwachsener, so schlecht behandelt zu werden? Die häufigste Erklärung, es handle sich um einen Zustand der Angst und Einschüchterungen, verbunden mit seelischer Erpressung und ökonomischer Abhängigkeit, greift in der Regel zu kurz. 

Bei genauerem Hinsehen wird ein tiefenpsychologischer Zusammenhang erkennbar, der nahezu paradox anmutet: Das gegenwärtige Leid aus den realen Konflikten in der Partnerschaft ist das kleinere Übel! Das Opfer schlechter Behandlung hat ein tieferes, ihm selbst allerdings in aller Regel unbewusst bleibendes Interesse daran, im Hier und Jetzt unglücklich zu sein. Mit dem gegenwärtigen realen Leid wird das schon längst erlittene frühe Leid überdeckt. Die gegenwärtige Gewalt soll von der Kindheitsnot ablenken und weist zugleich auf das verdrängte und tabuisierte frühe Schicksal hin.

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Alles das, was man sich als Erwachsener bieten lässt, ließe sich auch in Maßen steuern, kontrollieren, erwidern oder sogar bestrafen, und man könnte sich ihm immer auch entziehen. Deshalb ist es das «kleinere Übel», ohne damit wirklich böses und kriminelles Verhalten bagatellisieren zu wollen. Das «größere Übel» hingegen sind die bedrohlichen und verletzenden Erfahrungen, die man in der Kindheit hat machen müssen. Als Kind bleibt man ausgeliefert, kann sich kaum entziehen und verfügt lediglich über geringfügige Gegenmittel. 

Seelische Verletzungen des Kindes, wie sie vor allem durch die Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen verursacht werden, haben häufig für das Kind eine lebensbedrohliche Wirkung, die sein Selbstwertgefühl vernichten und seine Identität zerstören; überlebt werden sie nur durch seelische Notreaktionen.

Die Seele des Kindes weigert sich, realitätsgerecht wahrzunehmen und die schlimmen Erlebnisse zu verarbeiten. Stattdessen wird ausgeblendet, nicht mehr wahrgenommen, das Gefühl ausgeschaltet, das Verstehen blockiert. So überlebt das Kind halbwegs, bleibt aber seelisch erheblich eingeengt, verbunden mit schwerwiegenden Funktionsstörungen der Realitätswahrnehmung, der Gefühlsverarbeitung, der Beziehungs­fähigkeit und des Denkens.

Nur wer um die mörderische Aggression und den zerreißenden Schmerz weiß, die sich in einem Menschen aufgrund bedrohlicher und verletzender Kindheits­erfahrungen aufstauen können, der versteht auch die erduldeten, mitunter auch mitprovozierten destruktiven Verhältnisse, in denen Betroffene später ausharren.

Sie brauchen gewissermaßen den schlechten Partner, der durch sein kritikwürdiges Verhalten den aufgestauten Hass und den Schmerz in kleineren Portionen aufsaugen kann. So ist die schlechte Partnerschaft die Rettung des seelisch Verletzten, weil sie ihm ermöglicht, das unerträgliche und bedrohliche frühe Leid in einem halbwegs erträglichen — wenn auch noch so schlimmen — Rahmen abzureagieren. 

Der böse Partner wird sozusagen zum Sparringspartner des abgelenkten Kampfes gegen Mutter und Vater. Was damals nicht möglich war — sich gegen die Eltern aufzulehnen, sie wegen ihres Tuns oder Unterlassens anzuklagen und ein liebevolleres Verhalten einzufordern —, das wird nun in der Partnerschaft umso heftiger unternommen und ausgetragen. Das ehemalige Verhalten der Eltern ist zur inneren Erfahrung geworden, die die Matrix für die Partner­schafts­kämpfe liefert.

Diese späte Verwechslung endlich zu erkennen ist ein wesentliches Ziel psychotherapeutischer Arbeit.  

Absurd wäre es allerdings - als Konsequenz daraus -, vom Partner abzulassen und hier und jetzt zur großen Abrechnung mit den Eltern zu schreiten. Es sind die inneren Elternbilder, die entmachtet werden müssen. Und dies geht nur über Erinnerung und die emotionale Verarbeitung der erinnerten Wahrheit. 

Den Eltern heute Vorwürfe über die damalige Situation zu machen schafft meistens keine Klärung und Entlastung, sondern provoziert nur neue Konflikte. 
Hätten die Eltern etwas von ihrer Schuld verstanden, dann hätten sie schon von sich aus Bedauern gezeigt und ihre Kinder um Vergebung gebeten.
Werden sie aber ohne diese Selbsteinsicht angeklagt, verstärkt das nur die schon längst vorhandene Distanz, provoziert Rechtfertigungen, schafft neue Missverständnisse und Enttäuschungen. 
Selbst bei Einsicht der Eltern entsteht höchstens ein Gefühl der Genugtuung, aber keine befreiende Entlastung. 
Diese lässt sich nur durch eigene Gefühlsarbeit erreichen.

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