Hans-Joachim Maaz Passion Rede 2002
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2002 Aus
der Reihe: Evangelische
Akademie Thüringen |
Vielen Menschen fällt es schwer, sich zu erinnern. Vor allem die frühe Lebensgeschichte bleibt meist im Dunkeln. Manchmal — besonders nach schweren Traumatisierungen — drängen sich Erinnerungen auf, vergangene Ereignisse werden so erinnert, als würden sie gerade jetzt erlebt werden. In sogenannten flashbacks wird die Vergangenheit in Bildern, Szenen, bedrohlichen Gefühlen wieder präsent und belasten das gegenwärtige Leben. In der Regel aber erinnern Menschen bevorzugt äußere Ereignisse, aber kaum innere Zustände und Befindlichkeiten.
Vergessen ist ein seelischer Abwehrvorgang, der helfen soll, die Erinnerung an unangenehme Erfahrungen zu vermeiden. Nur bei traumatischen Ereignissen wird diese Abwehrleistung überfordert. Vergessen ist eine Gnade — um zu überleben; — und ein Fluch, weil Vergessenes nicht erledigt, nicht verarbeitet und bewältigt ist und sich deshalb in das Leben wieder einschleichen wird.
Die unerledigte Vergangenheit ist immer auch in der Gegenwart präsent und wird die Zukunft stets beeinflussen. In der Psychotherapie sprechen wir deshalb vom Wiederholungszwang. Wir re-inszenieren also unbewusst stets alte Erfahrungen, um auf unerledigte Geschichten aufmerksam zu machen mit der ebenso unbewussten Hoffnung, endlich verstanden und aus der Gefangenschaft unaufgelöster Verstrickungen erlöst zu werden. Es sind vor allem lebensgeschichtlich frühe seelische Verletzungen, die endlich gesühnt sein wollen.
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Viele Menschen, die selbst Opfer von Liebesmangel, Beziehungsdefiziten, Missbrauch und Gewalt sind, werden nun zum Täter im Dienste einer verhängnisvollen Illusion, indem sie glauben, dass alte seelische Verletzungen und Mangelerfahrungen später durch andere Menschen — häufig soll der Partner das sein — geheilt oder durch besondere Leistungsbemühungen kompensiert werden könnten. So wird die Partnerschaft mit Erwartungen und Hoffnungen überfrachtet und der Partner mit Sehnsüchten terrorisiert und umklammert, bis schließlich die Liebe im Enttäuschungshass erstickt.
Hoffnungen auf ein besseres Leben als in der Kindheit erlebt, eröffnen einen riesigen Markt, den Menschen angebliche Glücksbringer zu verkaufen — das reicht vom neuesten Waschmittel, über modische Markenartikel, alle möglichen Pillen bis zu den Wellness-, Psycho- und Esoterikangeboten.
Großartige Leistungen werden im Dienste dieses Irrtums vollbracht. Es darf sogar der Umkehrschluss gewagt werden, dass die Anstrengungen für hervorragende menschliche Leistungen — auf welchem Gebiet auch immer — stets aus einem Antrieb aus früher Not und Bedürftigkeit gespeist werden. Der Erfolg, der Ruhm und die Macht sollen helfen, schmerzvolle Erinnerungen und bittere Erkenntnisse zu vermeiden oder zu mildern.
Die Tiefenpsychologie und die Psychoanalyse haben ihre therapeutische Bedeutung aus der pathogenen Wirkung der verleugneten und verdrängten seelischen Inhalte gewonnen. Beschwerden, Erkrankungen, innerseelische und zwischenmenschliche Konflikte werden als Symptome einer tieferliegenden unbewussten seelischen Dynamik verstanden und dienen als Wegweiser für die Analyse der unbewussten Ursachen. Bei jeder Erkrankung spielt das eine Rolle, natürlich mit unterschiedlichem Gewicht, aber wir erkennen daran die tragische Fehlentwicklung eines großen Teils der modernen Medizin, die sich immer mehr auf die Bekämpfung der Symptome spezialisiert hat, statt sie auch in ihrer psychosozialen Botschaft verstehen zu lernen.
Eine häufig geforderte <Vergangenheitsbewältigung> kann niemals gelingen, wenn nicht das Verleugnete und Vergessene wieder erinnert wird und in einem — in aller Regel — sehr schmerzvollen Prozess verarbeitet werden kann. Die Lippenbekenntnisse eines Wendehalses taugen nichts, sie ermöglichen keine Veränderung und Entwicklung. Ein unter autoritären Bedingungen zum Nationalsozialisten erzogener Mensch wird nicht durch Umerziehung zum Demokraten, einer politischen Ideologie oder einem religiösen Fundamentalismus kann man nicht einfach abschwören und von einer süchtigen oder konsumistischen Haltung kommt man nicht durch bloße Einsicht frei.
Die gegenwärtige neurobiologische Forschung kann belegen, wie das reifende Gehirn des Säuglings und Kleinkinds durch psychosozialen Stress beschädigt werden kann, und zwar so nachhaltig, dass als gesichert gilt, dass die Zeit eben keine Wunden heilt. Die Erfahrungen der ersten Monate entscheiden, wie sich das Gehirn strukturieren wird. Die gute Qualität der Bindung zwischen Kind und Mutter ist eine wichtige Variable, die eine gesunde Gehirnentwicklung ermöglicht. Der Mangel an liebevoller Zuwendung zerstört über die Wirkung von Stresshormonen wesentliche Neuronen-Verbindungen, so dass unser "Computer" sozusagen eine beschädigte "Festplatte" bekommt. Erinnern aber ermöglicht neurobiologische Umbauvorgänge.
Da die Erinnerung unbewusster seelischer Inhalte immer an Schmerz gebunden ist, findet sie auch kaum statt, jedenfalls nicht ohne Not. Deshalb bleibt die sogenannte "Vergangenheitsbewältigung" fast immer oberflächlich: es werden höchstens Fakten genannt. Die emotionale Betroffenheit aber bleibt gebremst, weil die eigene Beteiligung nicht wahrgenommen werden will.
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Das Schema ist immer dasselbe. Es gab ... Nazis als NSDAP-Mitglieder, es gab viele Mitläufer (die halt auch nicht anders gekonnt hätten), es gab .... Mill. Tote im Krieg. Aber keiner sagt: Ich war Nazi. Ich fühlte mich als besserer Mensch als ein Russe oder gar als ein Jude. Ich fand es richtig, dass wir sie umgebracht haben. Heute weiß ich, dass ich ein seelisch schwer gestörter Mensch bin. Ich brauche Hilfe. Ich will verstehen, was mich so unmenschlich und kriminell gemacht hat.
Und nach eingehender psychosozialer Erforschung der eigenen Fehlentwicklung: Ich bereue, es tut mir leid. Ich verdiene Strafe. Ich versuche so gut ich kann, etwas wieder gutzumachen und wenn es nur das Eingeständnis ist, dass ich aus eigener seelischer Verletzung zum Mörder geworden bin. Ich will mich engagieren, dass die gegenwärtigen und künftigen Lebensbedingungen solche Ursachen verhindern.
Und die Mitläufer — also wir alle — sind wohl nur ganz selten bereit, einzugestehen, dass wir mitunter heimliche Sympathisanten von Gewalt, Terror und Krieg sind, dass uns Erregungsschauer bei Vergewaltigungen, Demütigungen und Kränkungen anderer überkommen können, dass wir also auch aggressiv-mörderische, lüsterne und geile Impulse und Phantasien in uns tragen, sie aber meist nicht wissen und wahrhaben wollen. Dagegen sind wir sehr schnell mit Projektionen und Schuldzuschreibungen und wissen stets angeblich gute Gründe für unser negatives Urteil über andere vorzubringen.
Im Moment lebt der amerikanische Präsident nahezu ungezügelt einen der primitivsten und gefährlichsten seelischen Abwehrmechanismus vor: die Spaltung der Welt in gut und böse. Eine große Mehrheit ist bereits wieder dabei, als Mitläufer einer pathologischen Weltsicht zu folgen, um das eigene Böse zu verleugnen und anderen überzuhelfen, wofür sich besonders gut eignet, wem man auch reale Schuld vorwerfen kann.
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Die Erinnerung ist also zum Zwecke des Selbstschutzes blockiert, sie wird nur gefälscht, verzerrt und tendenziös zugelassen, um das narzisstische Gleichgewicht zu erhalten. Erinnerungen sind immer höchst subjektiv, von vielen Einflüssen abhängig, am häufigsten geschönt. Wir schreiben unsere Lebensgeschichte kontinuierlich neu. Zuzugeben, dass man sich geirrt habe, dass man Schuld trage, dass man schwach und feige sei, dass man begrenzt sei und Fehler mache, ist nicht nur eine mutige Herausforderung des Selbstwertes, sondern auch eine kulturell eher verpönte Leistung und Fähigkeit des Menschen.
Seit der wissenschaftlich-technischen Revolution herrscht ein Machbarkeitswahn und "Gotteskomplex" (H. E. Richter). Die Menschen suchen mit technischen Hilfsmitteln Größe und Stärke, um ihre tiefe Unsicherheit und Bedürftigkeit zu verbergen. Am 11. September sind die Amerikaner in den Symbolen ihres Größenselbst getroffen worden.
Die westliche Lebensart hat den Menschen in den Zwang zu siegen getrieben und auch andersherum, die narzisstisch verunsicherten Menschen haben sich allmählich eine Gesellschaft gestaltet, in der äußeres Wachstum die innere Armseligkeit verbergen und in der immer mehr Habenwollen das immer weniger Sein übertünchen sollen. Das Geld soll den Mangel an Liebe ersetzen und der existenzielle Konkurrenzkampf soll die schmerzlich unerfüllte Sehnsucht nach menschlicher Verbundenheit vergessen machen.
Freilich, es gibt auch Menschen, die sich an allem schuldig fühlen (ohne schuld zu sein), die ihre Schwäche kultivieren und mit ihrem Versagen den Schatten der Erfolgs- und Spaßgesellschaft auf die Bühne bringen, entweder zur Entlarvung der verlogenen sozialen Maskerade oder auch um wenigstens über den Gegenpol des Verlierers Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erlangen und die Gesellschaft zu sozialen Subventionen zu nötigen. Der gerechte Protest gegen eine lieblose Behandlung in der Kindheit pervertiert zur Selbstbeschuldigung und Selbstbestrafung und am Ende zur ungerechten Belastung der Gemeinschaft.
Es gibt keine Gesundheits- und Sozialreform, die das Problem wachsender Kosten wirklich lösen könnte, ohne die frühen Verursachungen entfremdender Lebensformen zu erinnern, zu verstehen und präventiv zu verhindern. Der Streit zwischen Regierung und Opposition — egal welche Partei an der Macht ist — wird immer peinlicher und in der Verlogenheit immer gefährlicher, weil nur um die Beschönigung der äußeren Symptome gefeilscht wird, statt endlich einzugestehen, dass das Lebensmodell einer Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft auch nur eine schöne Utopie ist und nicht für immer und erst recht nicht für alle Regionen und Menschen dieser Welt zu verwirklichen ist. Ganz im Gegenteil, unsere Lebensform ist gesundheitsschädigend, ungerecht und destruktiv.
Deshalb greifen alle politischen Entscheidungen immer zu kurz. Deshalb gibt es auch bei den Wahlen keine wirkliche Alternative. Eine Partei, die einen grundlegenden Paradigmenwechsel wollte und Ursachen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen beseitigen möchte, käme nie an die Macht, weil sie den Menschen zu viel schmerzliche Erinnerung und mühevolle Veränderung abverlangen müsste.
Wir leben in einer Kultur, die massenhaft sog. "frühe Störungen" verursacht, d.h. Kinder werden immer weniger gewollt, sie werden in ihren wirklichen Bedürfnissen immer weniger verstanden und befriedigt, dagegen aber immer nachhaltiger in die entfremdenden Normen der Marktwirtschaft gepresst. Ich spreche von einem Mangel an Mütterlichkeit in unserer Gesellschaft. Und meine damit, dass die Kinder statt Einfühlung immer mehr Forderung erfahren, statt Verständnis Belehrung und Bedrohung und statt Gemeinschaft und Sicherheit immer mehr allein gelassen werden. Menschliche Grundbedürfnisse: geliebt zu werden, berechtigt und gewollt zu sein mit allen Eigenarten und Schwächen, bestätigt zu werden in der individuellen Einzigartigkeit werden kaum noch erfüllt.
Kinder sind zumeist zu Objekten der Erziehung degradiert und keine Subjekte von Beziehung. Sie sollen die Erwartung ihrer Eltern erfüllen und sich den Normen der Gesellschaft anpassen — heute sind das vor allem: Leistungsstärke, Durchsetzungsfähigkeit und Konkurrenzverhalten, Flexibilität, Mobilität und Austauschbarkeit — gegen die sozialen Bedürfnisse von Gemeinschaft und Verbundenheit. Die Erinnerung an die Geschichte einer solchen Entfremdung ist praktisch ohne therapeutischen Schutz kaum noch möglich.
Bei der Recherche über den Verlust an Mütterlichkeit bin ich auf einen erstaunlichen Befund gestoßen: In unserer christlichen Überlieferung ist ein wesentlicher Mythos verleugnet worden.
Es geht um Lilith — die erste Frau Adams —, die dem Manne gleich aus Erde geschaffen wurde. Adam und Lilith aber fanden keinen Frieden miteinander. Ihre Partnerschaft war durch Machtkämpfe belastet. Lilith wollte in der sexuellen Vereinigung nicht immer nur unter Adam liegen. Sie verweigerte schließlich die Missionarsstellung und forderte, auch mal "oben" sitzen zu können. Der Kampf und Streit um Macht und Kontrolle endete mit der Flucht Liliths aus dem Paradies, wofür sie schließlich von Gott bestraft wurde: dass ihre Kinder getötet würden und sie in der Einöde leben müsse. Adam verfiel in depressive Klagsamkeit. Gott erbarmte sich und schuf ihm — nun aus einer Rippe von ihm — Eva.
Diesen Mythos halte ich aus mehrfacher Hinsicht für die Störungen in unserer abendländisch-christlichen Kultur für bedeutungsvoll. Die ersten Menschen werden als selbstwertgestört gezeigt — nicht zur Partnerschaft fähig, sondern in Konkurrenz verstrickt. Sie sind zwar als gleichwertig geschaffen worden, aber von einem Gott-Vater, nicht von einem Götter-Elternpaar und nicht von einer Gott-Mutter geboren. Damit haben Elternschaft, Mütterlichkeit und Partnerschaft keine mythologische Basis. Das Frauenbild ist von Anfang an gespalten in Lilith und Eva.
Lilith steht für Eigenständigkeit, sexuelle Aktivität und Kinderfeindlichkeit. Eva steht für Unterordnung, Abhängigkeit, Keuschheit und Familie (für Kinder, Küche, Kirche). Lilith aber wird verleugnet, tabuisiert — in der Luther-Übersetzung der Bibel wird der hebräische Text, dass es sich bei Eva um eine Zweiterschaffung der Frau handelt (diesmal Bein von meinem Bein), nicht korrekt übersetzt.
Aus den therapeutischen Erfahrungen mit den sogenannten Frühstörungen der Menschen — als Folge gestörter und defizitärer Mütterlichkeit in unserer Gesellschaft, habe ich einen Lilith-Komplex inaugurieren können, der die 3 Aspekte der Lilith-Weiblichkeit im Unbewussten der Frau und in ihrer psychosozialen Unterdrückung beinhaltet:
Es geht um: 1. die Gleichwertigkeit der Frau, 2. die sexuelle Aktivität und selbstverantwortliche Lustfähigkeit der Frau, 3. die Kinderfeindlichkeit der Frau.
Im Lilith-Komplex bleibt die unvermeidbare Ablehnung des Kindes durch die Mutter verborgen. Die Mutter gesteht sich kaum ein, dass ein Kind mit seinen Bedürfnissen und Forderungen zur Qual werden kann, dass die notwendige Begrenzung kindlicher — vom Lustprinzip gespeister — Ansprüche schwere und anstrengende Arbeit bedeutet und dass das Kind die Mutter in ihren berechtigten Bedürfnissen, auch Frau, Partnerin und Kollegin zu sein, für längere Zeit behindert. Die Leugnung dieser Umstände vergiftet das Kind, denn es spürt, wenn es abgelehnt wird. Die offen eingestandene Begrenzung der Mutter aber könnte vom Kind durch Wut, Schmerz und Trauer verarbeitet werden.
Mutter-Sein wird gesellschaftlich nicht angemessen gewürdigt und sozial nicht ausreichend unterstützt. Der bestehende Konflikt zwischen dem Wunsch nach guter mütterlicher Funktion und der psychologischen und sozialen Realität wird nicht durch Trauerarbeit bewältigt und nicht ausreichend durch politischen Kampf gelöst, sondern den Stress bekommt fast immer das Kind ab. Die Mutter ist in aller Regel überfordert und allein gelassen. Sie ist sich ihres eigenen erlittenen Mütterlichkeitsmangels in aller Regel nicht bewusst, durch die Erinnerungsblockade geschützt und wird es nicht besser wissen und können, als sie es selbst bei ihrer Mutter gelernt hat, auch wenn sie unbedingt anders sein möchte als die eigene Mutter.
Es gibt keine Schulung in Mütterlichkeit, es gibt keinen Elternpass, den man erwerben müsste, um die Fähigkeiten zu entwickeln, ein Kind angemessen zu begleiten. Und wenn es eine solche Schule gäbe, die ich für notwendig halte, müsste sie Erinnerung und Passion ermöglichen. Ausführlicheres dazu werden Sie bald in einem Buch über den Lilith-Komplex nachlesen können.
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Ich habe schon deutlich gemacht, dass Erinnerung aus psychologischen, psychodynamischen und neurophysiologischen Gründen erschwert oder regelrecht blockiert sein kann. Es geht um unangenehme Gefühle, um bittere Wahrheiten und um Beziehungsstörungen, die durch Erinnerung reaktiviert werden. Damit ist die Brücke zur Passion geschlagen.
Das Wort "Passion" steht in einer Doppelbedeutung: Es steht für Leidenschaft, leidenschaftliche Hingabe, Eifer, Vorliebe, Steckenpferd und mit Passion wird das Leiden und Sterben Jesu Christi gemeint. Für mich verkörpert Jesus Christus im hier vorgetragenen Kontext das Schicksal eines frühverletzten Menschen: in Armut geboren, verfolgt von Herodes und mit dem Tode bedroht, unehelich gezeugt, von einer "Jungfrau" (d.h. sexuell nicht aktiven) Frau geboren, deren mütterliche Funktion keine besondere Erwähnung findet.
Wir finden bei Jesus alle psychosozialen Ingredienzen früher seelischer Traumatisierung (Lebensbedrohung, Armut, Muttermangel und einen unbedeutenden Vater) und können deshalb seinen Leidensweg als zwangsläufige Folge einordnen. Was ihn unterscheidet von der Masse der ähnlich betroffenen Menschen ist, dass er sein Leiden annimmt und nicht verleugnet und nicht durch Anstrengung, Kampf und Gewalt zu kompensieren versucht, wie es heute die Mehrheit der Menschen macht.
"Frühstörungen" nach unserem heutigen Verständnis entstehen, wenn Kinder nicht gewollt sind (die also von Anfang an mit einem prinzipiellen Lebensfluch: Sei nicht! leben müssen — oder wenn Kinder nicht nach ihren Möglichkeiten und Grenzen sich entwickeln dürfen, sondern Erwartungen ihrer Eltern und entfremdende Normen ihrer sozialen Umwelt — seien es autoritäre politische Verhältnisse oder marktwirtschaftliche Nötigungen und Bedrohungen, erfüllen müssen: Werde nicht, der Du bist, sondern sei, wie wir Dich haben wollen und brauchen!
Die frühen Erfahrungen von Ablehnung, Abwertung, Einschüchterung, Kränkung, Einengung, Überforderung, von Lieblosigkeit, Beziehungsmangel und Verlassenheit verursachen existenzielle Ängste, Selbstwertstörungen, Identitätsschwäche und Bindungsstörungen. Die davon betroffenen Menschen, sobald sie eine Mehrheit bilden, werden im Wiederholungszwang ihre Verhältnisse so einrichten, dass die Quelle ihrer seelischen Belastung verborgen bleibt und soziale Möglichkeiten der Verleugnung und Kompensation kultiviert werden. Das ist die Tragik des Wiederholungszwanges, der verweigerten Erinnerung, dass bessere Verhältnisse, die man als Erwachsener schaffen und gestalten könnte, nicht wirklich gewollt werden, um nicht an die frühen Entbehrungen erinnert zu werden.
Wählt man den Partner, an dem man leiden kann, verletzt und enttäuscht man die Freunde, dass man Ärger und Streit bekommt, schafft man sich soziale Verhältnisse, die einen einengen und bedrohen, bleibt die bisherige Welterfahrung erhalten und darin auch die frühe Not verborgen. So entsteht eine ausufernde Wachstumsgesellschaft, eine Spaßgesellschaft, eine Suchtgesellschaft, eine narzisstisch-hedonistische Kultur. Jesus von Nazareth widersetzt sich den gesellschaftlichen Normen — er lebt für die Wahrheit und muss folgerichtig leiden!
Der Mensch blockiert in aller Regel die Wahrnehmung nach innen, um nicht bittere Wahrheiten zu entdecken, und lässt sich gerne nach außen orientieren und wird dabei abhängig von Führung, vermittelter Orientierung und Außenbestätigung und letztlich zum Opfer von Suggestionen, Verheißungen und Erlösungshoffnungen. Die ungestillten Bedürfnisse nach Liebe und Bestätigung werden dann materialisiert und führen vielleicht zu einer Konsumhaltung, zu Besitzgier und Sucht. Der brüchige und unsichere Selbstwert lässt nach Macht und Erfolg streben ohne Rücksicht auf Verluste und der Gefühlsstau sucht schließlich Anlässe, um sich entladen zu können, was der tiefere Antrieb für Gewalt und Kriegslust ist.
Wir verstehen jetzt, weshalb erinnern so schwer ist, weil immer die Wahrheit droht, und die ist für viele schmerzhaft, bitter und traurig. Wir verstehen den Konkurrenzkampf, die Leistungssucht, den Aktivismus und die permanenten Vergnügungsbemühungen als Abwehr und Ablenkung von den unerfüllten und später unerfüllbaren frühen Bedürftigkeiten und Sehnsüchten.
Blockierte Erinnerung bedeutet eine riesige Gefahr, dass jedes belastende Erlebnis die frühen Wunden wieder aufreißen könnte, so dass selbst relativ harmlose Ereignisse mit lebensbedrohlicher Qualität erlebt werden. Ein kleiner Fehler löst Unwertgefühle aus (ich bin nichts wert!), eine Kritik verursacht Vernichtungsgefühle (ich bin nicht berechtigt), ein Liebeskummer führt in den Suizid, die Ablehnung einer Bewerbung löst eine Depression aus, eine geringe Kränkung bringt das Fass aufgestauter Wut zum Überlaufen und löst schließlich einen Amoklauf aus. Das gegenwärtige Ereignis steht in keinem Verhältnis zur übermäßigen Reaktion und ist nur erklärbar durch die destruktiven Energien aus einem "Gefühlsstau", die auf einen Auslöser mit aufgesattelt werden.
Ohne Trauer über frühe Defizite kann auch keine wirkliche Freude mehr empfunden werden. Jeder glücklichere Umstand, den ein Mensch erleben könnte, sei es ein beruflicher Erfolg oder eine liebevolle Zuwendung, kann nicht wirklich lustvoll gefühlt werden, weil dadurch erst die Relation zum bisher unglücklichen Leben wahrgenommen werden müsste und Unlust verursachen würde. Wenn im Siegestaumel sog. "Freudentränen" fließen, ist das ein sicherer Hinweis auf den durchbrechenden Schmerz der bisherigen Entbehrungen und Enttäuschungen. Menschen mit nicht erinnerten und nicht mit Wut, Schmerz und Trauer verarbeiteten frühen psychosozialen Mangel- und Missbrauchserfahrungen haben vor nichts mehr Angst als vor Liebe und Frieden. Sie organisieren sich unbewusst stets unglückliche Verhältnisse, an denen sie leiden können, sie provozieren andere zum Kampf und Streit und werden in der Politik stets die militärische Lösung wählen!
Die frühen defizitären und traumatischen Erfahrungen sind für das Kind lebensbedrohlich (Liebesmangel ist genauso gesundheitsschädigend bis tödlich wie Nahrungsmangel) und müssen deshalb unterdrückt und abgespalten werden, damit das Kind überhaupt überleben kann. So sind viele Menschen Überlebenskünstler, aber keine Lebenskünstler geworden. Das Kind muss schnell lernen, die Realität zu filtern, das Böse und Lebensbedrohliche von der Wahrnehmung fernzuhalten und ein Bild von einer "guten Mutter" und "schönen" Kindheit zu konstruieren, um das Ungeheuerliche zu leugnen. Das hat einen hohen Preis:
die Welt wird nur noch eingeschränkt, verzerrt und tendenziös wahrgenommen (das steigert die Auflage von Boulevard-Blättern), — die Gefühle müssen blockiert werden, was auch die Lebensfreude dämpft und die sexuelle Lustfähigkeit behindert
große Mengen an Lebensenergie müssen zur Verleugnung und Verdrängung aufgebracht werden und fehlen so für eine aktive und kreative Lebensgestaltung
die Welt wird als bedrohlich erlebt und in gut und böse geteilt (das Böse ist dann immer außerhalb beim Partner, beim Nachbarn, beim Chef, beim Parteigegner, bei der anderen Nation, bei den Islamisten). Der Gegner muss provoziert und seine Gefährlichkeit muss aufgebauscht werden, damit er ordentlich bekämpft werden kann.
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So kann ich jetzt zusammenfassen: Erinnerung ist ohne Passion nicht möglich. Erinnern braucht eine Leidenschaft, die Leiden schafft, braucht eine Hingabe an die schmerzvolle Wahrheit, denn es sind belastende Erfahrungen, die die Erinnerung blockieren.
So ist wirkliche Erinnerung praktisch ohne therapeutische Begleitung kaum zu erreichen. Und dies ist wiederum nicht zu realisieren. So bekommt Prävention eine große Bedeutung, also die Frage, wie Kinder zur Welt kommen, wie sie angenommen und behandelt werden, wie sie gestillt werden und fühlen dürfen. Der angemessene Gefühlsausdruck ist die natürlichste Form des Stressabbaus. Wut ist die angemessene Reaktion auf schlechte Behandlung, Schmerz ist die Ausdrucksform für Mangelerfahrung und Trauer ist die notwendige Antwort auf jeden Verlust — auch Verlust an Lebensqualität.
Sicher hat Karl Marx das Wort "Religion als Opium für das Volk" anders verstanden als es aus meiner Perspektive Bedeutung erlangt. Wenn man um die Unvermeidbarkeit des seelischen Schmerzes weiß und die schmerzstillende Wirkung des Opiums kennt, ist es eine große Gnade, einen Glauben entwickeln zu können, der mit seiner Überzeugungskraft Schmerzliches mildern kann. Wenn die menschlichen Möglichkeiten - die psychosozialen und neurophysiologischen - der Schmerzverarbeitung überfordert sind, dann bekommen tröstender Zuspruch und die Gewissheit höchsten Gehalten-Seins eine lebensrettende Funktion. So vermittelt Religion frühverletzten Seelen Liebe, Halt, Struktur und Orientierung.
Eine Religion der Liebe wird aber zum Fluch, wenn sie benutzt wird, Erinnerung zu umgehen und schmerzliche Erkenntnis zu vermeiden. Wenn man sich durch oberflächliche Bekenntnisse und illusionäre Erwartungen an das Wirken eines Christus aus der eigenen Verantwortung stehlen will, beraubt man sich wesentlicher Heilungschancen und trägt zu gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bei.
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Wir brauchen dringend eine Kultur der Trauer und des Schmerzes und Formen angemessener Aggressionsverarbeitung. Gefühlskunde und Gefühlsschule sind notwendige Forderungen an Bildung und Erziehung. In Elternschulen sollten Männer und Frauen auf ihre wichtige Aufgabe, Kinder zu betreuen, vorbereitet werden. Die Liebe, die Kinder brauchen wie das Brot und das Verständnis, das sie benötigen, sind als die wichtigste Investition in die Zukunft einzuschätzen.
Natürliche Geburten, Beziehung statt Erziehung, die Fähigkeit zum Fühlen sind mögliche und notwendige präventive Maßnahmen, um gefährliche gesellschaftliche Fehlentwicklungen einzudämmen und "innere Demokratie" als einen innerseelischen Zustand zu erreichen. Jeder mütterliche Akt ist in der Lage, die Welt zu verändern. Zuhören, Einfühlen, den anderen aus seiner Situation heraus verstehen wollen, Gefühle befördern und ausdrücken helfen sind die notwendigen mütterlichen Fähigkeiten zur Gestaltung und Erhaltung unserer Welt.
Eltern, die ihr Kind lieben können, weil sie selbst geliebt waren, die das Kind befriedigen können, weil sie sich selbst Befriedigung geben oder holen können, die das Kind in seiner Wut und Trauer und seinem Schmerz über die unvermeidbaren Begrenzungen und Unglücke des Lebens annehmen und bestätigen können, die das Kind loslassen und eigene Wege gehen lassen können, weil sie ihr eigenes Leben gestalten und genießen können, sind die Voraussetzung und die Garanten für eine wahrlich humanistische und christliche Gesellschaft und verdienen deshalb höchste gesellschaftliche Anerkennung und jede notwendige soziale Unterstützung.
Der Mensch Jesus von Nazareth zeigt uns, dass der Weg der Liebe unweigerlich mit Schmerz verbunden ist. Es ist der Schmerz über selbst erlittenen Liebesmangel, der Schmerz über die Verleumdung, Verfolgung und Bedrohung, wenn man Liebe lebt und der Schmerz und die Trauer über den unweigerlichen Verlust von Menschen, die man liebt. Die frohe Botschaft der Liebe ist für alle Menschen, die nicht geliebt waren, eine Bedrohung ihrer Abwehr, eine Herausforderung an ihre Erinnerung.
Der Mensch Jesus lehrt, dass neues Leben nur durch einen Leidensweg erreichbar ist. Nicht das Leiden als Ziel, nicht Märtyrer sein, um in den Himmel zu gelangen, sondern der Schmerz als unvermeidbare Lebensäußerung, als notwendiger Weg, Leidvolles und Begrenztes zu verarbeiten, um schließlich auch in Liebe und Freude leben zu können. Wenn wir Jesus zu einem Christus machen, ihn praktisch aus seiner Menschlichkeit herausheben und ihn gar für uns leiden und sterben lassen, verweigern wir die Verantwortung für das Erinnern und damit für das Ringen um Wahrheit, wir verleugnen und projizieren das eigene Leid und berauben uns des lustvollen Auflebens trotz aller Mühsal und Not.
E n d e