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3. Die ersten Stimmen: 

 Jessenin-Wolpin, Nariza, Tarsis, Welskij

 

 

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In den vierziger und fünfziger Jahren zirkulierten in Abschriften Gedichte von Sergej Jessenin; einige dieser Gedichte waren in der Sowjetunion nie veröffent­licht worden, andere waren in den zwanziger Jahren erschienen, später aber nicht wieder aufgelegt worden, und da die Leser sie nicht kaufen konnten, schrieben sie sie ab.

In den fünfziger und sechziger Jahren wurden, ebenfalls im Samisdat, Gedichte von Jessenins Sohn verbreitet: Aleksandr Jessenin-Wolpin, der von seinem großen Vater die Leidenschaft für die Poesie geerbt hat. 

1949 wurde Jessenin-Wolpin verhaftet; der Grund waren, wie er berichtet, die Gedichte <Nikogda ja ne bral sochi> (Nie nahm den Pflug ich in die Hand) und Woron (Der Rabe). »Diese Gedichte wurden den Staatssicherheitsorganen hinterbracht«, daraufhin wurde er »für unzurechnungsfähig erklärt und in der psychiatrischen Gefängnisklinik in Leningrad interniert und im Herbst 1950 für fünf Jahre nach Karaganda verbannt (von wo ich dann freikam aufgrund der Amnestie nach Stalins Tod)«.1

Bemerkenswert ist, daß Jessenin-Wolpin wenige Tage, bevor er verhaftet und für unzurechnungsfähig erklärt wurde, mit glänzendem Erfolg zum Kandidaten der Wissenschaften promoviert hatte (er gilt als hochbegabter Mathematiker sowohl bei seinen sowjetischen Kollegen, die mehrfach in offenen Briefen für ihn eintraten, als auch bei ausländischen Wissenschaftlern).

1959 ließ Jessenin-Wolpin, da er eine erneute Verhaftung befürchtete, ein Buch mit seinen Gedichten und einen Freien philosophischen Traktat heimlich in den Westen gelangen; kurz darauf wurde er verhaftet und wieder in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Sein Buch erschien 1961 in einer zweisprachigen Ausgabe bei dem New Yorker Verlag Praeger.2  

In den folgenden Jahren wurde Jessenin-Wolpin einer der bekanntesten Aktivisten der sogenannten <Demokratischen Bewegung zur Verteidigung der Menschen­rechte in der UdSSR>.

Er verfaßte zahlreiche im Samisdat erschienene Artikel und Unter­suchungen zu juristischen Fragen - besonders das berühmte <Rechtshilfe-Merkblatt für zum Verhör Geladene>.3

Das zentrale Thema von Jessenin-Wolpins Gedichten ist die Verteidigung der Freiheit, die Ablehnung der Diktatur, die den Menschen mit Gewalt ihre Ideologie aufzwingt — eine Ideologie, die

»in uns hineingestopft wird wie ein heiliges Gesetz, 
und noch dazu wird uns gesagt: ihr müßt sie lieben« (S. 48);

die Ablehnung der aufgezwungenen und für alle verpflichtenden marxistischen Doktrin:

»Eines Nachts, zur Terrorstunde, las ich erstmals Thomas Morus,
Daß ich nicht beschuldigt würde, die Utopia nicht zu kennen.

In der langen öden Schilderung suchte ich nach einem Hinweis,
Ob man Abgeirrte einsperrt in dem Land, das keinen Zwist kennt,
Weil ja doch, um abzuirren, gar kein Zwist vonnöten ist.

Doch ist Thomas Morus tief?«  (S. 52) 

Jessenin-Wolpins Gedichte, besonders die im Gefängnis verfaßten, sind voller Tragik, voll von Protest und leidenschaftlicher Empörung:

»Gebrochen das Herz, vergessen die Leidenschaft —
Getrennt hat uns eine fremde Macht (...)

... Jetzt bist du in der Verbannung und ich im Gefängnis,
Die ganze Nacht bei Licht, den ganzen Tag im Dunkeln,
Zusammen mit Räubern, zusammen mit Dieben,
Zusammen mit Popen und Professoren.

... Sinnlos die Frage: warum? wofür
Bist du hinter der Wolga, und ich im Gefängnis?« (S. 64-6)

»... Die Soldaten wollten mir den Grund nicht nennen, 
Und verhört hat man mich diesen Morgen nicht... 
Warum also droht mir jetzt das Ende —
Doch nicht etwa wegen meines Hangs zur Feder?!« (S. 72)

Aber Verzweiflung drücken sie nicht aus; der Dichter zeigt stoische Ruhe und findet sogar den Mut zu scherzen:

»Ich bin zufrieden — schließlich hab ich heute
In der Lubjanka den berühmten Knast gesehen!« (S. 74),

und tröstet sich mit dem sarkastischen Gedanken:

»Zumindest werd ich dereinst nicht irrtümlich
Mit Kommunisten auf demselben Friedhof liegen!« (S. 74).

Die bittere Ironie dieser Zeilen sprach vor allem die rebellisch gestimmte Jugend an, und gerade dieser letzte kurze Zweizeiler war sehr beliebt und wurde oft zitiert.

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wikipedia  Alexander_Jessenin-Wolpin  1924-2016

wikipedia  Sergei_Alexandrowitsch_Jessenin  1895-1925

dlf  125-geburtstag-von-sergej-jessenin-der-pop-poet-der-zarin 2020

 

Bei Jessenin-Wolpin ist besonders hoch zu schätzen, daß er zu den wenigen Unerschrockenen gehörte, die in jener Zeit inmitten von Angst und Apathie als erste den Mut hatten, sich offen zu äußern. Sein Verhalten verdient größte Bewunderung. Als er sein Buch in den Westen gab, schrieb er in der Erwartung neuer Repressionen: »In der beispiellosen allumfassenden Heuchelei besteht unsere tiefste Tragödie. Ich will mich diesem Schicksal (der Verhaftung) nicht entziehen, weil ich in unserem Land erst dann mit mir und meinem Tun zufrieden sein kann, wenn ich spüre, daß es mir gelungen ist, die Heuchler und Kleinmütigen in Verwirrung zu stürzen.« (S. 4)

Jessenin-Wolpins Buch endet mit den stolzen Worten: »In Rußland gibt es keine Freiheit der Presse — doch wer will behaupten, daß es hier keine Freiheit des Denkens gebe?« (S. 170)

 

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NARIZA

 

Im August 1960 versuchte in der Leningrader Eremitage der fünfzigjährige Maler und Bildhauer Michail Nariza einer französischen Touristin einen Packen mit dem Manuskript seines Romans »Nespetaja pesnja« (dt. Ein ungesungenes Lied) zu übergeben, doch die Französin bekam es mit der Angst und ließ das Päckchen zu Boden fallen. Beide wurden festgenommen und von der Miliz verhört, doch weil sowohl Nariza als auch die Französin erklärten, sie wüßten nicht, wem das Päckchen gehöre, mußte man sie gehen lassen.

Einige Zeit später machte Nariza erneut den Versuch, das Manuskript ins Ausland zu schmuggeln, und diesmal gelang es. Sein Roman wurde im Westen zuerst unter dem Pseudonym Narymow4 veröffentlicht, später dann unter seinem richtigen Namen.5 Kurz nach der Veröffentlichung wurde Nariza verhaftet und in der psychiatrischen Gefängnisklinik interniert. Seine Verhaftung, das Verhör und die Zwangseinweisung in die Psychiatrie hat er in einer eindrucksvollen Skizze unter dem Titel »Prestuplenije i nakasanije« (dt. Schuld und Sühne) geschildert.6

https://dissidenten.eu/laender/russland/oppositionsgeschichte/3/

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Narizas Roman Ein ungesungenes Lied ist der schmucklose Bericht des Autors über sein eigenes Leben, über das, was er erlebt und erlitten hat: Kindheit in einem Dorf bei Pskow, Studium an der Kunstakademie in Leningrad, »Entkulakisierung« des Onkels durch mißgünstige Nachbarn, Austritt aus dem Komsomol, Verhaftung, nächtliche Verhöre; Grübeleien im Gefängnis und Gespräche mit den Zellengenossen, die ihm zu begreifen helfen, was im Lande vor sich geht; und schließlich das Lager. 

Der Roman endet damit, daß bei der Frau des Helden, die man nach seiner Verhaftung verbannt hatte, der aus dem Lager heimkehrende ehemalige Zellen­genosse ihres Mannes auftaucht und ihr die Nachricht von dessen Tod überbringt. Nariza selbst freilich ist aus dem Lager zurückgekehrt, und seine Qualen fanden nicht so rasch ihr Ende wie die seines Helden. Nachdem er fünf Jahre im Lager von Uchto-Peschtschersk abgesessen hatte (1935-1940), wurde er in ein Arbeitsbataillon gesteckt, nach einem halben Jahr wegen Invalidität entlassen, 1948 aus dem Gebiet Archangelsk, wo er mit seiner Familie lebte, ausgesiedelt; 1949 zum zweitenmal verhaftet: ein Jahr Gefängnis, dann Verbannung nach Karaganda; 1957 rehabilitiert und freigelassen. 1961 neue Verhaftung und auf drei Jahre Zwangseinweisung in eine psychiatrische Spezialklinik; nach der Entlassung unstetes Umherziehen und Verfolgung durch das KGB.

Nariza ist kein Schriftsteller von Beruf; in seinem Roman finden wir weder ausgefeilten Stil noch einen reichen Wortschatz — nur der Drang, laut auszu­sprechen, was er erlitten hatte, ließ ihn zur Feder greifen, ein Drang, der um so brennender war, als es verboten ist, über seine Leiden zu sprechen, und da alles, was im Land gedruckt wird, nur dazu dient, diese Leiden zu maskieren, zu verbergen, zu verschweigen.  

Die ganze Schuld des Romanhelden besteht darin, daß er aus dem Durchschnitt hervorsticht, ein Mensch von unabhängigem Tun und Lassen ist, seine eigenen Ansichten hat.

Gegen die Unterdrückung der Individualität steht Nariza auf, gegen die Vergewaltigung der Persönlichkeit.

»Bis heute ist das Wesen des Stalinismus nicht richtig begriffen worden«, schreibt Nariza in seinem Testament; er beschloß im Oktober 1973, sein Testament zu schreiben, weil er aufgrund der unablässigen Verfolgungen durch das KGB — es ging so weit, daß er zusammengeschlagen wurde — glaubte, mit dem Schlimmsten rechnen zu müssen. 

»Der Stalinismus war — und ist — in erster Linie eine Massenorgie der Vernichtung all dessen, was — egal ob weit oder nur ein wenig — geistig über das Mittelmaß herausragt. Vergeßt nicht, daß der von Neid erfüllte Durchschnitt diese Vernichtungsarbeit mit Vergnügen verrichtet, wenn er dazu ermuntert wird.«7

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Tarsis

Die jungen Dichter, die zu Beginn der sechziger Jahre in den ersten literarischen Untergrundzeitschriften ihre Gedichte veröffentlichten, fanden einen Freund, Mitverschworenen und in gewissem Sinne sogar einen Beschützer in Walerij Tarsis. Tarsis ist sowohl in der Sowjetunion als auch im Ausland sehr bekannt geworden, nachdem er 1962 einige seiner Werke, die zuvor im Samisdat zirkulierten, in den Westen gelangen ließ und daraufhin verhaftet und in einer psychiatrischen Klinik interniert wurde. Der Fall Tarsis lenkte erneut, so wie seinerzeit die »Affäre Pasternak«, die Aufmerksamkeit der Weltöffent­lichkeit auf die Lage der Schriftsteller in der Sowjetunion; von Tarsis war in den Zeitungen zu lesen, im Rundfunk zu hören.

Seine erste im Westen veröffentlichte Erzählung trug den Titel Skasanije o sinej muche (dt. Die blaue Fliege)8. Es ist eine Satire auf die sowjetischen Ideologie­funktionäre am Beispiel eines philosophischen Forschungsinstituts: Der Held der Erzählung, Iwan Sinemuchow, verfaßt einen aufrührerischen philosophischen Traktat, es kommt zum Konflikt mit den Kollegen und mit der Institutsleitung. Seinen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik schilderte Tarsis in der Erzählung »Palata Nr. 7« (dt. Botschaft aus dem Irrenhaus)9. Im Februar 1966, unmittelbar vor Beginn des Prozesses gegen Sinjawskij und Daniel, wurde Tarsis aus der Sowjetunion ausgewiesen.

Einen besonderen literarischen Wert haben Tarsis' Bücher in meinen Augen nicht; zugleich ist jedoch unbedingt anzuerkennen, daß Tarsis für den Kampf um die Freiheit einen wichtigen Beitrag geleistet hat.

 

Welskij

Zusammen mit den Romanen von Tarsis zirkulierten im Samisdat die anonym verfaßten »Otkrowenija Viktora Welskogo« (Die Offenbarungen des Viktor Welskij), die in ihrer Tiefe und Bedeutsamkeit von einer authentischen Begabung zeugten.

Tarsis und »Welskij« teilten sich gleichsam die Rollen: Des einen Sache war der praktische Alltagskampf, des anderen Sache die künstlerische Gestaltung. 

Es ist sehr gut möglich, daß die »Offenbarungen Welskijs« von einem der offiziellen Sowjetschriftsteller stammen, der sich, bis heute unerkannt, vielleicht nach wie vor sämtlicher Segnungen und Privilegien erfreut, mit denen die Machthaber ihre getreuen Barden belohnen, und sich auf seiner Luxusdatscha im Schrift­steller­vorort Peredelkino ins Fäustchen lacht.

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Jurij Galanskow, der die »Offenbarungen Welskijs« in der von ihm herausgegebenen illegalen Literaturzeitschrift »Feniks-66« veröffentlichte, nannte das Buch »ein bedeutendes Denkmal unserer Nationalliteratur«. Michael Scammell, der Herausgeber einer in England erschienenen Sammlung von Samisdat-Texten,10) und der englische Literaturwissenschaftler Max Hayward, der das Vorwort dazu schrieb, halten die »Offenbarungen« für eines der bedeutendsten Werke der russischen Literatur jener Zeit. 

Das Buch besteht aus drei Teilen:

Der erste Teil ist eine Beichte des Helden, ein Bericht über sein Leben; den zweiten Teil nennt Welskij selbst »mein Evangelium und meine Apokalypse«, denn »grundsätzlich hat jeder Mensch ein Anrecht auf seine frohe Botschaft (...) Er hat ja etwas mitgebracht in die Welt. Er hat seine Reinigung, seine Martern, seine Leidensstationen, er betet, daß der Kelch des unentrinnbaren Todes an ihm vorübergehen möge, und er wird viele, viele Male gekreuzigt«11. Dieser Teil ist die Frucht der quälenden Reflexionen Welskijs, seine Auffassung vom Leben und von der Welt, seine Philosophie, seine Offenbarung. Und schließlich der dritte Teil — die hinterlassenen Aufzeichnungen des Wiktor Welskij.

Welskijs Geschichte ist tragisch. Seine Studentenzeit fällt in die letzten Jahre des Stalinschen Terrors (die Atmosphäre dieser Jahre ist sehr gut wiedergegeben). Welskij steht einem Kreis von jungen Leuten nahe, die ebenso frei denken wie er. Als einer der Freunde verhaftet wird, begreift Welskij, daß auch ihm die Verhaftung bevorsteht. In seiner Wohnung sind Manuskripte von einem der Mitglieder des Kreises aufbewahrt. Es gibt nur einen Weg, der Verhaftung zu entgehen: die aufrührerischen Manuskripte selber der Staatssicherheit zu übergeben. Welskij rechnet sich aus: »Ganz gleich, was ich tue — sie werden sowieso alle umkommen. Dann soll sich wenigstens einer retten.« (S. 10-11)

Und Welskij begeht den Verrat und rettet so sein eigenes Leben. Er macht dabei eine tiefe innere Krise durch, und als das Innenministerium ihm vorschlägt, geheimer Informant zu werden, lehnt er ab, obgleich er weiß, daß er dafür ins Gefängnis kommen kann — ja fast wünscht er sich das sogar, weil er auf diese Weise seine Schuld sühnen kann. Der Verrat bewahrt Welskij vor der Verhaftung, aber nicht vor den Repressionen an der philologischen Fakultät, und er wird bald gezwungen, von der Universität abzugehen. Nach Stalins Tod erhält er die Erlaubnis, sein Diplom zu machen; er kommt dann durch Bestechung beim Rundfunk in der deutschsprachigen Redaktion unter. 

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Dort hält er seine Gedanken und Sympathien geheim, bemüht sich, nicht im geringsten aufzufallen — und endlich, nach vierjährigen Bemühungen, erreicht er sein Ziel: eine Touristenreise in die DDR. In Berlin will er sich in den Westsektor absetzen. Vor seiner Abreise schreibt Welskij in sein Tagebuch: 

»In meinem Land kann ich nicht leben. Das bestehende System widerspricht meinen Überzeugungen, meiner Menschenwürde (...) In der Jugend, der heiligsten Zeit im Leben des Menschen, haben sie mir die Seele besudelt, mich zum Verräter, zum Zyniker gemacht. Ich wurde wie jeder andere normale Mensch mit einem Herzen geboren, das für alles Gute offen war. Aber sie haben mir einen Eisblock ins Herz gelegt, wie im Märchen, und mein Herz ist erstarrt. Ich konnte einmal die Menschen lieben, aber ich fing an sie zu hassen. Es drängte mich zu arbeiten, ich wollte denken und schreiben, doch ich mußte meine Gedanken verstecken und das Vorgeschriebene hinpfuschen. Der Marxismus ist mir immer fremd geblieben; mein Interesse galt immer den tieferen, ewigen Fragen des menschlichen Geistes — hier hatte ich Einsichten, aber ich konnte sie keinem anvertrauen (...)

Ich kann nicht in einer Diktatur leben, in einer Gesellschaft ohne Freiheit, wo alle Rechte des denkenden Individuums mit Füßen getreten werden (...) Mein Platz ist in der freien Welt. Dort, wo der Mensch seine Gedanken und Taten nicht geheimhalten muß, wo es dieses immerwährende Gefühl der Angst und Erniedrigung nicht gibt (...) Ich, der ich in diesem System geboren bin und unter ihm gelebt habe, der ich es durchschaut und am eigenen Leibe erlitten habe, bin sein Feind geworden (...) Was wir alle um uns herum erleben, ist der Zusammenbruch eines gigantischen sozialen Experiments. Die Menschen wollten ein besseres Leben, aber am Ende stand der Polizeistaat. Die Ideen der größten Freiheit verkehrten sich in die schlimmste Unterdrückung. Die Ideen der vollkommensten Gerechtigkeit führten zu einem Meer von Blut (...) Mir bleibt nur eins — die Flucht (...) 

Oh, wie froh werde ich sein, wenn ich eure Zeitungen nicht mehr lesen muß, nicht mehr euer verlogenes Radio hören muß, eure verlogenen Reden und Lobeshymnen, nicht mehr selber lügen und schauspielern muß (...) Sie können mein Manuskript ruhig finden, es wird zu spät sein (...) Lest es, dann wißt ihr, wie unsere — nein: wie eure Gesellschaft sich ihre Feinde heranzüchtet. Und solche Feinde, schweigende und passive, gibt es zur Genüge, das weiß ich. Die habt ihr produziert, eure Phrasen, eure Götzenkulte, euer Terror und eure Gefängnisse. Denkt nach, ich rate euch noch einmal: denkt darüber nach, wie die Ideen der höchsten Gerechtigkeit zur schlimmsten Gewalt über die Menschen werden konnten.« (S. 31-33)

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Wie sehr gleichen diese Sätze dem berühmten Brief an den sowjetischen Schriftstellerverband, den Arkadij Belinkow 1968, kurz bevor er in den Westen flüchtete, in Moskau zurückließ, ein Brief, der uns alle durch seine schonungslose Offenheit und durch die Vehemenz seiner Wut betroffen machte:

»Es ist mir entsetzlich, mit euch zusammen zu leben, eure Bücher zu lesen, auf euren Straßen zu gehen. Zum Glück gibt es nur noch eine einzige Verbindung zwischen euch und mir — und das ist die Mitgliedschaft in der schändlichen Organisation, die sich Verband der Schriftsteller der Sowjetunion nennt und die zusammen mit euren Hohepriestern von der Partei und eurer Ochrana* dem bettelarmen, unglücklichen, bejammernswerten, demütigen Volk das Leben vergällt. Diese Verbindung, diese einzige Berührung mit euch ruft bei mir Ekel und Abscheu hervor, und ich überlasse es euch, euch weiter zu berauschen an unerhörten Siegen, an Erfolgen, wie man sie noch nie gesehen hat, an Ernten, die man nie zu sehen bekommt, an überwältigenden Errungenschaften und phantastischen Beschlüssen — ohne mich, ohne mich.«12

Und genauso klang der Brief des Schriftstellers Anatolij Kusnezow, der 1969 nach England flüchtete:

»Ich kann nicht mehr dort leben... Ja: Ich kann nicht mehr. Wäre ich jetzt auf einmal wieder drüben in der Sowjetunion, ich würde den Verstand verlieren (...) Man kann sich wahrscheinlich keine schlimmere Strafe ausdenken: Das ganze Leben zittern, umherschwänzeln, gierig auf dem Sprung sein, daß man ja die neueste Richtlinie nicht verpaßt, Angst haben, daß man keinen Fehler macht. Mein Gott! (...) Ein Vierteljahrhundert lang habe ich von einem Glück geträumt, das für einen sowjetischen Schriftsteller unvorstellbar ist: frei und ohne Angst zu schreiben. Nicht an Parteirichtlinien denken zu müssen (...) nicht jedesmal zusammenzuzucken, wenn es an die Tür klopft. Keine Manuskripte in die Erde vergraben, kaum daß die Tinte getrocknet ist(...) Oh, wieviele Löcher hab ich ausgehoben, um Konservengläser mit <gefährlichen> und zweifelhaftem Manuskripten zu vergraben (...) Als sicherer Safe hat mir die russische Erde gedient.«13)

Und genauso klingen die Erklärungen vieler, vieler anderer Sowjetbürger, die, oft unter Lebensgefahr, ins Ausland geflohen sind.

* »Ochrana» hieß die zaristische Geheimpolizei. AdÜ 

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Welskij kommt in Berlin an, geht hinüber in den Westsektor (damals gab es die Mauer noch nicht), wandert einige Stunden durch West-Berlin, schaut sich die Menschen aufmerksam an, macht seine Beobachtungen — und geht wieder zurück. 

»Ja, am Ende ist es wirklich so: Ein Russe kann nicht leben ohne die Heimat! Und ich bin Russe! Auch in meiner Unzufriedenheit bin ich Russe, auch in meinem Verlangen nach einem Ideal und nach Gerechtigkeit — bin ich Russe! (...) Dieses Bewußtsein, daß ich untrennbar mit meiner Heimat zusammengehöre, flammte wie eine Offenbarung in mir auf (...) Von diesem besänftigenden, plötzlich gewonnenen Gefühl kamen mir die Tränen, alles verschwamm vor meinen Augen. Ich hatte auf einmal für eine gewisse Zeit etwas Reines, etwas Geistiges und Ideales gewonnen, das mir keiner mehr nehmen konnte.« (S. 33-35)

Welskij zieht sich in sich selbst zurück, er flieht vor der Welt, die ihn anwidert, wo Verlogenheit, Oberflächlichkeit und Sinnlosigkeit herrschen. Er geht kaum noch aus dem Haus, lebt von dem Geld, das er für den Verkauf der Bibliothek seines Onkels bekommt, grübelt ganze Tage lang über den Sinn des Lebens, über das Geheimnis des Todes, über die Rätsel des Daseins. In dieser strengen Askese, im angespannten Kampf gegen seine Ängste und Zweifel wird er von Offenbarungen erleuchtet, die er in sein Tagebuch niederschreibt. Über diese Offenbarungen kann man natürlich lachen, so wie man im übrigen über die Offenbarungen aller Propheten lachen kann, denn nicht die logische Stimmigkeit oder die beweiskräftige Überzeugung lassen eine Offenbarung bedeutsam werden, sondern allein die Intensität und Aufrichtigkeit, mit der sie erlebt wird (und die wird man Welskij nicht absprechen können), sowie die innere Einstellung und Anteilnahme der Zeugen des Geschehens, die der Offenbarung den Charakter eines historischen Ereignisses geben.

Die Grundfrage, die Welskij quält, ist die Sinnlosigkeit des Lebens im Angesicht des unentrinnbaren Todes. Eine banale Frage, Tausende Male gestellt und doch ewig neu — vor allen Dingen aber neu für die sowjetische Literatur, wo der Tod zu den verbotenen Themen gehört. In diesem im Untergrund entstandenen Buch wendet sich die russische Literatur wieder offen und ohne Umschweife der Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Tod und nach der Existenz Gottes zu. 

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Die marxistische Doktrin, welche die sowjetische Literatur beherrscht, ignoriert die Tragödie des Todes. Der einzelne Mensch soll dem Marxismus zufolge den Sinn seines Daseins im Dienst an der Menschheit und am Fortschritt erblicken, doch Welskij läßt diese Logik mit einem einzigen einfachen Argument zusammenstürzen: Die Menschheit hat irgendwann einmal ein Ende, ist ebenso sterblich wie der einzelne Mensch; die Wissenschaft hat sogar exakt die Grenze für die Existenz des Sonnensystems nachgewiesen, und das Leben der gesamten Menschheit wäre daher ebenso wie das Leben jedes einzelnen Menschen zur tragischen Sinnlosigkeit verdammt, wenn es nicht noch einen anderen, tieferen Sinn hätte als den der zeitbedingten Verbesserung und Fristverlängerung. 

Da der Marxismus darauf keine überzeugende Antwort zu geben vermag, ist es verboten, diese Frage in der sowjetischen Literatur aufzuwerfen. So erhebt sich Welskij nicht nur gegen die Politik der sowjetischen Führer oder gegen Mißstände in der sowjetischen Gesellschaft, sondern gegen die Grundlagen, auf denen diese Gesellschaft erbaut ist.

»Ich sage: Man kann nicht leben, solange der Tod existiert. Der ganze Sinn der menschlichen Existenz wird durch ihn zunichte gemacht (...) Die Menschheit steht vor einer gewaltigen Alternative : Entweder besiegt sie den Tod, oder der Tod besiegt sie. Nach dem Gesetz der Natur steht die Antwort bereits fest, und doch glaube ich, die Menschheit wird immer danach streben, den Tod zu besiegen. Eine höhere Aufgabe gibt es für sie nicht und kann es nicht geben. Hier ist das A und O, hier enden alle Religionen und alle Wissenschaften, und es beginnt ein neuer Himmel und eine neue Erde — die unserer Vorstellungskraft unerreichbar bleiben.« (S. 48)

Welskij selbst bekennt sich freilich zu keiner der bestehenden Religionen. Er, der in der Atmosphäre des erzwungenen Atheismus erzogen wurde, der an der Universität so viele Prüfungen über »wissenschaftlichen Atheismus« ablegen mußte, der von allen religiösen Traditionen und geistlichen Wurzeln abgeschnitten ist, muß sich seinen Weg des Heils selber suchen: »Ich weiß gar nichts, ich bin kleinmütig und schwach, ich schwanke hin und her, wo die Wahrheit sei, ich quäle mich und suche« (S. 57). »Ich bin kein Atheist, denn ich glaube an die Existenz von Werten, die höher stehen als der Mensch (...) Ja, ich liebe und ich verfluche Gott, die gewaltigste Hypothese, die die Menschheit aufgestellt hat — dafür, daß man ohne sie nicht auskommen kann.«

Welskijs Ende ist tragisch; sein Zusammenstoß mit der Gesellschaft endet mit seinem Untergang. Die Miliz beginnt ihn als »arbeitsscheues Element« zu verfolgen, die eigene Mutter läßt ihn für verrückt erklären und bittet um seine Einweisung in eine Heilanstalt.

In den »Offenbarungen des Viktor Welskij« hat wirklich ein Sohn seiner Zeit die Beichte abgelegt; es ist ein menschliches Dokument von großer Aufrichtigkeit, Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit.

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Die Bücher von Alexander Jessenin-Wolpin, Michail Nariza und Walerij Tarsis sind sicherlich bei weitem nicht das Beste, was uns die Untergrund­literatur gegeben hat. Kämen diese Bücher heutzutage heraus, wo schon ein ganzes Meer von Samisdatliteratur sichtbar geworden ist und der Samisdat sich in seinen Ideenrichtungen und Strömungen derart entwickelt und an Tiefe und Dichte gewonnen hat, daß mir die Äußerungen von Nariza, Jessenin-Wolpin und Tarsis heute wie schlichte Trivialitäten vorkommen wollen — wenn diese Bücher heute erschienen, würden sie womöglich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

Doch die Bedeutung, die sie für ihre Zeit gehabt haben, bleibt unverändert wie die Bedeutung und das Verdienst aller Pioniere, denn mögen sie auch nicht die besten sein, sie sind doch die ersten. Indem sie eins ums andere die unumstößlichen Verbote ins Wanken brachten und das Bewußtsein der Gesellschaft wachrüttelten, bereiteten sie der stürmischen Reaktion der Öffentlichkeit auf den Prozeß gegen die Schriftsteller Sinjawskij und Daniel den Boden — jenen Prozeß, der sich zu einem weithin sichtbaren Skandal auswuchs.

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wikipedia  Georg Wlad. Iwanow  *1894 im heutigen Westlitauen bis 1958

 

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 Juri Malzew 1981