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11. Troubadoure 

Galitsch     Okudschawa     Wyssozki   Kim

 

207-221

Die abnormen, verfehlten Bedingungen, unter denen heute die Kultur in Rußland existieren muß, bringen auch außergewöhnliche, in anderen Ländern für unser Jahrhundert unbekannte Formen der Kunst hervor: Lieder von Sänger-Poeten des Untergrunds und heimlich gesungene Volkslieder. Die Kontrolle der Machtorgane über jegliche Art von künstlerischen Ausdrucksformen und der Druck auf die Künstler, die jedes Zugangs zu den modernen Medien der Massenkultur beraubt sind, zwingt die Kunst, zu homerischen, prähistorischen Formen, zur mündlichen Überlieferung zurückzukehren. 

Dieses mündliche Kunstschaffen hat im übrigen auch seine Vorzüge; es schafft wirklichen Kontakt und Zusammenhang zwischen den Menschen, es stellt die unmittelbaren, natürlichen Gemeinschaftsbande, die zerstört waren, wieder her — es entsteht letztlich überhaupt erst durch das Bedürfnis nach solcher Gemeinschaft. In dem Maße, wie die offizielle Ideologie sich immer weiter zersetzt und das letzte Vertrauen verliert, spüren die Machthaber, daß es unmöglich ist, die Menschen zu zwingen, an die offizielle Propaganda zu glauben, und so fordern sie von ihnen nur noch die Beachtung des äußeren Dekorums, der Spielregeln, wenn man so will — und die Menschen werden immer kühner.

Wenn man früher nur im engen Freundeskreis offen zu reden wagte, werden heutzutage schon antisowjetische Witze hinter dem Rücken der Vorgesetzten am Arbeitsplatz erzählt; auf den abendlichen Zusammenkünften der Jugend tragen die nichtoffiziellen Poeten ihre Lieder vor vielen Menschen vor, und die Jugendlichen singen im Chor mit. 

Geht man sonntags an irgendeinem Arbeiter- oder Studentenwohnheim vorbei, kann es geschehen, daß man durchs offene Fenster in voller Lautstärke einen der »Troubadoure« vom Tonband hört. Wenn bekannt wird, daß an dem und dem Abend Galitsch oder Wyssozkij bei jemand zu Gast sein werden, dann ist die Wohnung gedrängt voll von Menschen, eng beieinander stehend lauschen sie den ganzen Abend mit gespannter Aufmerksamkeit und innerer Bewegung den Liedern. 

Mehr als jede andere Kunstgattung wirkt das Lied emotional, schafft ein Gefühl der Gemeinschaft und Nähe. 

Wenn die Stimme des Dichters und Sängers unmittelbar an die Anwesenden gerichtet ertönt oder wenn alle im Chor den Refrain eines namenlosen Lagerliedes anstimmen, breitet sich unter den Zuhörern das Gefühl aus, endlich wieder frei atmen zu können, ein Gefühl von Kühnheit und Menschenwürde, es ist eine vernehmliche Herausforderung an die Despotenmacht.

Der jugoslawische Schriftsteller Mihajlo Mihajlov, der einmal einen solchen Abend in Moskau miterlebte, war tiefbewegt. 

»Ich hatte niemals angenommen, daß es so etwas in der UdSSR gibt. Das waren Gefangenen-Lieder besonderer Art: scherzhafte, verzweifelte und zynische. Aber alle waren erschütternd und großartig. Aus ihnen sprach Rußland, jenes Rußland, das wir aus den Werken Tolstojs und Dostojewskijs kennen; das echte, ursprüngliche Volksmelos, nicht stilisiert, wie wir es aus den sowjetischen Rundfunkstationen hören, sondern ungehobelt, manchmal naiv, aber immer tief, ursprünglich melodiös und tragisch.« — »Das ist zweifellos das bedeutendste folkloristische Schaffen unserer Zeit, und es ist verständlich, daß es gerade in Rußland entstanden ist.«1

Rußland dürfte wohl das einzige Land der Welt sein, wo in unseren Tagen Angehörige der Intelligenz — Wissenschaftler, Doktoren und Professoren — bei ihren Zusammenkünften Gefängnislieder singen. Sie zollen damit den Gefolterten und im Lager Umgekommenen das ehrende Gedenken, sie drücken ihre Solidarität mit den Verfolgten und Gejagten aus und zugleich auch etwas von ihren eigenen Empfindungen, denn jeder anders und frei denkende Mensch in Rußland fühlt sich heute verfolgt und unterdrückt, sieht sich als potentiellen Insassen eines Konzentrationslagers. 

Und die Verfasser jener verbotenen Lieder genießen nicht deshalb solche Popularität, weil sie etwa überragende Begabungen wären, deren Kunst wie eine Offenbarung wirkte, sondern weil sie die Anschauungen und Gefühle, die in der ganzen sowjetischen Gesellschaft zur Reife gelangt sind, in die richtigen Worte und Stimmungen zu kleiden verstehen. Das individuelle Schaffen des Sänger-Poeten trägt in gewisser Hinsicht kollektiven Charakter — es ist auf die Mitwirkung des Publikums angewiesen. Daher lassen einen viele Lieder dieser »Troubadoure« ganz unbeeindruckt, wenn man sie nicht gesungen hört, sondern als Gedichte liest, und man begreift gar nicht, warum sie so erfolgreich sein können. 

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   Alexander Galitsch 

Der populärste Autor solcher unzensierten Lieder ist Alexander Galitsch.2) Seine Verse kennt das ganze Land; von ihm selbst auf Tonband gesungen, werden sie Tausende Male überspielt und als <Tonband-Samisdat> weitverbreitet.  

Die beherrschende Emotion in Galitschs Liedern ist — Empörung. Er empört sich dagegen, daß alle unterwürfig schweigen und keiner den Mut hat, gegen die Bedrückung und die alles beherrschende Lüge aufzustehen:

»Wir haben nicht geglaubt, was Herz und Kopf uns sagten; 
Um zuverlässig zu erscheinen, weggeschaut; 
So viele Male immer neu gelogen, 
Nicht dagegen natürlich — dafür!« 
(<Goldgräberwalzer>)

Ihn empört die Gleichgültigkeit und Herzensträgheit der »schläfrigen« Menschen, die sich an die Gemeinheit, Ungerechtigkeit und Gewalt gewöhnt und ihren Frieden mit ihnen gemacht haben:

»Zorn zeigen wir schon lang nicht mehr, 
Nicht einmal mehr Mißbilligung: 
Entbieten Schuften freundlich unsern Gruß, 
Lassen Spitzeln Ehre widerfahren.
...
Wir leben, ohne zu den Lebenden zu zählen ... 
<Verzicht auf Widerstand> für das Gewissen 
Ist wahrlich die bequemste aller Schrullen!«
(<Der Zug>)

Mit Empörung spricht er von dem geistigen Tiefstand der Gesellschaft, deren Merkmal die Gewissenlosigkeit, die Feigheit und die Lüge sind:

»Für uns ist Ehre oder Gott und auch der Teufel 
Ein unbekanntes Ding! 
Für uns gibt's Anerkennung und Respekt 
Für unsre Treue zu der herrschenden Gemeinheit!« 
(<Das jetzige und das verflossene Zeitalter>)

Er empört sich gegen die Vorherrschaft des »Beamtenpacks der neuesten Art«, das die Gesellschaft regiert, über das Leben der Menschen verfügt, Privilegien genießt und, bewacht von »breit-fressigen Leibwächtern«, die diese »gesichtslosen Führer« vor ihrem eigenen Volk schützen, im Luxus auf »Staatsdatschas« lebt;

*d-2014   wikipedia  Alexander Galitsch  (1918-1977, 59; möglicherweise Mord durch KGB)      wikipedia  Samisdat#Magnitisdat 

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er empört sich gegen die ergebenen Diener dieses Regimes, wie Jewtuschenko, diese »Marionette, die sich lebend stellt«, die »hündisch mit dem Schwanze wedelnd«, mal nach rechts und mal nach links Haken schlägt (»An Jewgenij Jewtuschenko«); empört sich dagegen, daß in einem Land, wo Millionen Menschen in Konzentrationslagern gefoltert wurden, kein einziger der Schuldigen zur Verantwortung gezogen wird, daß »Tränen und Blut vergessen« sind, daß die Peiniger unbehelligt unter ihren Opfern leben dürfen. 

Den Gedenkstätten von Auschwitz und Buchenwald werden offizielle Besuche abgestattet; jedoch:

»In der Taiga in Sibirien, an der Kama und am Ob —
Keine Kränze, keine Fahnen kriegen die aufs Grab gelegt!« 
(<Ballade von der ewigen Flamme>)

Doch die Empörung weicht auch oft dem Mitleid mit den schwachen, unglücklichen Menschen, denen die Kraft fehlt, etwas an der bestehenden Ordnung zu ändern — jenem betrogenen und gedemütigten »werktätigen Volk«, von dem tagtäglich die sowjetische Propagandamaschine tönt:

»Ich habe euch lieb, eure Augen und Lippen und Haare, 
Euch Müde, die ihr altgeworden vor der Zeit, 
Euch Verkümmerte, die man in Zeitungskolumnen 
Täglich rühmt mit schamlosen Fanfaren.«
(»Liebeserklärung«)

Von dem Schicksal dieser kleinen Leute wird in diesen Liedern voll Mitgefühl erzählt, und einige von ihnen sind wahrhaft tragisch. So zum Beispiel das Lied von dem unglücklichen Familienvater (»Farce-Guignol«), den die Armut zur Verzweiflung treibt:

»Dies muß man kaufen und das muß man kaufen, 
Das Wassertrinken ist auch nicht umsonst, 
Und erst Käse und Tee oder Leberwurst —
Hier ein Kopekenstück, dort ein Kopekenstück, 
Aber mal sind sie alle — und dann?«

und der sich das Leben nimmt, nachdem die Unterstützungskasse es ablehnt, ihm Geld auszuzahlen:

»Die Kasse hätte dir geholfen — aber
Jeder Rubel: Überholt Amerika!
In Rücksicht dessen sehn wir uns gezwungen ...
Doch seien Sie auch unsres Mitgefühls versichert...«

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Galitsch hat auch wundervolle Lieder voll lyrischer Empfindsamkeit geschrieben, wie zum Beispiel »Wolken«, »Das Lied von der schönen Frau«, »Ein erfahrener Historiker...«, »Beim Anhören Bachs«.

Doch besonders trefflich gelingen Galitsch satirische Lieder. Hier hat er wirkliche Meisterwerke geschaffen. Die Erbärmlichkeit, das Grau-in-Grau des sowjetischen Alltags, der ermüdend harte Kampf ums Dasein, in dem jeder durch schlaue Betrügereien und Tricks sich seinen Vorteil zu ergaunern sucht, die von der offiziellen Propaganda belogenen Bürger mit ihren abstrusen Vorstellungen von der Welt und ihren unsinnigen Verhaltensnormen, Typen von Parteifunktionären, Spitzel, Beamte, Arbeiter, KGBler, unglückliche Hungerleider, die das harte, freudlose Leben dumpf ertragen — all das wird in seinen Liedern erstaunlich kundig und scharf geschildert. Mit ihren stimmigen Details, dem aphoristisch treffsicheren Ausdruck, den komischen Effekten eines unerwarteten Reims wirken die gestalteten Szenen ausgesprochen anschaulich. 

Die Geschichten, die seine Lieder erzählen, sind spannend und unterhaltsam (Galitsch ist berufsmäßiger Stückeschreiber; in den vierziger und fünfziger Jahren wurde auf den Bühnen des Landes vieles von ihm gespielt), die Personen sind sehr eindringlich und mit feinem psychologischen Verständnis gezeichnet; oft individualisiert Galitsch sie, indem er sie in direkter Rede sprechen läßt und sie mit einem Reichtum an charakteristischen Füllwörtern und Wendungen ausstattet.

Eines der besten Lieder dieser Art ist <Das rote Dreierkollegium>, in dem eine Frau durch einen anonymen Brief erfährt, daß ihr Mann sie betrügt, und von ihm verlangt, daß er auf der Parteiversammlung von seinem Fehltritt berichtet.

»Erstes Thema war: Freiheit für Afrika!
Ich kam später erst — unter <Verschiedenes>...«, 

erzählt uns der Held.

»Na, als dann Ghana dran war, stürzt sich alles auf die Würstchen,
Ich kaufte auch ein Kilo, hatte nicht mehr Geld, 
Als ich dann aufgerufen wurde, ging ich ein vor Schüchternheit, 
Doch aus dem Saal, da schreit's: <Wir wollen Einzelheiten!>«

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Aber der gewitzte Held weiß, was man in solchen Fällen zu erwidern hat:

»Ich sagte: mein moralisches Gesamtbild 
Zeigt den zersetzenden Einfluß des Westens.«

Darauf stiftet der Sekretär des Rayonskomitees der Partei wieder Frieden zwischen Mann und Weib, und beide gehen ins Restaurant und trinken »auf die sowjetische Familie — die vorbildliche«. Der in der Sowjetunion propagierte »Kampf gegen unmoralische Lebensführung« wird hier in seiner ganzen monströsen Amoralität gezeigt.

 

Großartig ist der Zyklus »Aus dem Leben des Klim Petrowitsch Kolomijzew, Werkmeister, Inhaber zahlreicher Auszeichnungen, Mitglied des Stadtsowjets«. In dem Lied »Wie Klim Petrowitsch eine Rede für den Frieden hielt« wird der Mechanismus der »einmütigen« Willensbekundung »des ganzen Volkes« gründlich entlarvt. Irrtümlich bekommt Klim Petrowitsch das falsche Redemanuskript in die Hand gedrückt und spricht alle seine flammenden Tiraden von Anfang bis Ende im Namen der Frauen*, aber die grammatische Unmöglichkeit wird von keinem einzigen überhaupt bemerkt — einen solchen Grad an Formalismus haben diese »Fensterreden« schon erreicht, die seit langem niemand mehr ernst nimmt.

In einem anderen Lied wird erzählt, »wie Klim Petrowitsch erreichen wollte, daß sein Betrieb den Ehrentitel <Betrieb der kommunistischen Arbeit> bekommt, und weil er es nicht erreichte, dem Trunke verfiel«. Schuld daran ist nichts anderes als das Produkt, das in Klim Petrowitschs Fabrik hergestellt wird: Sie produziert nämlich Stacheldraht — »für unser ganzes sozialistisches Lager« ... 

In dem Lied »Wie Klim Petrowitsch gegen die Wirtschaftshilfe für die unterentwickelten Länder auftrat« ist der Schluß verblüffend: Klim Petrowitsch, der Bestarbeiter, der Sowjetmacht treu ergeben, »Inhaber zahlreicher Auszeichnungen, Abgeordneter« usw., erzählt von seiner Reise nach Algier mit einer offiziellen Delegation, und plötzlich entschlüpft ihm:

»Das Leben im Ausland, es ist hundserbärmlich, 
Sogar noch schlimmer ist's, verzeiht! als unsres.«

* Im russischen Verbsystem gibt es für die Geschlechter verschiedene Endungen. Anm, d. Übers.

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»Sogar noch schlimmer«! Das Phänomen des »Zwiedenkens«, das George Orwell so eindringlich beschrieben und das der Samisdat-Philosoph D. Nelidow für die Sowjetunion ausführlich analysiert hat,3) ist hier mit erstaunlichem psychologischen Scharfblick eingefangen. Aber auch der ganze Klim Petrowitsch, dieser neue Sowjetmensch, hineingeboren in die sowjetische Epoche, in Unwissenheit gehalten und von der Propaganda belogen, der »seiner« Obrigkeit ergeben dient und dabei zugleich instinktiv die ganze Lüge und Ungerechtigkeit dieser Obrigkeit spürt — diese ganze Gestalt ist mit großer Eindringlichkeit und Überzeugungskraft porträtiert.

 

Die Schwankungen der sowjetischen Politik in der Frage der »Entstalinisierung«, ihre ganze Halbherzigkeit und Inkonsequenz enthüllt die tragikomische »Ballade, wie der Leiter des Antiquariats Nr. 22, Kopylew, beinahe den Verstand verlor«. Eine alte Frau bietet dem Antiquariat einen Stapel von Schallplatten mit Stalinreden an. Der Leiter gerät ins Schwitzen:

»Sie nehmen geht nicht, sie nicht nehmen auch nicht —
Ist er nun ein Genie, oder ist er es noch nicht mehr? 
Da steht auch Widersprüchliches in unserer Zeitung, 
Und überhaupt, man hört da so Verschiedenes ...« —

doch er findet einen Ausweg: Er nimmt der Alten die Platten ab und bezahlt sie aus eigener Tasche. Aber rasch verbreitet sich die Nachricht in der ganzen Stadt, und in Scharen schleppen ihm nun die Leute die gleichen Schallplatten ins Haus.

Den sowjetischen Antisemitismus nimmt die »Erzählung, die ich in der Bahnhofskneipe hörte« aufs Korn: Der Kommunist Jegor bekommt seinen Paß ausgestellt und läßt unter »Punkt fünf« zum Spaß »Jude« eintragen — und das hat im weiteren Verlauf des Liedes tragische Folgen.

Das Lied »Auszug aus der Reportage vom Fußballspiel zwischen Großbritannien und der Sowjetunion« enthüllt die Kehrseite des sowjetischen Sports, der der Politik und der Propaganda zu dienen hat.

Das Leben der sowjetischen herrschenden Elite, die schwer bewacht »hinter sieben Zäunen« lebt und, von zahlreichen Dienstboten umgeben, sich aller erdenklichen Privilegien erfreut, wird mit ätzendem Sarkasmus in vielen Liedern Galitschs dargestellt (»Hinter sieben Zäunen«, »Tonetschka« und andere).

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   Bulat Okudshawa  

Große Popularität genießen auch die Lieder Bulat Okudshawas, der die Tradition der »Großstadtromanze« wieder zum Leben erweckte. Im Unterschied zu Galitsch, der schauspielert und deklamiert, singt Okudshawa mit gedankenverlorener, verhaltener Stimme seine schwermütigen lyrischen Lieder vom nächtlichen Moskau mit seinen alten Gassen und Innenhöfen, wo die Wäsche an der Leine hängt und »wo an den Dächern rot das Blech«; von den Menschen dort, die traurig und einsam sind. Okudshawas Held ist

»ein Mensch, gedankenvoll und tief,
aller traurig-bittren Wissenschaften kundig.«

Er poetisiert und romantisiert den Alltag:

»Am Moskwa-Fluß, in der Tiefen Gasse, 
Schaun die Dulcineas aus den Fenstern, 
Warten auf die Feierabendheimkehr 
Der Don Quichottes.«

Diese Tendenz, die öd-grauen kümmerlichen Seiten des Lebens zu ignorieren, es zu verbrämen, ihm verborgene Schönheit oder gar Geheimnisvolles anzudichten —

»O Moskau im Morgengrauen, 
voll der Wunder« —,

diese Tendenz findet dankbare Resonanz bei jenem wenig anspruchsvollen Teil des Publikums, der nicht weiß, wie er sich sonst die verhaßte Realität erträglich machen soll oder wie er ihr den Rücken kehren kann.  

Die Poetisierung der Realität erreicht Okudshawa nicht nur durch innige Empfindsamkeit und romantische Schwermut, sondern auch, indem er vieles unausgesprochen, nebelhaft und vieldeutig beläßt, dessen eigentlichen Sinn wir nur erahnen können. Solche vieldeutigen Allegorien und Metaphern herrschen in vielen seiner populären Lieder vor, wie etwa »Der schwarze Kater«, »Der Papiersoldat«, »Das Schloß der Hoffnung«, »Nächtliches Gespräch«, »Wie man zeichnen lernt«, »Die magische Zwei« und andere.

In ebensolchen halben Andeutungen behandelt er auch politische Themen, die im übrigen bei ihm recht selten sind. So etwa über die Tragödie Polens:

»Es dauert nicht mehr lang, dann schreiben die Schüler von der Tafel ab,
All das, was uns heut aufzuschreiben das Zittern unsrer Hände hindert.«

  wikipedia  Bulat Okudschawa 

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Oder »Nur immer freundlich lächeln bei jedem Rippenstoß« — über das Erdulden der unvermeidlichen Verfolgungen durch die Machtorgane. Die abgeschmackten Lügen der offiziellen Demagogie und Inkonsequenzen der sowjetischen Propaganda werden in dem berühmten »Lied von den Dummköpfen« besungen:

»So ists nun mal Sitte in unserer Zeit —
Der Flut folgt immer die Ebbe, 
Auf jeden Klugen kommt ein Dummkopf, 
Ganz maßgerecht, eins für das andre.
.....
Ein jeglicher Kluger bekam eines Tags
Ein Etikett angeheftet.
Sie sind schon lange im Gebrauch, die Etiketten,
Im Dutzend gibts sie billiger.
Der Kluge wird <Dummkopf! Dummkopf!> geschimpft,
Die Dummköpfe aber — die sind nicht zu sehn!«

 

Der Krieg war für Okudshawa, der als Junge von siebzehn Jahren an die Front kam, eine entscheidende Erfahrung. Die Erinnerung an das, was er dort erlebte und erlitt, nimmt in seinem Schaffen breiten Raum ein. Er hat viele Kriegs- oder besser Antikriegslieder geschrieben, wie zum Beispiel das sehr verbreitete Lied »Ich nehme Helm, Gepäck und Mantel«:

»Ich geh und spiel mit dem Gewehr —
Man ist so leicht, so leicht Soldat! 
Ist etwas falsch, was geht das uns an? 
<Befehl der Heimat!> sagt man sich, 
Man ist nie schuld, das ist das schönste, 
Als ganz gewöhnlicher Soldat, 
Als ganz gewöhnlicher Soldat!«

Dieses Lied benutzte die sowjetische Propaganda für ihren »Kampf für den Frieden«. Der Autor mußte es freilich »Lied der amerikanischen Soldaten« nennen, damit das Publikum um Himmels willen nicht auf den Gedanken käme, daß der Text sich auch auf den sowjetischen Soldaten beziehen könnte. Die Behörden sind überhaupt bestrebt, bei Okudshawa mit Zuckerbrot und Peitsche zu operieren. Mal bekam er Verfolgungen und Repressionen hart zu spüren, und seine Lieder wurden als »Humanitätsgeklimper« verächtlich gemacht, dann wieder legte man es darauf an, ihn für die eigenen Zwecke zu domestizieren, indem man den unpassenden und unerquicklichen Pessimismus aus seinen Liedern eliminierte.

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    Wladimir Wyssozki  

Genau so verfuhr man auch mit einem anderen populären Liedermacher, mit Wladimir Wyssozkij. Doch während Okudshawa immer er selbst bleibt und seinen Stil und seine Thematik nicht verändert, sind Wyssozkijs in der Sowjetunion offiziell veröffentlichte Lieder ganz offenkundig pro forma geschriebene Auftragsarbeiten und unterscheiden sich kraß von seinen illegalen Liedern, die ihm Ruhm gebracht haben, denn im Unterschied zu dem melancholischen Okudshawa, den man nur da und dort ein wenig korrigieren muß, damit er auch offiziell akzeptabel wird, sind Wyssozkijs Lieder innerhalb der staatlich zugelassenen Kunst völlig undenkbar. 

Die Helden seiner Lieder sind Ausgestoßene, Menschen von ganz unten, deren Existenz verpfuscht ist, die am Leben zerbrochen sind: Prostituierte, Diebe, Säufer, Spieler, unbehauste Vagabunden, Häftlinge, die für nichts und wieder nichts ins Gefängnis gekommen sind, wie zum Beispiel jener Unglückliche, der im Zugabteil einem Mitreisenden sein Herz ausschüttete, ohne zu ahnen, daß sein Gegenüber ein Spitzel war (»Das Lied vom Reisegefährten«), oder jener andere Verzweifelte, den man ins Irrenhaus gesperrt hat (»Das Lied vom Irrenhaus«). Wyssozkij läßt seine Figuren selbst sprechen und vermag mit großer Meisterschaft die Ausdrucksweise, die Intonation, die Psychologie dieser Menschen wiederzugeben.

Die Tollkühnheit des Verzweifelten in ausweglosen Situationen, aufrechte Festigkeit und düsterer Galgenhumor, Zuversicht im Unglück und energischer Ton — all das drückt sich in Wyssozkijs Liedern aus und verleiht ihnen eine Anziehungskraft, die besonders auf die Jugend wirkt.

Selbst in den Liedern, wo Wyssozkij von Müdigkeit und allumfassender Enttäuschung singt, spüren wir keine Klagen, keine trauernde Melancholie, sondern eher etwas wie eine verbissene Anspannung:

»Ich bin es leid, bin es satt, bin es müde,
Ah, wie ist mir das Singen und Spielen verhaßt!
Ich will wie ein Unterseeboot auf den Grund gehn, 
So tief, daß ich nicht mehr zu peilen bin.«

 Wyssozki auf detopia 

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Wyssozkij ist wohl der nach seinen Themen und musikalischen Formen vielseitigste Liedermacher. Weit bekannt sind seine höchst geistvollen satirischen Lieder, in denen er unerschrocken zu politischen Fragen Stellung nimmt (»Der Valuta-Shop«, »Antisemiten«, »Das Lied von den Ausreisenden und Zurückkehrenden« und andere); interessant sind seine Märchenlieder (»Das Märchen vom wilden Eber«, »Vom Leibhaftigen« usw.).

In einigen seiner Lieder, wie in »Tichorezkaja«, »Lied vom neutralen Streifen« oder »Fröste«, erreicht der Lyriker Wyssozkij die Höhen wahrhaft großer Dichtkunst.

 

 

  Juli Kim  

 

Sorgfältige Ausarbeitung im Detail und feine Nuancierung des Tonfalls zeichnen die Lieder des populären Lyrikers Julij Kim aus. Bittere, vernichtende Ironie und ungewöhnlicher Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, verleihen ihnen eine außergewöhnliche Schärfe, weshalb viele Lieder lange Zeit als anonym zirkulierten (solche Vorsicht ist durchaus nicht überflüssig).

»Nicht ein Äpfelchen kann fallen in unsrer trauten Widerlichkeit.
Ach, Sowjetmacht du, Sowjetmacht — Freiheit und Brüderlichkeit!«

Die politische Verfolgung durch die Machthaber ist eines von Kims zentralen Themen:

»Die ordnungsgemäße Verhandlung 
Schert Richter und Staatsanwalt nicht. 
Die wolln nur durch Reden verschleiern, 
Daß längst schon das Urteil gefällt.«
(»Justizwalzer«)

Um Haussuchungen bei Angehörigen der Intelligenz geht es in dem scharfzüngigen Lied <Die Filzung>; den Prozeß gegen Galanskow und Ginsburg behandelt das Lied <Der Frost, der knackt wie ein MG>.

Allgemeinere und tiefere Betrachtungen über das heutige Rußland finden wir in dem bemerkenswerten Lied »Mein Mütterchen Rußland ging morgens zum Markt«.

Kim versteht es, einem Satz eine völlig unerwartete und verblüffende Wendung zu geben und sich mit diesem geistvollen Streich unfehlbar das einträchtige Gelächter des Publikums einzuheimsen — etwa wenn er ein bekanntes Kinderlied abwandelt:

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»Tra-ta-ta-, tra-ta-ta,
Wer wird denn da zum Knast geschleppt?
Katze, Zeisig, bunter Hund,
Petjuschka, der Streithahn,
Affenkind und Papagei —
Eine lustige Gesellschaft!
Eine lustige Gesellschaft
Wird da vorbeigeführt.«

 

Sehr bekannt sind auch die Lieder von Iossif Aleschkowskij; der Autor selbst ist es jedoch weitaus weniger, weil viele seiner Lieder anonym zirkulieren. So kennt zum Beispiel das ganze Land sein berühmtes »Lied von Stalin«, doch kaum einer weiß, daß Aleschkowskij sein Verfasser ist, und das Lied wird für namenlose Folklore gehalten:

»Genosse Stalin, Sie sind ein großer Gelehrter,
In allen Wissenschaften kennen Sie sich aus,
Ich bin nur ein schlichter sowjetischer Häftling,
Und mein Genosse nur der Wolf.

Warum ich hier bin — ich weiß es wahrhaftig nicht,
Doch die Ankläger sind offenkundig im Recht.

Ich sitze im gleichen Gebiet Turuchan
Wie Sie zu zaristischen Zeiten in Haft.

... Natürlich verstehe ich alles sehr gut:
Der Klassenkampf ists, der sich ständig verschärft

Im Regen, im Schnee, in Schwärmen von Mücken,
Wir sind in der Taiga von morgens bis nachts.

Sie bliesen hier einst jenen Funken* zur Flamme —
Verbindlichen Dank — ich wärm mich am Feuer.«

Der nachgerade Schweijksche Humor läßt tatsächlich an ein Volkslied denken und hat diese Strophen auch so populär wie ein Volkslied gemacht. Sehr beliebt ist auch Aleschkowskijs scharfzüngig-ironisches »Sowjetisches Osterlied«:

»Zum Glockenklang der Messer und der Gabeln 
Fällt uns der Duft des Osterkuchens an. 
Wie schön, daß man in diesem Wald von Flaschen 
Auch die Visagen unsrer Spitzel sieht.«

Außerdem kennt man von Aleschkowskij »Die Zigarettenkippe« und »Die Lesbierin«.

* <Der Funke> = <Iskra> war die Zeitschrift Lenins vor der Revolution. AdÜ 

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Weit verbreitet sind auch die Lieder der Untergrundpoeten Je. Kljatschkin, Ju. Wisbor, Antscharow, A. Gorodnizkij, A. Jegorow, L. Frajter, Ju. Kukin, A. Dulow, B. Almasowa, A. Chwostenko, A. Dolskij, N. Matwejewa, Je. Batschurin, B. Glasanow, L. Nachamkin, A. Genkin, A. Jakuschewa, A. Iwanow, M. Noshkin. 

 

Unübersehbar ist die Zahl der jungen, noch unbekannten »Troubadoure«, und sie wächst ständig. Diese Jungen tragen außer ihren eigenen Versen auch die Lieder vor, die im Volk gesungen werden, die moderne sowjetische Folklore. In erster Linie sind das scharfzüngige, boshafte Spottverse, die ebenso wie die umlaufenden Witze offenbar machen, mit welchen Augen das Volk die Machthaber betrachtet und wie genau es durchschaut, was tatsächlich im Land geschieht. Es genügt, den folgenden lakonischen Vierzeiler zu hören, um sich ein Bild von der Liebe des Volkes zu seiner neuen Regierung zu machen:

»Ein Sternlein fiel vom Himmelszelt, 
Glitzernd und kristallen. 
Chruschtschow, der ward uns grad so lieb 
Als wie der teure Stalin.«

Oder diese Spottverse, die nach Chruschtschows Sturz umliefen:

»Wir verblüfften ganz Europa, 
Unser Rußland gab sich schlicht, 
Kroch zehn Jahr lang in den Hintern, 
Und dann wars der rechte nicht. 
Doch das Volk vertraut der Führung, 
Und es wartet unbeirrt, 
Daß der folgende Parteitag 
Schon 'nen neuen finden wird.«

Und wie man das Sowjetregime einschätzt, zeigt der Vierzeiler:

»Rundum schön ist unser Banner: 
Links die Sichel, rechts der Hammer. 
Ob du erntest oder haust, 
Es kommt eh bloß Scheißdreck raus.«*

* Besonders aufschlußreich ist der von W. Kabronskij erstellte Sammelband »Nepodzensurnaja russkaja tschastuschka« (Der unzensierte russische Spottvers; Isd. Russika, New York, 1978).

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Doch den bedeutendsten Platz in der heutigen sowjetischen Folklore nehmen natürlich die Lagerlieder ein. Wer die Seele des russischen Volkes, wer das Schicksal der russischen Menschen richtig verstehen will, findet in dieser Lagerfolklore wertvollstes Material. Viele dieser Lieder sind natürlich weit entfernt von künstlerischer Vollkommenheit, doch gerade darin liegt ihr Reiz. In diesen kunstlosen, unbeholfenen Liedern kommt der Charakter der russischen Menschen, die so viel gelitten haben, unmittelbar und unverstellt zum Ausdruck.

Wenn man das Lied hört: »Nie werd ich den Hafen vergessen / Den grimmigen Anblick der Dampfer / Wir gingen den Steg hinüber an Bord / In die kalten, finsteren Luken ...« —, so hört man zugleich die Stimmen jener, von denen es damals gesungen wurde, jener Millionen, die in die Schiffsluken gestiegen sind, um an der Kolyma zu sterben.

Voll wirklicher grausamer Tragik ist das Lied:

»Hohe Fristen gehen ab nach Norden.
Frag, wen du willst — für alle gilt Das Urteil.
So sieh mich an, so sieh in meine harten Augen,
Sieh mich, vielleicht zum letzten Male, an ...« 

Tollkühne Verzweiflung, verbissener Todesmut spricht aus dem Lied:

»Ach, zerschunden haben sie, zerschunden,
Diese Ratten! und vernichtet meine Jugend!« 

Oder aus dem Lied:

»Nur der dunkle Wald vermag zu sagen,
Welche Wunder sich dort zugetragen:
Auf einen Baumstumpf wurden wir postiert
Und ausgezogen und verprügelt.
Ach, wozu hat unsre Mutter uns geboren!« 

Handfeste Komik und Humor äußern sich in dem Lied »Doch draußen, da ist wunderbares Wetter« oder in dem bekannten satirischen Lied »Mein Vater ist Lenin, meine Mutter — Nadeshda Krupskaja«.

Doch in der Mehrzahl der Lieder herrscht natürlich hoffnungslose Trauer und bittere Klage:

»Ein neues Jahr, ein neues Reglement, 
Von Stacheldraht umzäunt ist unser Lager, 
Von allen Seiten starren harte Augen,
Der Hungertod belauert uns ringsum. 
Neujahr ist heute — Moskau schläft im Dunkel, 
Und ich steh hüfthoch hier im Schnee erstarrt ...«

220/221

Und als seltener Hoffnungsschimmer plötzlich eine Aufwallung von Mut und Entschlossenheit, die den Unglücklichen und zum Scheitern Verdammten neue Kraft gibt:

»Es passierte im Frühling, im grünenden Mai, 
Als die Tundra ihr lila Gewand angetan, 
Du und ich warn geflüchtet, hatten Angst vor Verfolgung, 

Und wir warteten schon auf die Rufe der Häscher. 
Ringsumher war die Tundra, wir liefen dort entlang, 
Wo der Schnellzug Workuta-Leningrad saust. 
Regen benetzte die Hand und die Mündung des Revolvers, 
Die Wachmannschaft hat uns umzingelt und schreit <Hände hoch!>

Doch sie haben sich verrechnet, 
die Umzinglung wird durchbrochen,
Wer vorm Tod keine Angst hat, den trifft keine Kugel mehr. 

Wir sind jetzt in der Freiheit, von der wir geträumt, 
Um die sich alle Gespräche im Lager gedreht. 
Wir sind jetzt in der Freiheit, uns kann man nicht fangen, 
Die Maschinenpistole erreicht uns nicht mehr...« 

Von einigen Liedern weiß man, wo sie entstanden und zuerst gesungen wurden; etwa die »Kolyma-Hymne« und die »Hymne von Tajschet« und das berühmte Lied vom Tagankagefängnis:

»Taganka — alle Nächte voller Licht, 
Zentralka — warum hast du mich zerstört? 
Taganka — ich bin ewig dein Gefangener, 
Zerstört sind Jugend und Talent 
in deinen Mauern.

Nichts legt beredter davon Zeugnis ab, daß hinter der falschen Fassade der warme Atem des Volkes strömt und Schöpfungen hervorbringt, als die sowjetische Folklore von heute. Doch das ist ein Thema für ein neues Buch. Eine Studie über die moderne sowjetische Folklore, über ihre Unterarten, über die nach Zeit und Ort verschiedenen Varianten ein und desselben Liedes — solch eine Arbeit würde uns vieles über das wirkliche, das unsterbliche Leben des Volkes verraten.

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  Juri Malzew 1981