4. Schluß
Marcuse-1972
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Der gemeinsame Nenner des unangebrachten Radikalismus in der Kulturrevolution ist der Anti-Intellektualismus, den sie mit den reaktionärsten Vertretern des Establishments teilt: die Revolte gegen die Vernunft, nicht nur gegen die des Kapitalismus, der bürgerlichen Gesellschaft, sondern gegen die Vernunft per se.
Und wie der tatsächlich dringend erforderliche Kampf gegen die Ausbildung von Kadern für das Establishment in den Universitäten in einen Kampf gegen die Universität umschlägt, so die Zerstörung der ästhetischen Form in eine Zerstörung der Kunst.
Natürlich können Isolation und Entfremdung von der gegebenen Wirklichkeit in beiden Bereichen der geistigen Kultur zu einer »Elfenbeinturm«-Haltung führen; aber sie können auch zu etwas führen (und tun dies sogar), das zu dulden das Establishment sich zunehmend unfähig zeigt, nämlich zu unabhängigem Denken und Fühlen.
Aber bei all ihrem unangebrachten Radikalismus stellt die Bewegung noch immer die fortgeschrittenste Gegenkraft dar. Sie hat die Rebellion in zwei Hauptrichtungen weitergeführt: sie hat den Bereich der nicht-materiellen Bedürfnisse (der Selbstbestimmung, der nicht-entfremdeten menschlichen Beziehungen) ebenso in den politischen Kampf einbezogen wie die physiologische Dimension des Daseins: den Bereich der Natur.
Der gemeinsame Boden ist die Emanzipation der Sinnlichkeit. Sie bewirkt die neue Erfahrung einer von den Erfordernissen der etablierten Gesellschaft vergewaltigten Welt und des vitalen Bedürfnisses nach einer völligen Umgestaltung. Die überwältigende Einheit der Gegensätze in dieser Welt ist unerträglich geworden: die Einheit von Freude und Entsetzen, von Frieden und Gewalt, Genuß und Zerstörung, Schönheit und Häßlichkeit, wie sie uns in unserer alltäglichen Lebenswelt spürbar zu schaffen macht.
Die herrschende Verachtung des »ästhetischen Snobismus« sollte uns nicht länger davon abhalten, diese Erfahrung zu artikulieren: die abstoßende Einheit der Gegensätze (höchst konkrete und entsublimierte Manifestation der kapitalistischen Dialektik!) ist zum Lebenselement des Systems geworden. Der Protest gegen diese Verhältnisse muß zur politischen Waffe werden.
Der Kampf ist dann gewonnen, wenn die obszöne Symbiose der Gegensätze beseitigt ist — die Symbiose zwischen dem Spiel des Meeres und den Todesindustrien an seinen Küsten; zwischen dem Flug der Vögel und dem der Air-Force-Düsenjäger; zwischen der Stille der Nacht und dem Geknatter der Motorräder. Erst dann werden die Menschen frei sein, den Konflikt zwischen den Fifth Avenues und den Gettos, zwischen Zeugung und Völkermord zu lösen.
Auf lange Sicht ist es unmöglich, die politische Dimension noch von der ästhetischen, die Vernunft von der Sinnlichkeit, die Barrikade von der Liebe zu trennen. Natürlich wird das Haß hervorrufen — aber nur den Haß gegen das, was unmenschlich ist; dieser »gute Haß« ist ein wesentlicher Bestandteil der Kulturrevolution. Sie ist äußerst unpopulär; das Volk haßt sie, »die Massen« verachten sie. Vielleicht spüren sie, daß diese Rebellion sich gegen das Ganze richtet, gegen sämtliche verrotteten Tabus — daß sie die Notwendigkeit, den Wert ihrer Leistungen und Vergnügungen, daß sie den Wohlstand um sie herum gefährdet.
Die Ressentiments überwiegen: gegen die neue Moral, die weibliche Geste, die Verachtung für die Jobs des Establishments — Ressentiments gegenüber den Rebellen, die sich erlauben, worauf die Leute verzichten und was sie unterdrücken müssen. Wilhelm Reich hatte recht, als er hervorhob, die Wurzeln des Faschismus lägen in der Triebunterdrückung; er hatte unrecht mit der Annahme, der Sieg über den Faschismus werde hauptsächlich durch sexuelle Befreiung bewirkt.
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Diese kann sich ziemlich entwickeln, ohne daß das kapitalistische System auf fortgeschrittener Stufe (auf der die Quantität körperlicher Arbeitskraft und der Arbeitszeit deutlich reduzierbar werden) gefährdet würde. Jenseits dieser Stufe wird Triebbefreiung nur in dem Maße zu einer Kraft gesellschaftlicher Befreiung, wie sexuelle Energie sich in erotische Energie verwandelt, bestrebt, die Lebensweise auf gesellschaftlicher, politischer Ebene zu ändern. Unterwürfigkeit, Aggression und Identifikation der Menschen mit ihren Führern haben, zumindest heute, eher eine rationale als eine triebmäßige Grundlage: die Führer liefern noch immer die gewünschten Waren (und von Zeit zu Zeit die Leichen der Feinde, die die ununterbrochene Lieferung dieser Güter gefährden).
Auf diesem Boden werden Haß und Aggression gegen die Rebellen ausgesprochen und organisiert. Die Rebellion der Triebe wird erst dann zur politischen Kraft, wenn sie von einer Rebellion der Vernunft begleitet und angeleitet wird: von der absoluten Weigerung des Intellekts (und der Intelligenz), das Establishment zu unterstützen, sowie von der Mobilisierung der Kraft theoretischer und praktischer Vernunft für das Werk der Veränderung.
Der Fetischismus der Warenwelt, der täglich undurchsichtiger zu werden scheint, kann nur von Frauen und Männern beseitigt werden, die den technologischen und ideologischen Schleier fortgerissen haben, der das, was geschieht, der die verrückte Rationalität des Ganzen verdeckt — von Frauen und Männern, die die Freiheit erlangt haben, ihre eigenen Bedürfnisse zu entwickeln, ihre eigene Welt in Solidarität aufzubauen. Das Ende der Verdinglichung ist der Anfang des Individuums: des Subjekts eines radikalen Neubaus. Die Genesis dieses Subjekts ist ein Prozeß, der den traditionellen Rahmen radikaler Theorie und Praxis sprengt. Die Ideen und Ziele der Kulturrevolution haben ihre Grundlage in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation.
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Sie haben Aussicht, wahrhaft konkret zu werden, aufs Ganze zu gehen, wenn es den Rebellen gelingt, die neue Sinnlichkeit (die private, individuelle Befreiung) der Anstrengung des Begriffs zu unterwerfen. Nur sie kann die Bewegung vor der Unterhaltungsindustrie und dem Irrenhaus retten, indem sie ihre Energien in gesellschaftlich relevante Bahnen lenkt. Je mehr die wahnsinnige Macht des Ganzen jede spontane Gegenaktion zu rechtfertigen scheint (gleichgültig, wie selbstzerstörerisch sie sein mag), desto mehr müssen Verzweiflung und Trotz politischer Disziplin und Organisation unterworfen werden. Die Revolution ist nichts ohne eigene Rationalität.
Das befreiende Gelächter der Yippies, ihre Unfähigkeit, das blutige Spiel der »Justiz« von »law and order« ernst zu nehmen, mag helfen, den ideologischen Schleier zu zerreißen — die Struktur hinter dem Schleier lassen sie unberührt. Diese kann nur von denen verändert werden, die noch immer den Arbeitsprozeß aufrechterhalten, seine menschliche Basis bilden und seine Profite und Macht reproduzieren. Zu ihnen gehört ein immer größer werdender Sektor der Mittelschichten und der Intelligenz. Gegenwärtig ist sich nur ein kleiner Teil dieser riesigen, wahrhaft unterworfenen Bevölkerung der Lage bewußt und politisch aktiv. Dieses Bewußtsein, diese Aktivität zu verstärken, ist die Aufgabe der noch isolierten radikalen Gruppen.
Um einer solchen Entwicklung den Boden zu bereiten, bedarf es vor allem der Emanzipation des Bewußtseins. Ohne sie bleibt eine Emanzipation der Sinne, bleibt aller radikale Aktivismus blind und selbstzerstörerisch. Politische Praxis hängt noch immer von Theorie ab (nur das Establishment kommt ohne sie aus): von Erziehung, von Überzeugung, von Vernunft.
Es gibt ein Argument gegen diesen »Intellektualismus«, das noch diskutiert werden muß.
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Der Kern des Arguments ist folgender:
Die Betonung der Theorie und Erziehung lenkt die geistigen und physischen Energien von dem Bereich ab, in dem der Kampf gegen die bestehende Gesellschaft entschieden wird — von der politischen Arena. Sie überführt ökonomische und gesellschaftliche in kulturelle Bedingungen; man beschäftigt sich mit abstrakten, intellektuellen Problemen, während die verzweifelten Widerstandsbewegungen in der ganzen Welt mit offener Gewalt zerschlagen werden. Hinter dem gewichtigen Titel der »Kulturrevolution« (übernommen von einem Land, in dem sie eine Massenbewegung war) verbirgt sich nichts als eine privat bleibende ideologische Revolte — ein Hohn auf die leidenden Massen.
Die Parole »Setzen wir uns zusammen und diskutieren wir die Sache« ist mit Recht zum Witz geworden. Kann man mit dem Pentagon etwas anderes erörtern als die Wirksamkeit von Vernichtungsapparaten — und ihre Kosten? Der Außenminister kann mit dem Finanzminister diskutieren, dieser mit einem anderen Minister und mit seinen Beratern, und sie alle können mit den Vorstandsmitgliedern der großen Konzerne reden. Aber das sind inzestuöse Erörterungen; über das entscheidende Problem sind sich alle einig: die bestehende Machtstruktur muß gestärkt werden. »Außerhalb« der Machtstruktur stehend, mitreden zu wollen, ist eine naive Vorstellung. Man wird nur dort zuhören, wo es um Wählerstimmen geht, die vielleicht eine neue Clique der gleichen Machtstruktur mit den letztlich gleichen Interessen an die Macht bringen.
Dieses Argument ist schlagend. Bertolt Brecht schrieb einmal, wir lebten in Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen sei. Seitdem hat sich die Lage noch wesentlich verschlimmert. Heute ist es schon fast ein Verbrechen, über Veränderung nur zu sprechen, während die Gesellschaft in eine Institution der Gewalt verwandelt wird, die in Asien den Völkermord vollendet, der mit der Ausrottung der amerikanischen Indianer begann.
Ist diese blanke, brutale Macht nicht immun gegen das gesprochene und geschriebene Wort, das sie verurteilt und anklagt?
Und ist das Wort, mit dem die Inhaber dieser Macht angeklagt werden, nicht das gleiche, mit dem sie ihre Macht verteidigen? Es gibt eine Ebene, auf der selbst die blinde Aktion gegen sie gerechtfertigt erscheint; denn sie reißt, wenn auch nur für einen Augenblick, das geschlossene Universum der Unterdrückung auf. Die Eskalation ist dem System immanent und beschleunigt die Konterrevolution, wenn ihr nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird.
Und doch gibt es selbst in diesem System den Unterschied zwischen einer Zeit, in der es vernünftig ist zu reden, und einer Zeit, in der es vernünftig ist zu handeln, und diese Zeiten sind gekennzeichnet durch die jeweilige konkretgesellschaftliche Konstellation der Kräfte. Wo radikale Massenaktionen fehlen und die Linke unvergleichbar schwächer ist, müssen ihre Aktionen sich Selbstbeschränkung auferlegen. Was der Revolte durch die verstärkte Unterdrückung und die Konzentration der zerstörerischen Kräfte in den Händen der Mächtigen aufgezwungen wird, muß für ihre Reorganisation, für die Überprüfung ihrer Politik genutzt werden.
Strategien sind zu entwickeln, die geeignet sind, die Konterrevolution wirksam zu bekämpfen. Der Ausgang hängt entscheidend davon ab, daß die junge Generation weder »aussteigt« noch sich anpaßt, sondern lernt, sich nach einer Niederlage zu reorganisieren und mit der neuen Sinnlichkeit eine neue Rationalität zu entwickeln, um den langen Erziehungsprozeß zu überstehen — die unentbehrliche Voraussetzung für den Übergang zu politischen Aktionen großen Stils.
Denn die nächste Revolution wird das Werk von Generationen sein; die »Endkrise des Kapitalismus« kann sehr wohl länger als ein Jahrhundert dauern.
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Ende