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1  Die Vorgeschichte 

der Psychotherapie 

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Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts spiegelt sich in den medizinischen und psychiatrischen Fachzeitschriften eine Gesellschaft, in der von einer großen intellektuellen Unruhe kaum etwas zu spüren ist. Die unkomplizierte Art, mit der man das Problem der Geisteskrankheiten beurteilt, war für alle, die den Status quo bewahren wollten, außerordentlich bequem. 

Diese Haltung bedingte, daß bestimmte Ansichten als unbedingt richtig angesehen wurden: Die Vererbung ist entscheidend für die Charakterbildung; ein vitales Sexualleben ist krankhaft; besonders die Masturbation führt zu einer gefährlichen Krankheit; Kinder müssen vor jeder Art von Sexualität geschützt werden, besonders vor ihrer eigenen. Wenn sie solche Neigungen zeigen, müssen Kinder sofort isoliert werden, um zu verhüten, daß sie andere Kinder in dieser Richtung beeinflussen. Wenn Kinder irgendwie einer sexuellen Stimulation ausgesetzt worden sind, werden sie im späteren Leben oft mental instabil. Diese Instabilität wird sich in der Form bestimmter Symptome manifestieren. 

Als eines der gefährlichsten wurde im 19. Jahrhundert die »moralische Psychopathie« angesehen. Das heißt, der unter dieser Geistesstörung Leidende tut Dinge, die von der Gesellschaft, besonders von den Eltern oder der von Männern beherrschten Psychiatrie, als unmoralisch angesehen wurden. Wenn man diesen Begriff so weit faßte, dann konnte fast alles, was jemand tat, also etwa die Berufs- oder die Partnerwahl, als eine Form der moralischen Psychopathie angesehen werden, wie auch heute alles, was ein Patient in der Psychotherapie tut, wenn es den Wertvorstellungen des Therapeuten nicht entspricht, als »Ausagieren« bezeichnet wird.

Carl Emminghaus, Professor der Psychiatrie und Chef der psychiatrischen Klinik in Freiburg hat 1887 ein viel zitiertes Buch mit dem Titel <Die psychischen Störungen des Kindesalters> geschrieben.1)  In diesem Buch ist von der kindlichen Neigung zum Obszönen oder ganz allgemein zum Schlechten die Rede. Doch viele darin angeführte Beispiele zeigen, wie ein kleines Kind in einer brutalen Umwelt, aus der es nicht entfliehen kann und deren Existenz niemand anerkennt, in Angst und Schrecken versetzt wird. 

Emminghaus berichtet von einem achtjährigen Mädchen, das oft von zu Hause fortlief und sich fürchtete, wenn seine Eltern versuchten, sich ihm zu nähern. Dann bekam das Mädchen einen roten Kopf, rannte mit schweißbedecktem Gesicht aus dem Haus und schrie: »Mein Vater hat ein Kind umgebracht.« Schließlich unternahm das Kind einen Selbstmordversuch und erklärte traurig, aber der Wahrheit entsprechend: »Ich habe es getan, damit ich in Ruhe gelassen werde.« 

Emminghaus erklärte das Mädchen für paranoid und wies es in eine Irrenanstalt ein. Ein heranwachsender Junge wurde in einer geschlossenen Anstalt untergebracht, weil er angeblich unter »sexuellen Halluzinationen« litt. Man schloß das aus der Tatsache, daß er dem Arzt einmal gesagt hatte: »Sie sind ein Schwein, und sie sind verrückt. Sie sind der Mann, der in meinem Zimmer diese unmoralischen Dinge getan hat, und sie machen mit mir genau das, was die Leute zu Hause gemacht haben.« 

In dieser Aussage erblickten Emminghaus und seine Kollegen den klinischen Beweis für eine durch Irresein veranlaßte anormale Redeweise und für eine Geisteskrankheit. Emminghaus fragte nicht: »Ist diesem Kind durch den Arzt und zu Hause irgend etwas angetan worden?« Und selbst wenn er diese Frage gestellt hätte, dann wäre er zweifellos zu dem Schluß gekommen, daß dem Kind nichts geschehen sei, weil nach seinem Weltbild so etwas nicht vorkommen konnte. Von einem zwölfjährigen Jungen schreibt Emminghaus, er sei völlig grundlos von der Wahnvorstellung verfolgt worden, daß sein eigener Vater ihn ermorden wolle. Wenn er seinen Vater sah, bekam er furchtbare Angst und versuchte fortzulaufen. Einmal sprang er sogar aus dem Fenster. Dieses Verhalten wurde als Beweis für seine mentale Instabilität angesehen.

 

Für Richard von Krafft-Ebing, den berühmtesten Psychiater seiner Zeit, mußte die Erziehung von Kindern, die »eine Veranlagung zur Geistes­krankheit« haben, schon in einem frühen Alter beginnen. Solche Kinder sollten keine Märchen lesen dürfen, sondern nur harmlose Geschichten. 

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Diese von Krafft-Ebing als »nervös« bezeichneten Kinder zeigen eine »abnorme intellektuelle Entwicklung«, das heißt, oft sind sie besonders lernbegierig und wollen schon sehr früh anfangen zu lesen. Diesen Neigungen soll nicht nachgegeben werden. Sie sollten weder Sprach- noch Musikunterricht bekommen. Man sollte ihnen vor allem beibringen, gehorsam zu sein, und dafür sorgen, daß »ebenso wenig Empfindsamkeit aufkomme«. Am besten sollte man sie auf den Beruf eines Gastwirts auf dem Lande vorbereiten, wo ihnen nichts begegnen kann, was ihre Gefühle und ihren Intellekt anregt, denn sonst würden sie unweigerlich in einer Irrenanstalt enden.2) 

Hermann Oppenheim (1858 bis 1919), Professor für Psychiatrie in Berlin und Direktor eines Privatsanatoriums, empfahl in einer bekannten Artikelserie über »mentale Störungen« bei Kindern, daß man Kindern nicht erlauben solle, Zeitungen zu lesen und sie nicht in Bildergalerien, Museen oder Theater führen dürfe. Man solle ihnen auch verbieten, starke Gefühle zum Ausdruck zu bringen, seien diese Gefühle nun positiv oder negativ. Vor allem aber müßten sie »Enthaltsamkeit, Ordnung, Reinlichkeit, Einfachheit und Bedürfnislosigkeit« lernen. Der letzte Absatz dieses Buches lautet:

Wenn wir auch nicht in der Lage sind, die ererbte und angeborene neuropathische Konstitution durch eine andere zu ersetzen, so steht es doch in unserer Macht, durch die Art der Erziehung und Behandlung, ganz besonders durch die Fernhaltung gewisser Schädlichkeiten, auf die ich in den früheren Vorträgen hingewiesen habe, dahin zu wirken, daß die vorhandenen Keime nicht zur üppigen Entwicklung, nicht zur vollen Entfaltung gelangen, und damit der Entstehung eines Leidens vorzubeugen. 3)

Oberflächlich klingen die Worte von Oppenheim wie die eines gütigen und wohlwollenden Ratgebers. Welcher vernünftige Mensch könnte etwas gegen die Bemühungen eines »Fachmannes« einzuwenden haben, einem Kind ein Leben zu ersparen, in dem es unter den Qualen einer Geisteskrankheit leiden müßte? Und angesichts der autoritären Rolle der Eltern im 19. Jahr­hundert hätte wohl auch niemand das Recht eines Elternteils — oder eines von ihm konsultierten Arztes — bestritten, für ein »geistesgestörtes« Kind eine Behandlung zu verordnen.


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Aber unter der Oberfläche der Äußerungen Oppenheims liegen beunruhigende Fragen. Der ganze medizinische Berufsstand förderte bei den Patienten den Glauben an das Spezialwissen, die Erfahrung der Autorität und das blinde Vertrauen zu denen, die diese autoritäre Stellung einnahmen. Wenn der Arzt keine Ratschläge gab und seinen Patienten nicht warnte, dann wußte er nichts, und wenn er nichts wußte, verlor er sehr bald seine Autorität, und ohne diese Autorität konnte er nicht praktizieren. Die Psychiatrie war ein Werkzeug der Medizin, und die Medizin war ein Werkzeug der Gesellschaft.

Die Gesellschaft verlangte, daß die Kinder, die in irgendeiner Weise eine zu starke Sensibilität zeigten, als Erwachsene und manchmal sogar schon als Kinder Psychiatern zur Behandlung anvertraut werden sollten. Um zu verstehen, wie sich die psychiatrische Behandlung zur Psychotherapie entwickelte, müssen wir etwas von der Geschichte dieser Entwicklung kennen. Ich möchte den Leser in der Form von zwei Begebenheiten aus dem 19. Jahrhundert mit einem Teil dieser Geschichte bekannt machen, die besser als jede Darstellung der geschichtlichen Entwicklung illustrieren werden, was es damals bedeutete, als »geistes­gestört« angesehen zu werden.

 

 

   Erinnerungen einer Wahnsinnigen: Hersilie Rouy in den französischen Irrenanstalten  

 

Eines der ungewöhnlichsten Dokumente in der Geschichte der Psychiatrie ist bis heute kaum beachtet worden. Es ist ein 1883 in Paris erschienenes Buch. Kein Exemplar dieses Buchs findet sich in irgendeiner Bibliothek der Vereinigten Staaten, und auch in Frankreich hat es große Mühe gekostet, eines zu finden. Und doch ist dieses Buch nach meiner Ansicht das bedeutendste Dokument der Gesellschafts­geschichte der Geisteskrankheiten im 19. Jahrhundert. Die Verfasserin des Buches war Hersilie Rouy, sein Titel ist <Mémoires d'une aliénée> (Erinnerungen einer Wahnsinnigen).4)

Das umfangreiche, fünfhundertvierzig Seiten umfassende Buch ist die Geschichte der zwangsweisen Unter­bringung von Hersilie Rouy im Alter von 40 Jahren in der Salpetriere (der berühmten psychiatrischen Klinik, in der Jean Martin Charcot gearbeitet hat) in Paris und in vielen anderen französischen Irrenhäusern in einem Zeitraum von 15 Jahren.


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Das in französischer Sprache geschriebene Buch ist noch in keine andere Sprache übersetzt worden und wird in der Geschichte der Psychiatrie nirgends erwähnt.

Was Hersilie Rouy erlebt hat, sollten ungezählte Frauen in Frankreich, Deutschland, England, den Vereinigten Staaten und anderswo erleben, und zwar bis auf den heutigen Tag. Was ihr Buch vor vielen anderen auszeichnet, ist die Klarheit ihres Erkenntnisvermögens, ihre Fähigkeit zu begreifen, was französische Psychiater ihr angetan hatten. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, geistig völlig normal zu sein, und die Kraft und Leidenschaft ihrer Worte muß jeden Leser zutiefst beeindrucken. Das Buch ist eine beispielhafte Illustration dessen, was die Opfer der Psychiatrie überall und zu allen Zeiten erlebt haben. Es ist eine lohnende Lektüre.

Ich konnte über die Verfasserin außer dem, was sie uns selbst in ihrem Buch erzählt, nichts in Erfahrung bringen. Das Buch enthält alles, was wir über sie wissen. Hersilie Rouy wurde 1814 in der italienischen Stadt Mailand geboren. Sie war die illegitime Tochter des Astronomen Henri Rouy. Als einigermaßen erfolgreiche Pianistin hatte sie sich mit ihren Konzerten in der Pariser Musikwelt einen Namen gemacht. Sie lebte mit ihrem Vater bis zu dessen Tod im Jahr 1848 zusammen. Damals war sie Mitte Dreißig. Über ihre Mutter weiß man nichts.

Ihre Schwierigkeiten begannen einige Jahre später unter mysteriösen Umständen. Irgendwie muß ihr Halbbruder daran beteiligt gewesen sein. Am 8. September 1854 wurde sie überraschend aus ihrer Pariser Wohnung geholt. Ihr persönlicher Besitz einschließlich ihres Schmucks wurde beschlagnahmt (sie hat diese Gegenstände niemals zurückbekommen), und sie selbst in die Irrenanstalt von Charenton eingeliefert. Später wurde sie in das Asile de Mareville verlegt und anschließend in die Salpetriere. Dort sagte man ihr: »Verrückt oder nicht verrückt, hier gelten Sie als verzückt. Wenn Sie einmal eingesperrt sind, dann ist alles gegen Sie« (S. 66). Sie schildert, wie sie von einem bekannten französischen Psychiater namens Lasegue untersucht wird:

Die Untersuchung dauerte nur eine oder zwei Minuten. Dann sprach er sein Urteil aufgrund dessen, was Doktor Calmeil gesagt hatte. Er beurteilte mich aufgrund der Diagnose eines Arztes, der mich nie gesehen hatte und mich einweisen ließ, um jemandem einen Gefallen zu tun, und zwar aufgrund dessen, was man ihm über mich gesagt hatte! (S. 92/93)


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Ein Problem, mit dem sie sich ihr ganzes Leben hat herumschlagen müssen, begann schon sehr bald nach der Einlieferung in das Irrenhaus. Es ging um ihren Namen. Der erste Mensch, der in der Salpetriere mit ihr sprach, hieß Chevalier. Er beschloß, ihr seinen Namen zu geben. Als sie protestierte und darauf bestand, daß sie Rouy hieß, sagte ihr der Arzt, dieser Name sei das Produkt einer krankhaften Wahnvorstellung. Er erklärte, sie habe keine Familie »mit Ausnahme Ihrer kranken Phantasie. Sie können nicht wissen, wer Sie sind, denn niemand kennt Sie« (S. 101).

Der Versuch, sie ihrer Identität zu berauben, war zunächst mit Sicherheit durch das allgemeine Vorurteil gegen uneheliche Kinder entstanden. Diese Kinder waren illegitim und hatten daher kein Anrecht auf einen eigenen Namen. Doch bei ihr führte dieses Problem sehr bald zu äußerst widerlichen Konsequenzen. Indem sie auf ihrem Existenzrecht als selbständige Person mit einem eigenen Namen beharrte, stellte sie Wertvorstellungen in Frage, an die niemand in dieser oder irgendeiner anderen Irrenanstalt rühren durfte. Die Autoritäten behaupteten, sie habe keine Identität als jene, die man ihr zugestand.

Das dürfte das Schicksal vieler Patienten gewesen sein. Aber im Falle der Rouy geschah etwas ganz Unerwartetes. Arbeiter, die gekommen waren, um die Fenster in ihrem Zimmer zu putzen, beeindruckte offenbar ihre vornehme Haltung und Sprechweise. Sie hielten sie für die Tochter des Herzogs von Bordeaux:

Die Sache hatte vor allem deshalb ernste Folgen, weil zur gleichen Zeit Verhandlungen darüber geführt wurden, beide Zweige der Bourbonen miteinander zu vereinigen. Außerdem war bekannt, daß die Salpetriere oft als eine Art Verlies benutzt wurde, in dem Opfer (von Intrigen) unter dem Vorwand verschwanden, daß sie geisteskrank seien. (S. 106)

Sehr bald verlautete gerüchtweise, die Rouy könnte die illegitime Tochter König Heinrichs V. sein. Da man sie ihrer wahren Identität beraubt hatte, beschloß sie, sich damit zu wehren, daß sie dieses Gerücht benutzte, um ihre Peiniger in der Irrenanstalt zu beunruhigen. 


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Sie war inzwischen davon überzeugt, daß sie von der französischen Psychiatrie, den französischen Gerichten oder der französischen Regierung keine Hilfe zu erwarten hatte. Trotzdem kämpfte sie mit erstaunlichem Mut allein weiter gegen ein weit überlegenes starres System, und nur ihr eigener scharfer Verstand ermöglichte ihr das Überleben. Ihr Arzt sagte ihr: »Ihre Wahnvorstellungen sind absolut und besonders gefährlich und unheilbar, weil Sie wie ein Mensch reden, der im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ist« (S. 133).

Als man ihr Talent als Pianistin entdeckte, befahl ihr der Anstaltsarzt, Klavier zu spielen. Sie weigerte sich. Auch als er drohte, sie zu bestrafen, hielt sie an ihrer Weigerung fest. Darauf präzisierte der Arzt die »Diagnose« ihrer Krankheit und sagte zu ihr: »Sie sind stolz.« Sie antwortete: »Herr Doktor, Stolz ist der Reichtum der Armen, und ein armer Mensch hat das Recht sich zu weigern, von den Reichen als Spielzeug benutzt zu werden« (S. 160). Viele Insassen der Anstalt versammelten sich um sie, und sehr bald spürte sie, daß sie ihnen besser helfen konnte als die Ärzte: »Ich vermittelte meinen armen Leidensgenossen mehr Hoffnung und Trost aus meinem Herzen als alle medizinischen Spezialisten zusammen« (S. 173).

Nun wurde sie als Unruhestifterin aus der Salpetriere in die Irrenanstalt von Auxerre auf dem Lande verlegt. Sie berichtet, von außen sei es eine schöne, sorgfältig gepflegte Anlage mit Gärten und Blumen gewesen. Aber der äußere Anschein trog. Denn in dem Gebäude gab es Zellen, »wo diejenigen, die sich beschwerten, im Dunklen eingeschlossen werden konnten...« nach dem Motto »um dich zu heilen, muß ich dich bändigen« (S. 202). Dr. Poret versprach ihr, sie nach drei Monaten zu entlassen, wenn sie darauf verzichtete, sich zu beschweren, aber sie weigerte sich. Er sagte ihr: »Ob Sie nun verrückt sind oder nicht, solange Sie hier sind, betrachtet man Sie als verrückt, und es gibt schon so viele Gutachten über Sie, daß eines mehr oder weniger an Ihrem Schicksal nichts mehr ändern wird« (S. 180).

Sosehr es sie auch verbitterte, gegen solche Argumente konnte sie nichts ausrichten. Die Ärzte in der Salpetriere und in Auxerre standen bei Hersilie Rouy offenbar vor einem Rätsel, denn sie fanden in ihrem Verhalten nichts, was auf eine Geisteskrankheit schließen ließ. Aber allein die Tatsache, daß man sie in eine Irrenanstalt eingeliefert hatte, genügte, wie gesagt, als Beweis.


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Sie wurde fünf Jahre in Auxerre festgehalten. Jahre nach ihrer Entlassung fand sie das schriftliche Gutachten, dem sie es verdankte, daß man sie fünf Jahre in einer geschlossenen Anstalt eingesperrt hatte:

Die 50jährige Frau mit Namen Chevalier, die in mehreren Irrenanstalten behandelt worden ist, ist vor einigen Tagen in Paris eingetroffen... mit einem eine Wahnidee enthaltenden Brief, der Drohungen gegen die Polizei­station an der Seine enthält. Sie befindet sich im Zustand eines von Vernunft gesteuerten Wahnsinns. Gezeichnet Lasegue. (S. 204)

Nach fünf Jahren, am 3. Juli 1863, wurde sie in die Salpetriere zurückverlegt. Sie selbst erklärt den Vorgang mit einem knappen Satz: »Das Wort >Rückfall< genügte, mich dort festzuhalten« (S. 204).

Gerade die Eigenschaften, die Hersilie Rouy zu einer so wertvollen Zeugin machen — die Klarheit ihres Stils, die Überzeug­ungskraft ihrer Argumentation und die Schärfe ihres Verstandes — wurden als »symptomatisch« für ihre Krankheit bezeichnet. In die Salpêtrière zurückgekehrt, führte sie ein für ihr weiteres Schicksal entscheidendes Gespräch mit Dr. Payent. Er schrieb, sie habe eine hohe Meinung von ihrem persönlichen Wert und die Fähigkeit, sich mit größter Leichtigkeit auszudrücken (S. 212). Sie litte an einer Geisteskrankheit mit dem französischen Namen folie lucide. In England und Deutschland wurde diese Krankheit später als »moralisches Irresein« bezeichnet. 

Weiter hieß es in seinem Bericht, sie stelle den »irgendwie lächerlichen Anspruch, dafür entschädigt zu werden, daß man sie in einer geschlossenen Anstalt untergebracht hat« (S. 212-213). Er sagte ihr, es sei schlimm, daß Laien ihre Krankheit nicht erkennen könnten. Nur der Fachmann könne beurteilen, wie krank sie wirklich sei. Sie selbst schreibt dazu: »In der realen Welt wurde meine Geisteskrankheit nicht erkannt« (S. 213). Payent beunruhigten ihre Rationalität und ihre Fähigkeit, die Absichten der Ärzte zu erkennen. So kam er zu einer neuen »Diagnose«: »Die Frau leidet an orgeuil incurable«, an unheilbarem Stolz! (S. 212) Unter dieser Diagnose hatte sie ihr ganzes weiteres Leben zu leiden.


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Doch während die Ärzte in der Irrenanstalt ihre Fähigkeit zu schreiben und das Beharren auf dem Recht, dies zu tun, als symptomatisch für ihre Krankheit ansahen, wußte sie selbst, daß es die einzige Möglichkeit für sie war, die Verbindung zur wirklichen Welt nicht zu verlieren: »Hätte ich nicht schreiben können, wäre ich gestorben oder verrückt geworden« (S. 214).

Ihre Gedanken kreisten immer wieder um ihren Namen. Sie unterzeichnete ihre Briefe als »der Antichrist«, »der Teufel«, »Sylphide« oder »Polichinelle«. Sie erklärte, sie liebe den Namen Polichinelle (einer komischen Figur im französischen Theater), weil die Patienten sie so nannten, wenn sie von den Wärtern bedroht wurden und Hersilie Rouy um Hilfe baten: »Man beschuldigt mich der krankhaften Eitelkeit und des Größenwahns. Dieser Name einer Marionette hat mich gelehrt, daß ich von den Armen, den Elenden und den Verlassenen nicht wegen meines Namens, sondern um meiner selbst willen geliebt werde« (S. 148).

Einmal fragte ihr Arzt sie, ob sie ihre Briefe immer noch in dieser Weise unterzeichne. Ihre Antwort zeigt, wie deutlich sie sich ihrer eigenen Lagen bewußt war: »Natürlich! Es gibt kein Gesetz, nach dem es verboten ist, ein Pseudonym zu benutzen, besonders wenn man offiziell anonym ist« (S. 216). Hersilie beschreibt mit beißendem Sarkasmus den Abgang des Arztes nach dem Gespräch: »Er wandte sich zum Gehen und trippelte mit seinen winzigen Füßen, die in geschlossenen Pantoffeln steckten — die Hühneraugen drückten ihn —, und er verbarg den großen Kopf hinter dem Kragen seines abgewetzten Fracks« (S. 217).

Als man endlich ihre Entlassung in Erwägung zog, schrieb ein Arzt, der sie viele Jahre nicht gesehen hatte, an ein Mitglied ihrer Familie: »Ich zögere nicht zu behaupten, daß ihre Entlassung vor allem für sie selbst eine furchtbare Tragödie und für Ihre ganze Familie eine endlose Quelle äußerst belastender Sorgen wäre« (S. 250). Doch sie selbst widerlegte diese Bedenken überzeugend mit den folgenden Worten:

Dieser Brief zeigt, wie ein Arzt behaupten kann, daß jemand noch geisteskrank ist (und deshalb gegen seinen Willen auch weiter in einer Anstalt festgehalten werden muß), obwohl der Arzt diese Person zehn Jahre nicht gesehen hat, sie also in dieser Zeit geheilt sein könnte, wenn sie überhaupt jemals verrückt gewesen ist. (S. 251)


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Schließlich kam es zu einem Gespräch zwischen Hersilie und dem Generalinspekteur der Irrenanstalten, der ihre Kranken­geschichte geprüft und festgestellt hatte, in wie vielen Irrenhäusern sie festgehalten worden war:

Inspekteur: Sie scheinen sich nirgends wohlgefühlt zu haben. 
Rouy: Hätten Sie sich an meiner Stelle wohlgefühlt? (Er hörte auf zu lachen, als ich diese Frage stellte).
Inspekteur: Nein, natürlich nicht! Er reichte mir die Hand. (S. 254)

Am ersten Weihnachtsfeiertag 1865 bekam sie den Besuch von zwei hohen Beamten:

Sie waren gekommen, um mein Denken und meine Vorstellungen zu prüfen und zu sehen, ob es noch Gründe gab, mich auf die Dauer in einer geschlossenen Anstalt festzuhalten. Stand ich nun vor den Großinquisitoren?... Wie kann man die Zukunft einer Frau zerstören und es zulassen, daß man ihr die Freiheit raubt, einfach weil sie ihren Kopf hoch trägt und die Kühnheit hat, von ihrem Talent und von dem zu leben, was sie schreibt? Man hat mich lebendig begraben. (S. 257)

Ihr Halbbruder war inzwischen Herausgeber der Zeitung La presse in Paris geworden. Ihm mißfiel, daß sie entlassen werden sollte. Er hatte ihren Verwandten mitgeteilt, sie sei gestorben. Sie selbst wußte, niemand werde für sie Verständnis haben, weil »man diese Schmerzen am eigenen Leibe erfahren haben muß, um ihre Bitterkeit ganz zu verstehen« (S. 264). Die Ärzte hielten sie für paranoid, weil sie sich darüber beschwert hatte, daß die unzureichende Beleuchtung in ihrer Zelle sie am Schreiben hindere. Und man hatte sie gefragt, was sie denn überhaupt zu schreiben habe. Hersilie war verzweifelt. Sie schrieb:

14 Jahre habe ich in einer geschlossenen Anstalt und isoliert von der realen Welt gelebt, man hat mir meine Bürgerrechte genommen, mich meines Namens beraubt, mir alles genommen, was ich besaß und meine ganze Existenz vernichtet, ohne mir sagen zu können, warum. (S. 275)


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Trotzdem konnte sie noch sagen: »Sie können mich töten, aber sie können mich nicht beherrschen und nicht zum Schweigen bringen« (S. 290). Bald nachdem sie das geschrieben hatte und 14 Jahre, nachdem sie in einer Irrenanstalt untergebracht worden war, begann sich ihr Leben zu verändern. Aus ihrer Geburtsstadt Mailand trafen ihre Papiere ein, und die Behörden konnten feststellen, daß sie tatsächlich die Person war, die sie behauptete zu sein. Ein Vetter von ihr tauchte auf. Es war Laurence Rouy, der Kommandeur einer Division der Haras von der Gardekavallerie Kaiser Napoleons III. Das Erscheinen ihres hochrangigen Verwandten hatte zur Folge, daß die Dinge eine erstaunliche Wendung nahmen:

Seit dem Tag, an dem Dr. Payent erfahren hatte, daß ich die Cousine eines Divisions­kommandeurs der Haras war, erklärte er, es ginge mir sehr viel besser. Nach einem Besuch des Polizeichefs besserte sich mein Zustand weiter. An dem Tag, als die Behörden meinen Fall den Gerichten übergeben wollten, erklärte der Arzt, ich sei vollständig geheilt. (S. 304)

Nun wurde sie noch einmal beim Generalinspekteur der Irrenhäuser vorgelassen, mit dem sie schon früher einmal gesprochen hatte. Nachdem er sich ihre Geschichte angehört hatte, ermahnte er sie:

Inspekteur: Glauben Sie mir, es wäre besser, wenn Sie schweigen würden.
Rouy: Vielen Dank für diesen guten Rat, mein Herr, aber ich kann nicht ständig dem guten Ruf und dem Seelenfrieden derjenigen geopfert werden, die mich schützen und mir Gerechtigkeit widerfahren lassen sollten. (S. 318)

Die Behörden waren beunruhigt. Der Vorgang konnte ein schlechtes Licht auf sie werfen. Frau Rouy forderte die Beamten auf, die Verantwortung für das zu übernehmen, was sie ihr angetan hatten:

Rouy: Sie könnten einfach sagen, Sie hätten sich geirrt. 
Inspekteur: Das ist unmöglich. Wir haben Sie in eine geschlossene Anstalt aufgenommen, weil Sie geisteskrank waren. Wir entlassen Sie, weil Sie geheilt sind.
Rouy: Von was bin ich geheilt? 
Inspekteur: Das müssen die Ärzte sagen. (S. 320)


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Die vielen Briefe und Beschwerden, die Frau Rouy im Lauf der Zeit an Regierungsbeamte gerichtet hatte, begannen nun, Wirkung zu zeigen. Die Behörden mußten jetzt erklären, weshalb man Hersilie Rouy, obwohl sie nicht verrückt war, in ein Irrenhaus eingeliefert hatte. Einer der ersten Ärzte, die sie untersucht hatten, war ein gewisser Pelletan. Die zuständigen Stellen nahmen an, er habe sie aus persönlichen Gründen loswerden wollen und deshalb ihre Einweisung veranlaßt. Aber wie sich bei einem Verhör im Gesundheitsministerium herausstellte, gab es mit dieser Theorie gewisse Schwierigkeiten:

Beamter des Ministeriums: Sie werden wahrscheinlich bestreiten, daß er Ihr Liebhaber war?
Rouy: Gewiß werde ich das, denn ich habe ihn vor dem Tag, an dem er mich fortbrachte, nie gesehen. (S. 324)

Ein Brief der Rouy an einen der Psychiater wurde in der Zeitschrift La France medicale (Bd. 16, 12. August 1871) abgedruckt:

Sie sagen, Sie hätten als Arzt in einer psychiatrischen Anstalt 15 Jahre Erfahrung. Ich habe 14 Jahre als Patientin in solchen Anstalten zugebracht. Sie bestreiten, daß man meine Post abgefangen und meine Fenster luftdicht verschlossen bat, weil Sie nicht glauben könnten, daß solche Maßnahmen wahrscheinlich oder möglich seien. Erlauben Sie mir zu sagen, Herr Doktor, daß Sie ebenso sind wie alle anderen Psychiater. Im gleichen Augenblick, in dem Ihnen etwas aus dem Rahmen zu fallen scheint, rufen Sie: »Geisteskrankheit!« und bescheinigen dem Patienten ohne weitere Untersuchung, daß er verrückt ist. Die Wissenschaft der Psychiatrie verleiht den Ärzten offenbar hellseherische Fähigkeiten, wenn sie ohne eine Untersuchung zu solchen Diagnosen kommen können. (S. 372)

Die Behörden wollten nun unbedingt wissen, wer sie war und aus welcher Familie sie stammte. Frau Rouy war daran weniger interessiert: »Für mich ging es nicht darum zu wissen, ob ich das legitime Kind meiner Eltern, das Produkt eines Ehebruchs oder ein Ba-


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stard war, sondern mich interessierte, weshalb man mich als geisteskrank eingesperrt hatte, ohne daß ich wirklich geisteskrank war, und zwar unter einem falschen Namen« (S. 403). Sie wußte, daß die peinliche Lage, die durch sie entstanden war, erhebliche Auswirkungen über ihren Fall hinaus hatte und den ganzen Berufsstand der Psychiater belastete: »In jeder Hinsicht, überall und immer hatten das Ministerium, die Präfekturen und die Polizei keine andere Sorge, als sich vor mir und voreinander zu rechtfertigen, aber niemand hat sich darum bemüht, die Wahrheit herauszufinden« (S.411).

Der Justizminister erkundigte sich am 18. Oktober 1868 bei dem für die Irrenanstalten verantwortlichen Beamten nach Frau Rouy:

Fräulein Chevalier (sic) redet und schreibt eine Menge. Ich habe einige ihrer Briefe mit großer Aufmerk­samkeit gelesen... Diese Korrespondenz schien mir in der Tat darauf hinzuweisen, daß die Verfasserin an geistigen Störungen litt. (S. 418)

Zum Beweis dafür zitierte er einen Brief, den sie am 16. Juli 1867 an die Verwaltung der Irrenhäuser geschrieben hatte:

Ich halte es für meine Pflicht, noch einmal darauf hinzuweisen, daß es heute zwei Hersilies gibt. Das beweist die Tatsache, daß ich seit 15 Jahren spreche und schreibe, und ich wiederhole, daß die andere Hersilie an einem einzigen Nachmittag verschwunden ist und sich keine Spur von ihr finden ließ. (S. 419)

Damit macht sich Hersilie Rouy über die Psychiater lustig, weil sie darauf bestanden, daß ihre Patientin eine andere Persön­lichkeit sei, als sie es selbst behauptete. Doch für die Psychiater war dieser ironische Humor ein weiterer Hinweis darauf, daß die Patientin geistesgestört sei. Hersilies Antwort auf diese Behauptung war:

Eine Ausländerin gab Konzerte unter den Namen Hersilie Rouy... Sobald man mich eingesperrt hatte, wurde das Gerücht verbreitet, Hersilie Rouy sei gestorben. Aber welche Hersilie war gestorben? Ihr Tod wurde meinen Verwandten, Freunden und Bekannten angezeigt. (S. 221)


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Frau Rouy wendete sich noch einmal an das Justizministerium. Die Haltung des Ministeriums war bezeichnend:

Das geht uns nichts an. Wir haben lediglich eine unbekannte Person aufgenommen, deren Identität ebenso zweifelhaft ist wie ihr Name. Aber unser Arzt, der mehr darüber weiß als wir, ist überzeugt, daß sie verrückt ist, und wir beugen uns seinem zuverlässigen wissenschaftlichen Urteil. (S. 421)

Frau Rouy ließ sich durch diese Reaktion nicht täuschen. Jetzt erkannte sie das ganze Ausmaß ihrer Schwierigkeiten, denn »um das Verhalten von Dr. Pelletan zu rechtfertigen, war es auch notwendig, die Maßnahmen all derer zu rechtfertigen, die mich auch später noch in Gewahrsam hielten« (S. 421). Sobald der Fehler begangen war (wenn es sich wirklich um einen Fehler handelte), würde es notwendig sein, die Verantwortung aller an diesem Verfahren Beteiligten zu überprüfen, und natürlich würde sich die Solidarität der Mediziner, des Rechtssystems und des Justizministeriums gegenüber der Wahrheit und dem Verlangen einer Frau, diese Wahrheit aufzudecken, durchsetzen.

Doch sehr bald schaltete sich als Folge der unermüdlichen Bemühungen von Hersilie Rouy auch der Innenminister ein und verlangte eine offizielle Untersuchung. Dr. Calmeil vom Irrenhaus in Charenton, in das Hersilie zuerst eingeliefert worden war, schrieb an den Innenminister und rechtfertigte seine Maßnahme damit, daß sie zwar bei der ersten Untersuchung durch ihn den Eindruck erwecken konnte, gesund zu sein, aber nur, weil sie sich in einem »Zustand der latenten Remission« (des vorüber­gehenden Nachlassens der Krankheitserscheinungen) befand. Am 22. Mai 1869 erläuterte er auf Verlangen des Ministers die Ursachen ihrer geistigen Erkrankung: »Sie schwächte ihr Nervensystem durch einen Mangel an Schlaf, ein zu intensives Studium und ihre Hingabe an die Musik... Ihr Leben war von Emotionen erfüllt« (S. 428). Man müsse jedoch vorsichtig sein, denn »sie hat immer noch die Fähigkeit, logisch und in einer ganz besonderen Weise zu denken... Am Tag nach ihrer Ankunft redete sie unaufhörlich« (S. 428).

Zu ihrer Verteidigung schreibt Hersilie Rouy: »Psychiater sind wunderbar! Ich würde sehr gern wissen, ob Sie froh und zufrieden sein würden, wenn Sie sich plötzlich in einer geschlossenen Irrenanstalt wiederfänden...« (S. 431).


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Calmeil fuhr fort: »Schließlich haben wir die Unannehmlichkeit vermieden, in der Öffentlichkeit bekanntwerden zu lassen, welche Tragödie sie erleben mußte« (S. 432). Aber Frau Rouy ließ nicht locker und fragte mit Recht, wer denn solche Unannehmlichkeit gehabt hätte:

Die Psychiater waren durchaus in der Lage, diese Unannehmlichkeiten zu vermeiden, als sie mich mit einem Taschenspielertrick aus meinem Haus verschwinden ließen. Sie veränderten meinen Namen, damit niemand erfahren konnte, wo ich war. Sie erklärten mich für tot, damit niemand festzustellen versuchte, was aus mir geworden war. (S. 432)

Am 29. Juni 1865 rechtfertigte sich der Arzt in Orleans, Payent, in einem Brief an den zuständigen Verwaltungsbeamten:

Wenn ich mir ihre Akten ansehe, dann stelle ich fest, daß alle Ärzte, Trelat, Motivier, Falret, Lasegue, Calmeil und Husson sie für geisteskrank hielten; daß die Direktoren und Ärzte der Irrenanstalt in Fains, Mareville und Auxerre, die Ärzte Auzouy, Teilleux, Foville usw. der gleichen Meinung waren... überall kommt es in ihrer Gegenwart zur Insubordination. Die Diagnose: Stolz, Eitelkeit, Neid... Wie alle unsere Kollegen sind wir überzeugt, daß sie an einer unheilbaren Geisteskrankheit leidet, die sich in ihrem übertriebenen Stolz äußert (folie d'orgueil incurable). Deshalb muß sie in einer geschlossenen Irrenanstalt bleiben. (S. 443)

Als das Ministerium mitteilte, Frau Rouy verlange, außerhalb der Anstalt angehört zu werden, schrieb der Psychiater angesichts der Tatsache, daß sie jetzt ruhiger und zurückhaltender sei:

Würde es diesen Heilerfolg nicht in Frage stellen, wenn man sie jetzt der Aufregung einer persönlichen Anhörung aussetzt, die sie verlangt? Schließlich haben wir es hier nicht mit einer Person zu tun, die schuldig ist und die daher die Gelegenheit haben müßte, etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen, sondern vielmehr um eine Person, die schon seit langer Zeit krank ist... und die keine Rechtfertigung, sondern Schutz und Hilfe braucht. (S. 446)


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Das ist die Stimme eines Psychiaters aus dem 19. Jahrhundert! Aber Hersilie Rouy wollte sich nicht beruhigen:

Glauben die Leute im Ministerium vielleicht, daß Geisteskranke keine Gefühle haben?... Hätte man mich vorgeladen und in einer ernsthaften und ehrlichen Weise befragt, dann hätte sich diese mühsam konstruierte »Geisteskrankheit« als unglaubwürdig erwiesen, und es ist dieses Ergebnis, das man unter dem Deckmantel des Bedauerns über meine Situation unter allen Umständen vermeiden wollte. (S. 446)

Der Generalinspekteur schrieb an Innenminister d'Aboville. Er räumte ein, der erste Arzt, der sie untersucht hatte, könnte eine falsche Diagnose gestellt und deshalb den Fehler begangen haben, sie einzuliefern. Aber:

Ich kann mir nicht vorstellen, daß zehn oder fünfzehn Persönlichkeiten mit offiziellen Titeln, achtbare und hochangesehene Leute, von denen einige in der Gelehrtenwelt als Meister ihres Fachs gelten, sich an einer verwerflichen Handlung, an einem Verbrechen beteiligt haben... und bedenken Sie bitte, daß Sie nicht nur diese Männer beschuldigen, sondern auch alle Beamten, Richter und die anderen, die sich während der langen Zeit der Isolierung Ihrer Schutzbefohlenen gezwungen gesehen haben, ihre zahlreichen und unaufhörlichen Proteste anzuhören und zu beurteilen. (S. 457)

Sie wußte, und die Behörden hatten es ihr auch gesagt, daß »wir uns nicht dadurch belasten können, daß wir einen Fehler zugeben«. Doch sie ließ sich in ihrer Haltung nicht erschüttern:

Ich bin heute ebenso normal wie ich es vor 20 Jahren gewesen bin. Ich werde bis zur Wiederherstellung meiner Rechte weiterkämpfen. Ich will nicht wieder unter einem falschen Namen und aufgrund einer auf Anordnung der Polizei im voraus angefertigten Beurteilung unter dem Vorwand verschwinden, daß mein Lebensstil und meine Ideen es erforderlich machen, mich einzusperren und mir meine Bürgerrechte zu nehmen. (S. 460)


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Hersilie Rouy blieb unversöhnlich:

Ich habe nicht die Absicht zu verschweigen, was ich erlitten habe, denn ich habe viel daraus gelernt, und ich bin nicht bereit, diejenigen zu entschuldigen, die mich in diese Hölle geworfen und sich nicht davor gescheut haben, mich zu verleumden, um mich darin festhalten zu können und auch noch nach meiner Entlassung dafür zu sorgen, daß ich von der Bildfläche verschwinde. (S. 466)

1878 bot das Justizministerium Hersilie Rouy als Entschädigung die Summe von 12.000 französischen Francs und eine jährliche Pension von 3600 Francs an (S. 467). Sie starb am 27. September 1881 in Orleans an einer Lungenstauung.

 

Das Buch von Hersilie Rouy ist ein bemerkenswertes Dokument und hat auch dem heutigen Leser manches zu sagen. Wir besitzen fast keine Berichte von Patienten aus dem 19. Jahrhundert darüber, was es damals bedeutete, in einer Irrenanstalt festgehalten zu werden. Dagegen gibt es zahlreiche Berichte von Ärzten aus jener Zeit. Vergleicht man das Buch von Hersilie Rouy mit fast jeder beliebigen »Krankengeschichte« eines Psychiaters aus dem 19. Jahrhundert, dann zeigt sich, daß ihr Buch nicht nur eine sehr viel detailliertere und ausführlichere Schilderung der Zustände liefert, sondern auch sehr viel authentischer ist. Sie beschreibt ihre persönlichen Erfahrungen und behandelt ihr Thema nicht rein theoretisch. Ihr Bericht hat auch deshalb eine besonders große Bedeutung, weil man sich heute immer deutlicher der Tatsache bewußt geworden ist, daß besonders Frauen oft zu Opfern spezifischer psychiatrischer Diagnosen werden. 

Das Buch von Hersilie Rouy, das die Fachleute nicht kennen, die sich schriftlich zu diesem Problem äußern, ist vielleicht die erste authentische Darstellung eines solchen Falles. Viele Feministinnen und einige weibliche Psychiater, die sich als Feministinnen bezeichnen, haben sich kritisch mit dem Diagnostic and Statistical Manual (DSM III), dem offiziellen Lehrbuch der American Psychiatrie Association für die Klassifizierung der »Geistes­kranken« beschäftigt.5

Der Bericht von Hersilie Rouy zeigt nur allzu deutlich, welche Fehler bei solchen Diagnosen gemacht werden können. Schließlich ergibt sich auch aus einem viel gelesenen Artikel von David


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Rosenhan, On Being Sane in Insane Places, wie leicht ein völlig normaler Mensch in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert werden kann, und wie schwierig es ist, eine Entlassung zu erreichen, selbst wenn die Einlieferung nur im Rahmen eines Experiments erfolgt ist und dieser Umstand dem behandelnden Psychiater erläutert wird.6) Das Buch von Hersilie Rouy ist der erste Bericht, der beweist, wie berechtigt das Experiment von Rosenhan war.

Nichts von dem, was damals mit Frau Rouy geschah, würde man heute als »Therapie« bezeichnen. Wir sollten jedoch bedenken, daß die Psychiater, die sie untersuchten, überzeugt waren, sie sei zu ihrem eigenen Besten in die Anstalt eingeliefert worden. Sie bezeichneten die Art, wie sie mit ihrer Patientin umgingen, als »Therapie«, auch wenn diese Therapie nur in dem Versuch bestand, ihren Willen zu brechen. Im Verlauf der vergangenen hundert Jahre hat sich die Praxis der Psychiatrie entscheidend verändert, dennoch muß ich in diesem Buch einige beunruhigende Fragen stellen: Ist es möglich, daß es sich bei Hersilie Rouy nicht um einen Einzelfall gehandelt hat und so etwas auch heute noch geschehen könnte? Ist es möglich, daß das, was Hersilie in der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebt hat — der Versuch, ihren Willen zu brechen, sie als geisteskrank und behandlungsbedürftig zu bezeichnen —, der Kern und die Grundlage jeder Therapie ist? Ob wir die Menschen nun in psychiatrische Anstalten stecken oder nur ihre Träume interpretieren, sobald wir einer Gruppe in unserer Gesellschaft erlauben, darüber zu befinden, was normal und was anormal ist, haben wir damit begonnen, die Struktur zu schaffen, auf der die Psychotherapie, wie wir sie heute kennen, aufgebaut ist. Hersilie Rouy ist eine der ersten, die die Existenzberechtigung dieser Struktur in Frage gestellt haben, und deshalb hat sie es verdient, nicht in Vergessenheit zu geraten.

Aber zur gleichen Zeit, als Hersilie Rouy und zahllose andere Menschen überall in den europäischen Irrenhäusern ähnliche Erfahrungen machten, kam man in der Schweiz zu einer neuen Betrachtungsweise, die für die weitere Entwicklung der Psycho­therapie verhängnisvolle Folgen haben sollte.

 

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     Moralische Defekte: Die Geschichte der Julie La Roche am Bodensee    

 

Der Begriff »moral insanity« (moralische Defekte) wurde von dem britischen Psychiater James Cowles Prichard in seiner Schrift Treatise on Insanity7) geprägt.

Richard Hunter und Ida Macalpine haben in ihrem Buch <Three hundred Years of Psychiatry 1535 bis 1860: A History Presented in Selected English Texts> folgendes über den Begriff moral insanity zu sagen:

Zu seiner Zeit war es ein wesentlicher Fortschritt, den man fast als revolutionär bezeichnen könnte, auch solche Fälle als Geistes­krankheiten anzusehen, in denen die beiden Kriterien »Wahnvorstellung« und »Halluzination«, die seit langem und auch noch jetzt als typische Kennzeichen der Geisteskrankheit angesehen wurden und werden, nicht nachzuweisen sind. 8)

Das ist eine interessante Definition, die zeigt, daß bei einem Patienten vor Beginn einer Psychotherapie die Diagnose eines moralischen Defekts die unabdingbare Voraussetzung war, denn dieser Begriff bedeutet, daß sich ein solcher Mensch in seinem Leben nicht so verhält, wie wir es von ihm erwarten. Es ist praktisch unmöglich, ihn einer Psychotherapie zu unterziehen, wenn man ihm nicht nachweisen kann (und in manchen Fällen wird der Patient gezwungen, dieses Urteil zu akzeptieren), daß er ein unmoralisches Leben führt oder zumindest ein Leben, das nicht den Moralvorstellungen seiner Mitmenschen entspricht, und deshalb der »Hilfe« bedarf. Wir behaupten oft, daß die Menschen, die sich freiwillig einer Psychotherapie unterziehen, selbst dieses moralische Urteil fällen, aber das kommt fast niemals vor. Die Tyrannei, die darin liegt, daß man die Lebensweise eines anderen Menschen als von der normalen Form abweichend verurteilt, war und ist die Grundlage jeder Psychotherapie.

Vor einigen Jahren habe ich das Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen in der Schweiz am Bodensee besucht, das auch unter dem Namen Binswanger-Klinik berühmt wurde. Ludwig Binswanger, der Begründer der »Daseinsanalyse«, war ein Schüler von C.G. Jung und hat Jung 1907 zu seinem ersten Besuch bei Freud in Wien begleitet.

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Freud wiederum hat Binswanger 1912 im Bellevue besucht. Dort war auch Anna O. (Bertha Pappenheim) untergebracht, die berühmte Patientin von Josef Breuer, über deren Fall er 1895 in den Studien über Hysterie berichtet.9) Ich suchte nach neuem Material über Ida Bauer (Sigmund Freuds Dora) und glaubte, es dort finden zu können. Wir wissen, daß Anna O. als Patientin im Sanatorium Bellevue gelebt hatte, und wir wissen auch, daß Freud um 1890 Patienten dort unter­gebracht hat.

Ich kann mich noch heute an meinen ersten Besuch im Bellevue und die seltsamen Gefühle erinnern, die mich überkamen, als ich durch das schmiedeeiserne Tor in den großen, stillen, parkartigen Garten ging, in dem die Gebäude des Bellevue lagen. Das Sanatorium war kürzlich nach mehr als 150 Jahren geschlossen worden und jetzt unbewohnt. Es war Herbst, alles war ruhig, und als ich über das Herbstlaub ging und zu den riesigen Bäumen aufschaute, mußte ich an die Gefühle der Patienten vor 100 Jahren denken, als das Bellevue auf der Höhe seines Ruhmes stand, wenn sie hier ankamen, um ein neues, für sie ungewohntes Leben zu beginnen.

Wie viele von Leid und Ängsten erfüllte Frauen waren diesen Weg schon vor mir gegangen? 

Ich dachte an das erste Kapitel des Romans Der Zauberberg von Thomas Mann, in dem Hans Castorp zum ersten Mal das Schweizer Tuberkulosesanatorium Schatzalp besuchte (das romanhafte Gegenstück zu der in den Schweizer Alpen gelegenen Stadt Davos), in der Absicht, drei Wochen dort zu verbringen, und der dann sieben Jahre in dem Sanatorium bleiben mußte. Und ich dachte an den Vortrag von Thomas Mann in Princeton, in dem er das Entstehen des Romans schilderte und erzählte, wie er 1912 seine Frau drei Wochen in Davos besuchte und der leitende Arzt bei einer Untersuchung einen Schatten an seiner Lunge feststellte und ihm vorschlug, selbst sechs Monate im Sanatorium zu bleiben. Thomas Mann wußte, wenn er diesem Rat folgte, hätte er sich vielleicht wie seine Romanfigur Hans Castorp in eine magische Zeitzone begeben, in der man ihm unter Umständen sieben Jahre seines Lebens genommen hätte.

Ein Fremder mit »Fachkenntnissen« sagt einem, man sei krank und bedürfe einer besonderen Behandlung. Wie überzeugend mußte ein solcher Ratschlag sein, wenn die Patientin eine junge Frau war, deren Vater sie in das Sanatorium gebracht hatte, um die Ärzte in der fortschrittlichsten, elegantesten und angesehensten Klinik ganz Europas zu konsultieren!

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Wolfgang Binswanger, der Sohn Ludwigs und letzter medizinischer Direktor der Klinik, führte mich in eines der Häuser und zeigte mir ein Zimmer, in dem Tausende von Akten aufbewahrt wurden. Es waren die Krankengeschichten aller Patienten, die von 1875 bis zur Schließung des Sanatoriums im Jahr 1975 im Bellevue gewesen waren. Bei einer oberflächlichen Durchsicht stellte ich fest, daß diese Akten nicht nur die von den Ärzten verfaßten Krankengeschichten, sondern auch Briefe der Patienten an Angehörige, Briefe des älteren Binswanger an andere Ärzte, Briefe von Bekannten der Patienten, Fotos und manches andere enthielten. Ich brachte zwei Wochen damit zu, die Akten aller Frauen zu lesen, die in der Zeit 1880 bis 1900 in Kreuzlingen behandelt worden waren. Es war der Zauberberg, dokumentiert durch Originalakten. Aber anders als die Figuren in dem Roman von Thomas Mann handelte es sich bei diesen Frauen um Personen, die wirklich gelebt hatten. Sie brachten nicht ihre Ansichten über das Leben in Europa vor dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck, sondern schilderten ihr eigenes Schicksal.

So viele Leben, so viel Leid, und so wenig war davon geblieben! Das machte mich traurig, regte mich aber auch zu dem Versuch an, im einzelnen festzustellen, was mit diesen Frauen geschehen war. Ihr Schicksal und das Leben, das sie wirklich geführt hatten, würden mir helfen, die vor der Öffentlichkeit verborgene Geschichte der Psychotherapie zu verstehen.

Aus einem gekürzten Brief an Dr. Binswanger: Meran, 9. März 1894 - Sehr geehrter Herr Doktor! Am Vormittag des 11. werde ich, aus Innsbruck kommend, in Konstanz eintreffen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns vom Bahnhof abholen lassen könnten, denn ich kenne mich dort nicht aus. Meine Tochter und ich werden Trauer tragen. Sie ist ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen, etwas größer als ich, sehr hübsch mit schwarzen Augen. Ich werde einen Hut tragen und als Erkennungszeichen einen Regenschirm mit goldenem Griff in der rechten Hand halten. Meine Tochter weiß nicht, daß ich sie in Konstanz zurückfassen werde. Ich werde ihr sagen, daß wir uns in einer Pension einquartieren werden, um einen Ruhetag einzulegen. Alles andere wird sich dann ergeben. Hochachtungsvoll...


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Ein typisches Szenarium, wie ich es in den Krankengeschichten immer wieder vorfand: Einer jungen Frau wird von ihrem Vater (von dem sie sich in letzter Zeit distanziert hat) gesagt, daß er sie zu einem Verwandtenbesuch in die Schweiz mitnehmen will. Auf der Reise dorthin hält der Zug auf dem kleinen Bahnhof von Kreuzlingen. Es ist ein stiller Wintertag. Die junge Frau blickt aus dem Fenster und sieht die kahlen Bäume, den ruhigen kleinen Ort, die menschenleeren Straßen und die kleinen Häuser. Sie sieht den dunklen See und den Nebel und denkt daran, daß die Menschen eine solche Szenerie als romantisch bezeichnen. Hier kann nichts Aufregendes geschehen.10 

Sie schaudert und ist froh, daß sie in Berlin, in München oder in Wien zu Hause ist. Ihr Vater ist ausgestiegen und fordert sie auf, auf den Bahnsteig zu kommen. Dort stellt er ihr einen Mann vor, den sie noch nie gesehen hat: »Herr Doktor Binswanger.« Der Vater macht einen etwas bedrückten Eindruck, tritt von einem Fuß auf den anderen, wendet sich plötzlich zum Gehen, steigt in den Zug und ruft: »Folge dem Doktor!« Das ist kein Urlaub, es ist ihr Schicksal. Man hat sie überlistet und in eine Klinik für hysterische Frauen gebracht, in ein Sanatorium für Nervenkranke. Binswanger weiß kaum etwas über sie. Aber da man sie ihm gebracht hat, »weiß« er, daß sie krank ist, daß sie seiner Hilfe bedarf, weil sie hysterisch ist. Der Blick, mit dem sie ihren Vater ansieht, als er sich von ihr trennt, erleichtert die Diagnose: Diese junge Frau leidet an einem moralischen Defekt. Das heißt, nach Meinung ihrer Angehörigen und ihrer Ärzte hat sie einen gesunden Verstand und normal funktionierende Sinne, aber sie verhält sich nicht wie andere Frauen. Sie stellt zu hohe Ansprüche, sie hat zu viele ausgefallene Ideen, sie ist zu unabhängig. gjßie weiß nicht, was das Beste für sie ist. Sie weiß nicht, wie man sich korrekt benimmt. Sie hat einen moralischen Defekt.

Binswanger gefiel der von dem englischen Arzt geprägte Begriff sehr gut. Es war die richtige Bezeichnung für den Zustand seiner Patientinnen. Es gab sehr viele solche Patientinnen, und augenscheinlich wurden es immer mehr. Er konnte den Andrang kaum noch bewältigen und mußte Assistenten einstellen, angesehene Ärzte wie er selbst; Dr. Hermann Smidt aus Bremen und Dr. Otto von Holst aus Livland. Man muß es Binswanger allerdings zugute halten, daß er nach Möglichkeit keinen physischen Zwang und keine Medikamente anwendete. Er bevorzugte, was er als traitement moral bezeichnete. Heute würden wir es »Psychotherapie« nennen.


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Eine moralische Behandlung für eine moralische Krankheit schien das Richtige zu sein. Einigen der wohlhabenderen Patientinnen aus der Oberschicht konnte er die Unterbringung »in einer ganzen Villa anbieten, wo ihnen sogar ihr eigenes Dienstpersonal zur Verfügung stand«.11)

Aber dieses ansprechende Bild von einem angenehmen Kuraufenthalt auf dem Lande für leicht exzentrische vornehme Europäer gibt die Wirklichkeit nicht ganz richtig wieder. Der Einblick in die Archive des Sanatoriums erlaubt mir eine realistische Beurteilung dessen, was dort geschah.

Am 25. Februar 1896 schrieb ein gewisser Herr La Roche (manchmal wird auch die Schreibweise Laroche benutzt) aus Basel einen Brief in deutscher Sprache an Dr. Robert Binswanger.12)

Sehr geehrter Herr!
Erlauben Sie mir die Anfrage, ob Sie bereit wären, eine junge Dame im Alter von 19 Jahren, die von ihren Ärzten als »psychisch pervers« diagnostiziert worden ist, zur Beobachtung aufzunehmen.
Die Dame ist gegenwärtig nicht hier, ich könnte Ihnen jedoch ihre Ankunft in Kreuzlingen telegrafisch mitteilen, damit sie Ihre Anstalt in angemessener Begleitung und ohne Zwischenaufenthalt in Basel erreichen kann, um dort eingeliefert zu werden, falls Sie bereit sind, sie als Patientin aufzunehmen. Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie die Patientin aufnehmen können. Die Dame muß unter strenge Aufsicht gestellt werden, damit jeder Fluchtversuch verhindert werden kann. In Erwartung Ihrer Antwort bin ich mit vorzüglicher Hoch­achtung La Boche-Ringwald.
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Am 28. Februar 1896 schrieb der Gynäkologe und Hausarzt R. Massini auf Bitten von La Roche einen Brief an Binswanger. Dieser Brief sagt vieles über die Einstellung der Ärzte im 19. Jahrhundert zu Frauen wie Julie La Roche aus.

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Sehr geehrter Kollege!
Auf Wunsch des Herrn L. La Roche-Ringwald erlaube ich mir, Ihnen in tunlichster Kürze über dessen Tochter Julie zu berichten.

Frl. Julie La Roche ist 19 Jahre alt. Sie verlor vor sechs Jahren ihre Mutter an Diabetes, der Vater ist 52 Jahre alt, führte nach dem Tode seiner Frau nicht gerade ein musterhaftes Leben, er hat eine Frau zur Maitresse, mit welcher er oft bis vor zwei Jahren in Gesellschaft seiner Kinder spazierenging; daß der Mann der Frau an diesen Spaziergängen teilnahm und seinerseits, durch Geld des Herrn La Roche unterstützt, das Verhältnis duldete, macht die Sache nicht viel besser.

Herr La Roche, selbst leidend, und oft schlechter Laune, auch sehr oft heftig, bot den Kindern kein liebliches Heim. In dieser Umgebung von Mägden und einer ziemlich dummen Gouvernante gehütet, hatte Frl. La Roche ihre Entwicklungsperiode. Vor zirka zwei Jahren lernte sie eine Freundin kennen, mit welcher sie wahrscheinlich auch lesbische Liebe trieb. Zugleich zeigte sich ein immer zunehmender Hang zur Lüge, welcher einesteils die unerquicklichen häuslichen Verhältnisse in ganz übertriebener Weise aufbauschte, andernfalls aber in freierer Phantasie einen wahren Roman dichtete, wobei sowohl ihre Beziehung zur Familie, als auch ihre sonstigen Erlebnisse mit einem Kranz von unwahren Tatsachen ausgeschmückt wurden. Nachdem Frl. La Roche bis vor einem Jahr in Lausanne in einer Pension zugebracht, brannte sie, wegen ihrer Metritis nach Hause zurückgekehrt, nach einem wohl etwas heftigen Wortwechsel ihrem Vater durch und reiste mit ihrer Freundin, Frl. Schmitter, nach Berlin; von da an begann ein abenteuerliches Leben. 

Zu Neujahr soll sie eine Magenblutung gehabt haben. reiste von Wiesbaden plötzlich nach Berlin und trat dort im Sanatorium von Dr. Aronsobn in Behandlung von Prof. Dr. Ewald. Mitte Januar brannte sie dort, angeblich mit ihrem Bruder, in Wirklichkeit mit einem Abenteurer von Smirnoff durch und erschien plötzlich mit diesem als Verlobten in Basel. Hier wurde natürlich das Verhältnis nicht genehmigt, und nach wenigen Tagen verschwand die Tochter, einen Brief hinterlassend, daß sie von Smirnoff heiraten oder sich umbringen werde. Seither sind alle polizeilichen Recherchen nach der Vermißten ohne Erfolg gewesen. Die Flucht aus Basel kann nur mit Hilfe von bestochenen Angestellten ins Werk gesetzt worden sein, wie auch Frl. La Boche in Berlin schon Detektive scheint in ihren Sold gezogen zu haben.


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Von Smirnoff ist ein Russe, der mit seiner von ihrem Manne getrennten Mutter in Berlin wohl wesentlich von Schulden lebt und Frl. La Roche, welche auch ihre pekuniären Verhältnisse übertrieben günstig darzustellen beliebt, offenbar ausbeutet. Es scheint mir aus allem hervorzugehen, daß Frl. Julie, die sonst ein ganz liebenswürdiges Mädchen ist, einem Zustand von Moral Insanity entgegengeht, welcher eine ärztliche Beobachtung wünschenswert macht; und Hr. Dr. Aronsohn fand die in seiner Pflege befindliche Kranke psychisch alteriert. Frl. La Roche wird sich kaum freiwillig einem Aufenthalte im Bellevue unterziehen, sie wird auch sicher Fluchtversuche, vielleicht auch wenigstens fingierte Selbstmordversuche machen: es wird also eine sehr genaue Überwachung durch zuverlässige und der Bestechung nicht zugängliche Wärterinnen notwendig sein. Es ist natürlich unter den oben genannten Umständen Gravidität nicht ausgeschlossen. Eine Cousine der Kranken ließ sich vor einigen fahren durch einen häßlichen Kutscher schwängern, ein Vetter und zugleich der Schwager des Vaters (er hatte die Schwester des Herrn La Röche, seine Cousine Germaine, geheiratet) war geisteskrank, ist aber jetzt wieder zu Hause. Ich glaube nicht, daß Herr La Roche seine Tochter je mißhandelt hat, doch mag er sie oft heftig angefahren haben. 

Wie Sie sehen, ist es kein erfreuliches Bild, daß ich vor Ihnen entwickle, und ich bin auch sehr mit mir im Zweifel, was aus dem armen verdorbenen Mädchen werden soll; leider habe ich selbst keinen Einfluß auf sie, da sie mich als Verbündeten ihres Vaters hält, den ich allerdings, trotz seiner Fehler, die er nun schwer büßen muß, sehr bedaure. Es versteht sich von selbst, daß Sie die Kranke beobachten und falls ein genügender Grund zur Diagnose einer Psychose (Geisteskrankheit) nicht gefunden wird, wieder entlassen werden, doch hoffe ich immer noch, die Disziplin eines Anstaltslebens und die geeignete Behandlung werden die arme Kranke wieder so herstellen, daß sie der Gesellschaft wieder kann übergeben werden.

Entschuldigen Sie meinen langen Schreibebrief, aber ich konnte mich kaum kürzer fassen, da mir sehr daran liegt, Sie möglichst zu orientieren.
Mit kollegialischer Hochachtung
Basel, den 28. Februar 1896.
Dr. R. Massini.


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Julie La Roche wurde am 12. April 1896 in die Binswanger-Klinik eingeliefert. In den Archiven des Bellevue gibt es viele Krankengeschichten, die vermuten lassen, wie es ihr hätte ergehen können. Es gibt Fälle, in denen eine junge Frau in der Blüte ihrer Jugend aufgenommen wurde, um 40 Jahre in dieser Anstalt zu bleiben und schließlich in ein Altersheim entlassen zu werden. Mit dieser leidenschaftlichen, unabhängigen und einfallsreichen jungen Frau geschah dies nicht. Nach weniger als einer Woche hatte sie das Sanatorium wieder verlassen. Und nicht nur das, sondern sie entschloß sich zu einem für die damalige Zeit außerordentlich mutigen Schritt und schrieb ihre eigene Geschichte, um sie in einer angesehenen deutschsprachigen elsässischen Zeitung, der Straßburger Bürgerzeitung am 24. Juli 1896 zu veröffentlichen.

Dieses Bekenntnis ist in vieler Hinsicht ein einzigartiges Dokument:

Ich, Julie v. Smirnoff geb. La Roche, Tochter des Louis La Roche und der Louise La Roche geb. Ringwald, aus Basel, sehe mich gezwungen, meine Lebensgeschichte, wenigstens einen Abschnitt davon, in möglichst kurzen Worten der öffentlichen Meinung und Hülfe preiszugeben. 

Ich wurde als ältestes Kind meiner Eltern den 8. März 1877 zu Basel in der Schweiz geboren. Bis 1887 war meine Kindheit eine überaus glückliche zu nennen, da ich treu bewacht war von steter Mutterliebe. Im Jahre 1887 starb meine Mutter, und von da an fing mein Leben bereits an ein Kampf, mit Leiden verbunden, ums Dasein zu werden. Mein Vater, der von jeher eine große Abneigung gegen mich hatte, bekundete dieselbe mir nun in allen Stücken. Er behandelte mich mit raffinierter Härte und hetzte meinen jüngern Bruder, an dem ich mit großer Liebe hing, dergestalt gegen mich auf, daß unser geschwisterliches Verhältnis sehr darunter litt.

1893 kam ich auf mein dringendes Verlangen nach Lausanne in Pension, da ich es zu Hause nicht mehr aushalten konnte. Mein Vater mißhandelte mich auf eine furchtbare Art und Weise, und seine Trunkenheit sowie das unsittliche Leben, das sich bis in unser Haus zog, machten mir das Leben in Basel unerträglich. 1895 kam ich aus Lausanne nach Basel zurück. Ein Sturz auf der Treppe, bei welchem Unglück ich Tinte auf die Treppe goß, brachte meinen Vater wiederum in furchtbare Wut gegen mich, und hatte durch den Sturz oft stundenlang die schrecklichsten Szenen auszustehen.


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Anfangs März desselben Jahres war ich gezwungen, meinem Vater Vorstellungen über sein unsittliches Leben, das sich immer mehr in unser Haus zog, zu machen. Er wies mir daraufhin nachts 10 Uhr die Türe, nachdem er mit einem scharfen Gegenstand so stark nach mir geworfen hatte, daß das Blut mein Gesicht bedeckte und eine tiefe Wunde auf der Stirn das Zeichen davon war. Für all diese Sachen stehen mir Zeugen zur Seite. Ich wandte mich dann nach Berlin, wo ich Bekannte hatte, von wo aus ich ihm auch schrieb. In Berlin erkrankte ich heftig. Nachdem ich wieder genesen war, wandte ich mich nach Wiesbaden, wo ich in einer Damenpension Aufnahme fand. Im Dezember 1895 war ich genötigt, Wiesbaden zu verlassen, um nach Berlin auf Anraten des Wiesbadener Arztes, zu einem berühmten Professor dort zu gehen, da ich ein Magenleiden hatte. Ich setzte meinen Vater davon in Kenntnis. Dort lernte ich einen jungen, russischen Bojaren, Edgar von Smirnoff, kennen; seine Schwester war schon früher eine Freundin von mir. Nachdem wir uns lieben gelernt hatten und mein Zustand es wieder erlaubte, reiste ich mit seinen nächsten Angehörigen nach Basel, damit ich zuvor meinen Vater in Kenntnis gesetzt hatte. Kaum hatte ich meinem Vater etwas gesagt von der Liebe, die ich zu diesem russischen Edelmann hatte, als er in furchtbare Erregung geriet, mich auf die schrecklichste Art mißhandelte mit Stockhieben, Geschirr­nachwerfen und Fußtritten. Den andern Tag kam dann Edgar von Smirnoff, um bei meinem Vater um meine Hand anzuhalten. Nur Grobheiten seinerseits waren die Antwort. Von da an schloß er mich gänzlich in Haus und Garten ein, und ich war furchtbaren Mißhandlungen und den raffiniertesten Schikanen, die sich auf Edgar von Smirnoff und meine selige Mutter bezogen, ausgesetzt. 

Den 3. Februar 1896 ergriff ich dann die Flucht. Die Mißhandlungen, die Trunkenheit und das unsittliche Leben meines Vaters sowie die Liebe zu Edgar von Smirnoff hießen mich, diesen Fluchtplan ergreifen. Ich wandte mich nach Frankreich, während Edgar von Smirnoff in Berlin weilte. Ein Freund Edgar von Smirnoffs, Herr Dr. Taunay in Saarburg, bot uns sein Haus an. Von da an reisten wir Mitte Februar nach England, um uns trauen zu lassen. Ich war krank, heftige Schmerzen in den Lungen und Blutungen derselben, infolge von schrecklichen Stockhieben seitens meines Vaters, die ich in Basel zu ertragen hatten, erschwerten mir alles, und die größte Schonung, Sorgfalt und

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Aufopferung meines Gemahls haben es ermöglicht, daß mein Zustand bis jetzt noch ungefährlich ist. In Saarburg, wohin wir nach unserer Trauung wieder zurückkehrten und wo ich seit einiger Zeit nur liegen durfte, überraschte uns eines Tages die Polizei und dann mein Vater. Mein Vater erheuchelte, um seinen Zweck zu erreichen, den gebrochenen Vater, wie er es vor den Menschen sehr oft tat. Mein Gemahl und Dr. Taunay wurden verhaftet. Es wurde mir nicht gestattet, meinem Gemahl auch nur die Hand zu reichen. Krank wurde ich bei Sturm und Regen von Herrn La Roche fortgeschleppt. Mein Trauschein, alles war umsonst. 

Er brachte mich mit gerichtlichen Transporteuren nach Kreuzlingen, Privat-Irrenanstalt (wie in allen Lexikons zu sehen ist). Dort wurde ich am ersten Tag für melancholisch und wahnsinnig erklärt. Mein Vater stieß die schrecklichsten Drohungen gegen mich aus, nur wenn jemand in der Nähe war, gebärdete er sich äußerst liebenswürdig. Ich wurde ins Bett gesteckt und von zwei Wärterinnen Tag und Nacht bewacht. Auf meine beständige Bitte, mir einen Geistlichen zusenden, erhielt ich die höhnische Antwort: »Für was dies, wir stammen ja alle vom Affen ab.« Die letzten Worte, die mein Vater an mich richtete, waren: »Nun, hier kannst du lange sitzen.« 

Nur Kaffee und ein trockenes Stück Brot morgens, eine Wassersuppe mittags und wieder Kaffee und ein Stück Brot nachts waren meine Nahrung. Während der 6 Tage, wo ich gezwungen wurde, mein Bett zu hüten, wurde dasselbe nie gemacht. Auf das Befragen des Arztes und des Herrn La Roche sagte ich, daß ich seit einem Monat in andern Umständen sei. Pulver, 7 jeden Tag, wurden mir eingegeben in Kreuzlingen, auf strengen Befehl Dr. Binswangers, die mir die furchtbarsten Schmerzen verursachten, an denen ich jetzt noch leide. Die Nacht von Sonnabend auf Sonntag sollte meine Erlösung sein. Die Nacht vorher wollte ich schon fliehen, aber es gelang mir nicht. Erstens waren alle Türen verschlossen, und die Wächterin erwachte. Gott hat mir aber geholfen in darauffolgender Nacht. Ich konnte einige Sachen zusammenpacken, ohne daß die Wächterin erwachte, und mich nachts um 1 Uhr aus dem Zimmer schleichen, die Türe, die sonst bei Tag und Nacht geschlossen war, fand ich offen. Die Haustüre gehorchte dem Druck meiner Hand und wie ich durch den Garten kam, an das große eiserne Tor, stand dasselbe groß offen, und ich konnte die Flucht ergreifen.


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Welch ein Wunder, denn sonst war diese Türe, wie ich durch mein Fenster sehen konnte, schwer verrammelt. Man kann sich denken, welch seliges Gefühl mich durchzog, als die Mauern der Privat-Irrenanstalt von Dr. Binswanger in Kreuzlingen hinter mir waren. Daß ich vollkommen geistig normal bin, nicht einmal nervös, bezeugen schriftlich und sind jederzeit bereit, es auch vor Gericht zu bezeugen, zwei tüchtige Ärzte, die mich längere Zeit behandelt haben, worunter ein Kreisphysikus. 

Es geht aus diesem unmenschlichen Verfahren, ein eigenes Kind, das geistig vollständig normal ist, in ein Privatirrenhaus zu sperren, hervor, daß Erbschaftsangelegenheiten der Grund sein können. Mit meinem 20. Jahr bin ich laut Basler Gesetz majoren oder, wenn ich vorher verehelicht bin, Erbin meines mütterlichen Vermögens, das sich auf Millionen versteigt. Ich nehme mit voller Bestimmtheit an, daß, wäre ich noch einige Wochen länger in dieser Irrenanstalt, bei dieser Behandlung, bei dieser erbärmlichen Kost und bei diesen Pulvern, die mir furchtbare Leibschmerzen verursachten, und immer in der Umgebung von Wächterinnen, die mir vorredeten, ich sei irrsinnig, und in der Angst und Sorge um meinen Gemahl, von dem ich absolut nichts wußte, da ich nie schreiben konnte und durfte, von dem ich in so brutaler Weise getrennt worden bin, geblieben, so würde gewiß Herr La Roche-Ringwald und die Ärzte Dr. Binswanger, der gewiß vorher in langer Verhandlung mit meinem Vater gewesen sein mag, denn er wußte schon von meinem Kommen, wie ich in Erfahrung gebracht habe, und Dr. v. Holst und Dr. Smit ihren Zweck erreicht haben. 

Ist es überhaupt möglich, daß ein Arzt nach zwei Stunden, nachdem er kein Wort mit einem gesprochen, mich für verrückt erklären kann? 

Ich möchte die öffentliche Meinung fragen, ob es keine Mittel gibt gegen solches Vorgehen?

 

Am 9. August 1896 brachte die Schweizer Zeitung Thurgauer Tagblatt eine Zusammenfassung dieses bemerkenswerten autobiographischen Berichts, und Dr. Robert Binswanger verklagte die Zeitung wegen übler Nachrede. Das Gericht bestellte den Göttinger Psychiater Dr. D. Kolb zum Sachverständigen, der die Vorwürfe untersuchen sollte. Er suchte Dr. Binswanger in seiner Klinik auf, sprach aber nicht mit Julie La Roche. Sein Bericht, den wir in den Gerichtsakten der Stadt Thurgau finden konnten, ist ein weiteres bemerkenswertes Beispiel für das Denken der damaligen Zeit und beweist den außergewöhnlichen Mut der Julie von Smirnoff.


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Dr. Kolb schrieb:

... Die Pflege und Behandlung der Kranken entsprach vollkommen ihrem damaligen Zustand; es sind die diesbezüglichen Ausführungen und Verdächtigungen in den Zeitungsartikeln betr. Ordnung, Diät, lieblose Behandlung, handgreifliche Lügen. Es ist auch nicht wahr, daß sie für verrückt erklärt wurde, ihr Verlangen nach einem Geistlichen mit frivolen Redensarten von der Hand gewiesen wurde. Von einer widerrechtlichen Gefangenhaltung, Einsperrung ins Zimmer und ins Bett und dergl. ist ganz und gar keine Rede. Das Benehmen der Kranken während ihres Aufenthaltes, ihre wiederholt und stetsfort geäußerte Zufriedenheit stehen in auffallend grellem Kontrast mit dem Inhalt ihrer Publikation. Sie benahm sich liebenswürdig, folgsam, war zufrieden, mitteilsam und heiter. Das Wartpersonal hatte Zutrauen zu ihr und dachte im Ernste nicht an Fluchtversuche von selten der Kranken. Die Schilderung der Kranken über ihre Flucht entsprechen der Wirklichkeit nicht, sie sind auf die Neugier des Publikums berechnet. — Die Kranke hatte ihre Flucht vorbereitet und dieselbe gelang ihr ganz leicht. In dem in der Straßburger Bürgerzeitung erschienenen und von der Kranken unterfertigten Artikel tritt eine Lügenhaftigkeit und Schamlosigkeit zu Tage, welche bei einer jungen Dame von Stand und angeblich guter Erziehung an sich schon als Ausfluß geistiger und moralischer Defekte erkannt und gezeichnet werden müßten. 

Das sind im wesentlichen die Merkmale derjenigen psychischen Erkrankungsformen, welche kurzum als »Moral Insanity« bezeichnet wird — eines moralischen und geistigen Schwächezustandes. Es ist dies auch die Ansicht der Herren Dr. Smith und Binswanger — wenngleich sie nicht so weit gegangen sind, diese Ansicht auf Wunsch des Vaters La Röche gutachtlich zu äußern, sie taten dies nicht aus Vorsicht und weil sie in der kurzen Zeit zu wenig eigene Beobachtungen zur Hand hatten. um ein solches Gutachten zu begründen. Solche Kranke können je nach Zeit, Lage und umgebender Gesellschaft ihre Defekte sehr wohl verdecken oder geheimhalten, und es hat deshalb gar nichts Auffallendes, wenn dieselben von Laien für geistig gesund gebalten werden und wenn in der Presse sogar ärztliche Zeugnisse über ihre Gesundheit produziert werden. Dennoch


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gelange ich zum Schlüsse, meine subjektive Meinung dahin abzugeben: Es seien die sämtlichen auf die kranke Frau von Smirnoff-La-Roche bezüglichen Anschuldigungen in dem Artikel gegen die Privat-Irrenanstalt des Herrn Dr. Binswanger als vollkommen grundlos erfunden. 

Bezeugt:
Göttingen, den 7. September 1896 
Dr. D. Kolb, psych. Adjunkt.

Die Zeitung wurde zu einer Geldstrafe verurteilt und veröffentlichte am 11. Februar 1897 einen Widerruf, der die folgenden Sätze enthielt:

Es hat den Anschein, daß Julie Laroche seit ihrer Kindheit exzentrisch gewesen ist und während ihres Aufwachsens eine ausgesprochene Neigung zur Unwahrheit, schlechtem Umgang, Verschwendungssucht und Perversionen entwickelt hat und, kurz gesagt, alle Symptome der Krankheit zeigt, die man heute als »moralische Geisteskrankheit« kennt.

 

Hier haben wir ein Schulbeispiel für das, was in den kommenden Jahren aus der Psychotherapie werden sollte. Julie von Smirnoff war eine Frau mit einem erstaunlich gefestigten Charakter. Schon in sehr jungen Jahren hatte sie eine Eigenschaft entwickelt, die von den Ärzten als erstes Symptom ihrer Krankheit angesehen wurde: das Streben nach Unabhängigkeit. 

Im Alter von 10 Jahren, nachdem ihre Mutter gestorben war, wurde ihr bewußt, daß ihr Vater sie nicht liebte, für ein Kind eine erstaunlich mutige Erkenntnis. Sie wußte auch, daß ihr Vater sich die Summe von mehreren Millionen Schweizer Franken aneignen wollte, die sie von ihrer Mutter erben sollte, sobald sie 20 Jahre alt geworden war oder geheiratet hatte. Ihr Vater konnte jedoch nur unter der Voraussetzung über ihr Erbe verfügen, daß sie für geisteskrank erklärt und er zu ihrem Vormund ernannt wurde. Nachdem sie in England geheiratet hatte, weil sie in der Schweiz dazu die Zustimmung ihres Vaters gebraucht hätte, mußte sie für unzurechnungsfähig erklärt werden, um die Ehe annullieren zu lassen. Aus dem Brief, den der Hausarzt Dr. Massini an Binswanger schrieb, geht deutlich hervor, daß Massini ihr nur widerwillig den »moralischen Defekt« bescheinigte.


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Der Inhalt des Briefes zeigt, daß der Vater sogar in den Augen des Mannes, der ihn für diesen Brief bezahlte, kein eben tugendhaftes Leben führte. Aber er ließ Dr. Binswanger erkennen, daß er und der Vater hofften, die Klinik werde zumindest den »moralischen Defekt« bestätigen können. Das würde es Binswanger erlauben, an ihr sein traitement moral vorzunehmen, das heißt, sie psychotherapeutisch zu behandeln, in diesem Falle hieß das, sie mußte davon überzeugt werden, daß sie nicht heiraten sollte, daß sie auf Unabhängigkeit von ihrem Vater verzichten müsse und vor allem nicht darauf bestehen dürfe, ihr reiches Erbe selbst zu verwalten. Die Andeutung, daß im Hinblick auf ihre Schwangerschaft etwas unternommen werden müsse, scheint sehr ernst genommen worden zu sein, denn in der Klinik verabreichte man ihr ein Medikament, von dem sie glaubte, es sollte einen Abort herbeiführen.

Julie von Smirnoff hat sich niemals irgendwelche Illusionen darüber gemacht, was sie von ihrem Vater oder den in seinem Sold stehenden Ärzten zu erwarten hatte. Sie muß gewußt haben, daß diese Männer die Ansichten ihres Vaters teilten, die dem damaligen Zeitgeist entsprachen. Gäbe es so etwas wie moralische Defekte, dann müßte man sie ihrem Vater und den von ihm konsultierten Psychiatern bescheinigen, nicht aber Julie von Smirnoff. Julie brachte den Mut auf, aus der Irrenanstalt zu fliehen.

Noch bemerkenswerter war ihr moralischer Mut, der sie veranlaßte, für eine Tageszeituiig einen Bericht über ihr Leben zu schreiben, der alle Merkmale der Authentizität einer direkt erlebten persönlichen Erfahrung trägt. Hier spricht sie mit ihrer Stimme über ihr eigenes Leben, und es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sie die Wahrheit sagt. Allein die Tatsache, daß Binswanger bereit war, sie aufzunehmen (nach dem seltsamen und nichtssagenden Brief des Vaters), läßt vermuten, daß er zumindest grundsätzlich mit den Absichten des Vaters einverstanden war. 

Es erscheint auch sehr wahrscheinlich, daß Julie recht hatte, wenn sie glaubte, er habe versucht, mit seiner medikamentösen Behandlung einen Abort herbeizuführen. Natürlich hat der in einer Schweizer Zeitung erschienene Artikel dem Ruf Binswangers geschadet. Er selbst hat nicht den Versuch unternommen, den Inhalt dieses Berichts zu widerlegen. Statt dessen hat er das Gericht veranlaßt, einen Psychiater als Sachverständigen zu berufen. Das war ein kluger Schachzug, denn jeder Psychiater mußte damals glauben, daß jemand, der sich so verhielt wie Julie von Smirnoff, an einem moralischen Defekt litt.


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Außerdem war der Psychiater aus Göttingen zweifellos gut mit Binswanger selbst und mit seinem berühmten Bruder, dem Professor für Psychiatrie an der Universität Jena, Otto Binswanger, bekannt. Dr. Kolb hat Julie von Smirnoff nie gesehen, war aber trotzdem bereit, sie zu diagnostizieren — zweifellos aufgrund des Briefes, den der Hausarzt des Vaters geschrieben hatte, und des Berichts von Binswanger. In seinem Gutachten gab er jedoch keine medizinische Begründung, sondern nur eine moralische Beurteilung ab, die sich hinter einer zugegebenermaßen »subjektiven« medizinischen Diagnose verbarg. Darin kam er zu dem Schluß, daß die Patientin an einem moralischen Defekt litt. Das Thurgauer Tagblatt hat sehr rasch begriffen, daß es einen Fehler begangen hatte, und stimmte umgehend in den Chor der Psychiater ein: Ja, diese junge Frau war krank, moralisch anormal und dazu noch sexuell pervers.

Man muß anerkennen, daß Robert Binswanger nicht an eine unveränderliche »abnorme Keimanlage« glaubte, eine abnorme Veranlagung; aber an die Stelle einer richtigen Diagnose setzte er unkritische Überlegungen über die pädagogischen Grundsätze der damaligen Gesellschaft und seiner Klasse. Ein wesentlicher Bestandteil der Psychotherapie kommt in dem Versuch zum Ausdruck, die Patientin von Anfang an einzuschüchtern und zu zwingen, mit ihrem Verhalten den Erwartungen zu entsprechen, welche die Gesellschaft an sie stellt. Nach der Auffassung von Binswanger fehlte seinen Patienten in erster Linie die »Disziplin«, und es war die Pflicht des Arztes, den Patienten zu erziehen oder, wie er es nannte, ihm eine »Wiedererziehung« zu vermitteln. Binswanger wollte an den Punkt gelangen, wo

... der Arzt eine detaillierte Untersuchung der Erfahrungen des Patienten, durch das Studium seiner Eigenheiten und durch Einfühlungsvermögen und ermutigende Worte sein Vertrauen gewinnt, damit der Patient sich freiwillig der Führung des Arztes anvertraut... und lernt, pünktlich zu sein und sich den vom Arzt empfohlenen medizinischen Verfahren zu unterwerfen.14

Es gab viele Fälle wie den der Julie von Smirnoff. Bei der Lektüre der in dem Archiv des Bellevue aufbewahrten Kranken­geschichten habe ich feststellen können, daß viele dieser Frauen nur deshalb als moralisch anormal beurteilt wurden, weil sie nicht bereit


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waren, die Erwartungen ihrer Eltern, der Gesellschaft oder der Mediziner zu erfüllen. So gab es dort den Fall der Gräfin Ilona E., die von 1893 bis 1899 im Bellevue untergebracht war. Ihre Mutter erklärte den Ärzten, sie »liest Romane von Zola, hatte eine Liebesaffäre mit ihrem Hauslehrer und will ihren Lebensunterhalt als Klavierlehrerin verdienen«. In dem Bericht eines gewissen Dr. Svetlin aus einer anderen Irrenanstalt, in der die Frau festgehalten worden war, heißt es:

Die Patientin wehrt sich dagegen, als krank bezeichnet zu werden und sagt, »es ließ sich nicht vermeiden, in meiner Familie neurotisch zu werden«. Ihr am deutlichsten ausgeprägter ethischer Defekt liegt darin, daß sie keinerlei Liebe für ihre Mutter empfindet. Ein weiteres Anzeichen für ihre pathologische Moral ist ihre vollständige Irreligiosität und das Fehlen eines jeden Autoritätsglaubens... Aus diesen Überlegungen, die das Ergebnis einer fünfmonatigen Beobachtung der Gräfin sind, geht klar hervor, daß sie an einem leichten »moralischen Defekt« leidet. Es ist entschieden davon abzuraten, ihr zu erlauben, selbständig zu sein.

Ähnlich wie im Fall der Julie von Smirnoff suchte der Vater der Gräfin die Unterstützung Binswangers bei seinem Vorhaben, seiner Tochter ein mögliches Erbe vorzuenthalten. In einem Brief vom 7. Juli 1894 schrieb er:

Im Lauf dieses Jahres muß ich bei Gericht beantragen, zum Vormund Ilonas ernannt zu werden, bevor sie vierundzwanzig wird. Sie neigt dazu, in einen »moralischen Marasmus« zu verfallen. Darf ich Sie daher bitten, schriftlich zu bestätigen, daß Ilona nicht fähig ist, ihre persönlichen Angelegenheiten zu ordnen und infolge ihrer Krankheit auch nicht in der Lage ist, in den verschiedenen Lebensumständen vernünftige Pläne zu machen oder für sich zu sorgen. Ich brauche das für den Fall, daß sie eigene Pläne hat, sobald sie mündig ist.

In einem anderen Fall aus den Bellevue-Archiven schrieb der berühmte Wiener Psychiater Julius Wagner-Jauregg, der später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, an Binswanger über eine gewisse Baronesse M.:


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Sehr geehrter Herr Direktor, 
die etwa 19 Jahre alte Baronesse M. ist erblich schwer belastet; sie hat gute intellektuelle Gaben und hat sogar versucht zu schreiben, wenngleich an ihren Leistungen gezweifelt werden darf. Sie ist immer launisch, bizarr und schwer zu behandeln gewesen. In den vergangenen fahren hat sie in zunehmendem Maß den Eindruck gemacht, an einem »moralischen Defekt« zu leiden. Sie ist überheblich und verschwenderisch, unaufrichtig und maliziös. Ein Mangel an Selbstbeherrschung auf sexuellem Gebiet, der sich in zynischen Gesprächen, die ans Unsinnige grenzen, in kompromittierenden Liebesaffären und skandalösen öffentlichen Beschuldigungen ihrer eigenen Mutter und anderer achtbarer Persönlichkeiten zeigt - das alles läßt ihre Unterbringung in einer Anstalt notwendig erscheinen. 

Zu den einzigen wirklichen sexuellen Exzessen scheint es nur in der Form der Masturbation gekommen zu sein. Sie sollte in einer geschlossenen Abteilung untergebracht sein, (obwohl) ich glaube, daß sie sich in der Irrenanstalt als sehr fügsam erweisen wird, zumindest besonders am Anfang, denn sie lebt in dem heiligen Schrecken davor, tatsächlich zum Beispiel in einer Irrenanstalt eingesperrt zu werden. Wenn sie daher weiß, daß die Möglichkeit einer solchen Internierung drohend über ihr schwebt, wird das eine ausgezeichnete disziplinierende Wirkung auf sie haben.

In einem Brief an Binswanger bestätigt die Mutter alles, was Wagner-Jauregg geschrieben hatte, und fügte hinzu: »Sogar schon im Alter von 17 Jahren hatte meine Tochter das krankhafte Verlangen, frei und unabhängig zu sein.«

*

Waren es nur Frauen, die unter der Diagnose »moralischer Defekt« zu leiden hatten? Nein, aber in den meisten Fällen waren es Frauen. Wenn Männern dieses Etikett angehängt wurde, dann handelte es sich fast immer um junge, talentierte und rebellische Persönlichkeiten. 

Ein tragisches Beispiel, das erst 1966 bekannt wurde, betraf den Dichter Hermann Hesse.15)

Im Juni 1892 glaubte sein Vater, Hermann lebe in einer geheimen Welt, erfüllt von »unnatürlichen und ungesunden Gedanken und Gefühlen und einer überreizten Phantasie«. Der Vater beschloß, seinen 15jährigen Sohn in Stetten in der Anstalt für Epileptiker und Schwachsinnige unterzubringen.


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Als Hermann klargeworden war, wohin man ihn gebracht hatte, war er entsetzt. Der Leiter der Anstalt, Inspektor Pfarrer Schall, erklärte, die Art, wie Hermann seine Augenbrauen zusammenzog, sei ein Anzeichen dafür, daß er an einem moralischen Defekt litte. Außerdem glaubte er, die Lektüre des russischen Schriftstellers Turgenjew, dessen Werke der junge Mann gelesen hatte, habe einen schlechten Einfluß auf ihn ausgeübt. Aus der Anstalt schrieb der Junge am 11. September 1892 an seinen Vater einen der literarisch bedeutendsten Briefe des 19. Jahrhunderts:

Und jetzt frage ich, nur als Mensch (denn ich erlaube mir, gegen Euren Willen und meine 15 Jahre, eine Ansicht zu haben); ist es recht, einen jungen Menschen, der außer einer kleinen Schwäche der Nerven so ziemlich ganz gesund ist, in eine »Heilanstalt für Schwachsinnige und Epileptische« zu bringen, ihm gewaltsam den Glauben an Liebe und Gerechtigkeit und damit an einen Gott zu rauben?... (Wenn ich) so ziemlich geheilt, innerlich kränker bin als je? Wäre es nicht besser, ein solcher würde mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer versenkt, da es am tiefsten ist?... Es ist jedenfalls sehr merkwürdig, daß es für einen jungen Mann von 15 Jahren, der nervös, sonst ganz gesund ist, Schule besucht hat etc., etc., gar, gar keinen Ort in der unendlichen Welt gibt als — Stetten in Remstal, Schloß, No 29... 

Ihr seid echte, wahre Pietisten... Ihr seid Christen, und ich — nur ein Mensch. Könntet Ihr in mein Inneres blicken, in diese schwarze Höhle, in der der einzige Lichtpunkt höllisch glüht und brennt, Ihr würdet mir den Tod wünschen und gönnen... Gerne möchte ich fliehen, aber wohin im kalten Herbst, ohne Geld und ohne Ziel, ins Graue hinein?... Wenn Ihr mir schreiben wollt, bitte nicht wieder Euren Christus... »Christus und Liebe, Gott und Seligkeit« etc. etc. steht an jedem Ort, in jedem Winkel geschrieben und dazwischen — alles voll Haß und Feindschaft... Ich bin ein Mensch, so gut wie Jesus... Ich bitte also nochmals, bestimmt zu antworten, ohne Phrasen...

Dergleichen hinderte den Professor für Psychiatrie an der Universität Dresden nicht, am 23. April 1896 vor König Albert von Sachsen einen berühmt gewordenen Vortrag über »Die Grenzen geistiger Gesundheit und Krankheit« zu halten, in dem er sagte: »In Wirklichkeit hat es bis zum heutigen Tage in Deutschland nie einen einzigen Fall gegeben, in dem eine Person, die nicht geisteskrank war, für geisteskrank erklärt worden ist.«16)


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Die meisten Historiker werden darin übereinstimmen, daß die Psychotherapie mit Freud begonnen hat. Anna O., die von vielen für die erste psychoanalytische Patientin gehalten wird (in Wirklichkeit war sie die Patientin von Breuer) und die in den Studien über Hysterie erwähnt wird, ist, wie schon gesagt, im Sanatorium Bellevue untergebracht worden. Freud hat während der ersten Zeit seiner Tätigkeit als Psychotherapeut einige seiner Patienten in das Bellevue überwiesen.17)

Der Psychiater und Sexualwissenschaftler Richard von Krafft-Ebing erhielt von der 19jährigen Nina R. einen Brief, in dem sie ihm mitteilte, sie habe sexuelle Träume. Krafft-Ebing schrieb an Freud, seine Patientin leide an »psychischer Masturbation«.18) 1891 schrieb Freud eine Krankengeschichte, in der es heißt:

Von jeher exaltirt, schwärmerisch,... d(ie) Eltern hätten sie nicht gern... Gelegentlich Einbild(un)g, der Papa hat s(ie) nicht lieb... Pat(ientin) treibt nichts als lesen u(nd) schreiben... Im Anfall erscheine ihr alles wie Schein, Trug, s(ie) stehe unter d(er) Vorstell(un)g, d(aß) s(ie) u(nd) alles um sie wieder zum Nichts werde. Dann erscheine ihr alles Irdische, ihr ganzes Tun töricht, bedeutungslos.

Zwei Jahre später verfaßte Freud eine Krankengeschichte dieser Frau für Dr. Binswanger:

Die angeborene Schiefheit ihres Wesens offenbarte sie darin, daß sie an die Erfüllung ihrer nächsten Pflichten, an ihre Ausgleichung mit ihrem Milieu vergaß, während sie sich bemüht idealere Interessen zu gewinnen und höhere geistige Anregung auf sich wirken zu lassen.19)

Hier handelte es sich, wie man deutlich erkennen kann, um eine Frau, die sich gegen das Leben, das sie erwartete, wehrte und versuchte, einen Ausweg zu finden. In den Augen ihrer Umgebung wirkte ihr Verhalten deshalb krankhaft. Breuer, Freud und Krafft-Ebing stimmten darin überein — und wahrscheinlich wären alle Mediziner damals der gleichen Ansicht gewesen —, daß diese Frau krank war und einer »Behandlung« bedurfte.

Während der folgenden zehn Jahre entwickelte Freud eine besondere Behandlungsmethode für solche »Kranken«, und diese wurde zum Modell für die heutige Psychotherapie. Freud hat zweifellos die damals geltenden Methoden entscheidend verändert. Schon nach wenigen Jahren wurden die von Männern wie Binswanger und Krafft-Ebing angewendeten Verfahren nicht mehr als Psychotherapie anerkannt. Dennoch beurteilte Freud die Lebensgewohnheiten seiner Patienten im allgemeinen nach den gleichen moralischen Grundsätzen wie sie. Freuds bedeutende Krankengeschichten enthalten zahlreiche Hinweise darauf, was er für eine angemessene Lebensweise hielt. 

Er behandelte Menschen, deren Verhalten irgendwie von dem abwich, was zu jener Zeit als angemessen galt. Sehr oft teilte er die Ansichten der Eltern und anderer Erziehungs­berechtigter seiner Patienten, die glaubten, das Leiden dieser Menschen sei durch ihre Weigerung verursacht, sich den Forderungen der Gesellschaft anzupassen. Es fiel Freud schwer, sich auf die Seite der Patienten zu stellen, und doch war die von ihm entwickelte Technik theoretisch in einzigartiger Weise geeignet, gerade die Vorurteile und Scheinheiligkeiten der Gesellschaft aufzudecken, die dazu geführt hatten, daß die Patienten so unglücklich waren.

Es überraschte Freud, Dinge zu erfahren, die er im Grunde nicht beurteilen konnte, die er jedoch als Therapeut glaubte beurteilen zu müssen. Die Tragödien, zu denen es deshalb kam, lassen sich in vielen seiner Krankengeschichten deutlich erkennen. Der Fall Dora ist eine der ergreifendsten dieser Tragödien.

Als Therapeut stand Freud vor dem Dilemma, daß das, was die Gesellschaft bei Dora als »moralischen Defekt« ansah (und was nach dem Willen ihrer Eltern durch die Psychotherapie geheilt werden sollte) für Dora eine »moralische Vision« war. Die Richtung der Psychotherapie ist mit diesem einen historischen Fall ein für allemal festgelegt worden.

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